Auf dem Weg ins Büro gibt Helmut Meier im Laden um die Ecke seinen Lottoschein ab, wobei ihn eine Überwachungskamera fest im Blick hat. Auf einem Berliner U-Bahnhof wartet er direkt unter einem Videoauge, auch in der U-Bahn wird er gefilmt. In der City verfolgen Fassadenkameras an Geschäften und Unternehmen Meiers Weg, beim Betreten seiner Firma wird er ebenfalls erfasst. Mittags gönnt er sich bei McDonalds einen Burger, was ein Videogerät aufzeichnet. Nach Dienstschluss wird Meier in einer Buchhandlung beim Erwerb eines Krimis gefilmt - ebenso auf dem Trottoir vor einem Autogeschäft, in dessen Schaufenster er einen Sportwagen bestaunt. Der Geldautomat fotografiert ihn beim Ziehen von 300 Euro, in der Bank nehmen ihn beim Unterzeichnen einer Überweisung mehrere Videoaugen ins Visier. Im Kaufhaus kann Meier in einem Fernseher an der Decke anschauen, wie er am Obststand Trauben auswählt. Wieder zu Hause, fährt er mit dem Auto zu einer billigen Tankstelle, Kamerabeobachtung inklusive. Spätabends holt er auf dem Bahnhof Besuch aus Hamburg ab, die Begrüßung wird natürlich gefilmt.
So wie Helmut Meier, unserem fiktiven Berliner, ergeht es Millionen Bundesbürgern: Die Kameras haben längst den Alltag erobert. Einen "boomenden Absatzmarkt" mit immer billigeren Videogeräten registriert der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert. "Bei deren Einsatz sinkt die Hemmschwelle stetig weiter."
Wie viele Kameras hierzulande die Bürger observieren, weiß niemand genau. Schätzungen gehen von mindestens 500.000 aus, Weichert tippt eher auf eine Million. Die elektronischen Augen unterziehen die Menschen massenhaft einer Vorab-Überwachung. Motto: Wer weiß, ob nicht jeder Einzelne eine Straftat begehen oder sich bloß "ungebührlich" verhalten könnte. Juristen sprechen von einer verdachtsunabhängigen Kontrolle. Weicherts saarländischer Kollege Roland Lorenz nennt das "einen massiven Eingriff in die Freiheitsrechte". Unterminiert wird auch das Prinzip der informationellen Selbstbestimmung: Die gefilmten Bürger werden nicht nur an Monitoren einer Verhaltenskontrolle unterworfen, die Betroffenen wissen auch nicht, was mit ihren Aufnahmen geschieht. Mit eher mäßigem Erfolg protestieren Datenschützer und Bürgerrechtler gegen eine Entwicklung, die das Überwachtwerden zum Standardzustand macht. Nachdem Ende Juli Bomben in Regionalzügen in Dortmund und Koblenz entdeckt wurden, ist die Diskussion erneut entbrannt: Politiker rufen nach stärkerer Videoüberwachung, Datenschützer dagegen nach mehr Personal auf den Bahnhöfen.
Nun ist es gewiss auch, aber nicht in erster Linie, die Polizei, die für die weitreichende Verwirklichung dieser Orwell'schen Vision sorgt. Zwar observiert die Polizei mit Videogeräten in manchen Kommunen wie etwa Mannheim, Frankfurt, Leipzig oder Dresden die Passanten in Innenstadtbereichen. Vielerorts sind Kameras beim Objektschutz von Behörden im Spiel, auch in Fußballstadien ist dies der Fall.
Für die massenhafte Verbreitung sorgen vor allem Unternehmen: Verkehrsbetriebe, Kaufhäuser, Einzelhandelsgeschäfte, Tankstellen, Banken, Schwimmbäder, selbst Hotels und Taxen haben Kameras installiert. An der Leipziger Uni protestierten Studenten gegen Videoaugen in Hörsälen. Fußgänger in der Freiburger City spazieren auch über die Bildschirme der kommunalen Verkehrsgesellschaft, die im Umfeld der Tramlinien eine Vielzahl von Kameras betreibt. Was besonders neuralgisch ist: Viele Unternehmen unterwerfen auch den öffentlichen Raum in ihrer Umgebung ihrer Kontrolle.
