Die als heilig verehrten Tiere scheinen sich ihrer Sonderstellung vollauf bewusst zu sein. Genüsslich ziehen die mageren Wiederkäuer auf der Suche nach etwas Essbarem fast schon provozierend langsam durch die Straßen. Auf den Bürgersteigen geht es zu wie in einem Basar - allerdings mit einer Spur römischer Gelassenheit. Nur vor dem Überqueren der Straße kommt etwas Hektik auf. Denn dieses Vorhaben gemahnt immer ein bisschen an russisches Roulette.
"We do have traffic regulations. It's just that no one really cares about them." Der Taxifahrer erklärt, was offensichtlich ist: Verkehrsregeln gibt es, sie interessieren hier aber niemanden. Dann folgt die nächste Lektion über das ungeschriebene und doch alleingültige Gesetz der Straße in Bangalore: "Jeder Fahrer braucht drei Dinge, wenn er auf den Straßen dieser Stadt unterwegs ist", sagt der Fahrer auf englisch. "First, you must have good breaks." - Klar, gute Bremsen, leuchtet jedem sofort ein. "Second, you must have a good horn." - Natürlich, die Hupe. Ist kaum zu überhören. Und drittens? "A lot of luck - viel Glück." Spricht es und fährt davon.
Keine Frage, Indien befindet sich auf der Überholspur, und Bangalore, die 5,5 Millionen Einwohner zählende Hauptstadt des Bundesstaates Karnatakas, ist einer der Motoren. Um acht Prozent wächst die Wirtschaft des Landes jährlich - in Bangalore um das fünffache. Bangalore ist ein Spiegel Indiens und wie das Land selbst voller Widersprüche. Trotz Wirtschaftsboom lebt fast ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Fast 40 Prozent sind Analphabeten; Armut und Bildungsmangel sorgen dafür, dass viele vom Aufschwung ausgeschlossen bleiben. Das Kastensystem tut ein Übriges. Zwar gehört es offiziell bereits lange der Vergangenheit an; dennoch wirkt es sich noch heute nachhaltig auf alle Lebensbereiche aus. Korruption und die fehlende Infrastruktur sind weitere Hemmschuhe. Und obwohl Bangalore weltweit als eines der führenden Zentren der Biochemie gilt und hier jährlich Milliarden in die Entwicklung neuer Arzneimittel gepumpt werden, ist eine ausreichende medizinische Versorgung nur für einen Bruchteil der Bewohner gesichert. Bangalore ist eine Boomtown zwischen gestern und übermorgen, zwischen schreiender Armut und gepflegter Lebensart, zwischen Baracke und Cyberspace.
Die am schnellsten wachsende Stadt des indischen Subkontinents trägt auch den Beinamen "indisches Silicon Valley". Nahezu alle namhaften Computer- und Hochtechnologiefirmen sind in den großen Technikparks wie Electronics City oder dem International Technology Park angesiedelt. Allein 150.000 IT-Spezialisten aus aller Herren Länder leben und arbeiten hier.
Auch die indische Luft- und Raumfahrtindustrie ist in Bangalore zu Hause. Hunderte von Kilometer entfernt von China und der Grenze von Pakistan, an der es immer wieder zu militärischen Spannungen kommt, siedelte die indische Regierung die Hindustan Aeronautics Limited (HAL) an. Die HAL baut zivile wie militärische Flugzeuge, während die Indian Space Research Organisation erfolgreich Satelliten und Raketen entwickelt und startet.
Bereits in den 50er-Jahren prophezeite Jawaharlal Nehru (1889-1964), dass Bangalore eines Tages "Indiens Stadt der Zukunft" werden würde. Der ehemalige Premierminister sollte Recht behalten. Bangalore ist das Schwungrad der indischen Wirtschaft, die laut Prognosen im Jahre 2020 die drittstärkste weltweit nach den USA und China sein wird. Das spiegelt sich darin, dass die schnellstwachsende Stadt Asiens in alle Richtungen expandiert. Neben weitläufigen Boulevards und großzügigen Parks - die Stadt wird wegen ihrer zahlreichen Grünanlagen gern als "Indiens Gartenstadt" bezeichnet - bestimmen Baukräne das Stadtbild. Gebaut werden reihenweise Wohn- und Bürokomplexe aus Glas, Stahl und Beton.
Eine Entwicklung, an der nicht alle partizipieren können. Gleichwohl ist es hier um die ärmeren Schichten vielfach besser bestellt als im Rest des Subkontinents. Rawul Faridpur ist einer von denen, die in Bangalore ihr - wenn auch bescheidenes - berufliches Glück fanden. Der 39-jährige Tuk-Tuk-Fahrer stammt ursprünglich aus dem Norden Indiens, aus Panipat, unweit der Hauptstadt Delhi. Dort wuchs er in ärmsten Verhältnissen auf. Nicht zuletzt wegen der beruflichen Perspektiven, die es ihm ermöglichten, aus dem aufgeweichten Kastensystem auszubrechen, konvertierte er - wie viele Inder - vom Hinduismus zum Christentum. Mit Tagelöhnerarbeit und Betteln sparte er das Geld zusammen, um dann vor rund zehn Jahren mit einem Bündel an Habseligkeiten ins reiche Bangalore zu siedeln.
Obwohl Rawul mit seiner Ehefrau Mithu und den beiden Kindern Shemyan und Sujatha auch heute nicht im Überfluss leben kann, ist er zufrieden mit seinem Leben als Taxifahrer. Er bewohnt eine bescheidene Hütte aus Kuh-Dung und Lehm im Vorort Whitefield, hat ein mehr oder weniger regelmäßiges Einkommen und seine Kinder genießen eine schulische Ausbildung. Seine Frau arbeitet als Näherin, bestickt Wandteppiche, Betttücher und Saris. Sie hat - wie viele Inderinnen - keine Schulbildung genossen und ist froh, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. Urlaub ist für sie ein Fremdwort. Allenfalls ein, zwei freie Tage im Jahr sind drin. "Bangalore ist ein perfekter Ort", versichert Rawul dennoch zufrieden.
Eine Einschätzung, die auch die britischen Kolonialherren in längst vergangenen Tagen teilten - auch weil die Stadt dank ihrer Lage auf 920 Metern über dem Meeresspiegel im Gegensatz zu weiten Teilen Indiens über ideale klimatische Bedingungen verfügt. Nur selten steigen die Temperaturen über 30 Grad Celsius.
Gegründet wurde die Stadt im Jahre 1537 durch Kempe Gowda (1510-1570), einen Fürsten des Vijayanagar-Reichs. Glaubt man hingegen einer populären Legende, hat sich das etwas anders abgespielt. Im zehnten Jahrhundert rettete eine alte Frau König Veeraballa das Leben, als dieser sich im Wald verirrte. Die Greisin gab dem Regenten gekochte Bohnen zu essen. Aus Dankbarkeit soll der König den Flecken Erde, der das Stadtgebiet des heutigen Bangalores markiert, in "Benda Kaluru", die "Stadt der gekochten Bohnen", getauft haben. Als die Briten im Jahre 1799 nach dem Sieg über die Truppen von Tipu Sultan die Stadt einnahmen, anglizierten sie den Namen zu Bangalore.
Heute gibt sich das Zentrum überaus modern. In den Haupteinkaufstraßen, der Kempegowda Road und der Mahatma Ghandi Road, reihen sich Cyber-Cafés, Discotheken, Fast-Food-Ketten und Boutiquen aneinander. Wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen mutet hingegen das belebte Basar-Viertel Chikpet an. Hier herrscht meist ein unglaubliches Gewusel. Es riecht nach Sandelholz, Gewürzen und orientalischen Düften.
Frauen in prächtigen Saris lassen das bunte Treiben zu einem bewegten Bilderbuch voller fröhlicher Farben werden. Dazwischen tummeln sich Frauen mit kleinen Bastkörben, in denen sich Schlangen gemütlich zusammengerollt haben. Immer wieder liften sie den Deckel der Körbe, und die Schlangen recken ihre Hälse. Sie zu berühren soll angeblich Glück bringen. Indien ist eben das Land der Tempel, Turbane und Schlangenbeschwörer. Ein Klischee, das sich auch in einer modern geprägten Stadt wie Bangalore auf mannigfaltige Art und Weise erfüllt.
Im imposanten Vidhana Soudha, einem 46 Meter hohen Granitgebäude aus dem Jahr 1956, haben die Landesregierung und das Parlament Karnatakas ihren Sitz. Für eine Stadt, die mit Riesenschritten der Zukunft entgegen sprintet, ist das Parlamentsgebäude mit seinen 50 Jahren auf dem Buckel fast schon eine historische Besonderheit. Denn eines wird bei jeder Begegnung mit der faszinierenden Millionenmetropole deutlich: Bangalore boomt allen halber. Man kann der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes beim Wachsen zugucken.
Karsten-Thilo Raab ist Journalist und Autor.