Es ist umstritten, ob die Videoüberwachung einen nennenswerten Beitrag zur Bekämpfung der Kriminalität leistet. Der Dresdner Jura-Professor Roland Hefendehl moniert, dass es bislang keine "aussagekräftige deutsche Untersuchung" über die Effekte der Kamerakontrolle gibt. Deren Befürworter führen meist einzelne Erfolge an, etwa in Leipzig oder in Stuttgart. Am Einsatzort von Videotechnik sei eine Verringerung von Straftaten zu verzeichnen, bilanziert Hugo Müller, Vorsitzender der saarländischen Gewerkschaft der Polizei, bisherige Erfahrungen in anderen Bundesländern: "Insgesamt ist deren Zahl aber nicht gesunken. Die Kriminalität fand dann eben verstärkt da statt, wo keine Kameras standen." Müller stützt damit die These von Datenschützern, wonach häufig einfach eine Verdrängung stattfindet. Weichert: "Den Beweis, dass Videokontrolle ein geeignetes Mittel zum Abbau von Kriminalität leistet, ist die Polizei bislang schuldig geblieben." Seine brandenburgische Kollegin Dagmar Hartge bezweifelt, ob die an vier Orten angewandte polizeiliche Überwachung etwas zur ohnehin landesweit zurückgehenden Kriminalität beisteuert.
Beim Videoeinsatz in Citybereichen ist noch etwas anderes im Spiel. Kameras seien "Agenten der Stadtkosmetik", analysiert Nils Leopold in einem Essay. Der Datenschutzexperte und Ex-Geschäftsführer der Bürgerrechtsvereinigung Humanistische Union kritisiert, es gehe nicht zuletzt um die "Säuberung" dieser Zonen von Punks, Bettlern, Stadtstreichern oder Drogenabhängigen, die das Konsumklima stören. Roland Hefendehl hat recherchiert, dass in der Dresdner City die Polizei mit ihren Kameras gern Ausländer und Jugendliche ins Visier nimmt, die in Gruppen auftreten.
"Die Möglichkeit, sich im öffentlichen Raum unbefangen, unbeschwert und anonym zu bewegen, geht immer mehr verloren", warnt Thilo Weichert. Wer wisse, dass er von Kameras observiert werde, verhalte sich in der Regel anders und nicht mehr auf natürliche Weise: "Wenn sich im Bewusstsein der Menschen das Überwachtwerden als etwas Selbstverständliches verankert, sind wir auf dem Weg in die Kontrollgesellschaft".
Klagt ein Bürger gegen den Einsatz bestimmter
Videogeräte, stehen seine Chancen nicht von vornherein
schlecht. So entschied Mitte der 90er.Jahre der Bundesgerichtshof
(BGH), dass Grundstücksbesitzer nicht den angrenzenden
öffentlichen Raum filmen dürfen. Am Beispiel einer Klage
gegen das Kaufhaus Dussmann in der Berliner City befand
zwischenzeitlich das Amtsgericht an der Spree, die BGH-Richtlinie
gelte im Prinzip fort, im Einzelfall könne jedoch davon
abgewichen werden - dann dürften die Kameras aber nur einen
Streifen von einem Meter Breite auf dem Trottoir erfassen.
Gut dran sind Mieter. Viele Gerichte haben Hauseigentümer zum
Abbau von Videogeräten verpflichtet, die sie wegen Graffiti,
Fahrrädern im Flur oder unordentlicher Müllentsorgung
installiert hatten: Die freie Privatsphäre hat Vorrang.
Pech hatte allerdings Angela Merkel. Im Frühjahr flog auf,
dass Wachleute im benachbarten Pergamonmuseum jahrelang in
langweiligen Momenten eine Überwachungskamera auf die Berliner
Wohnung der heutigen Kanzlerin gerichtet hatten.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.