BUNDESTAG GEDACHTE DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
Bonn: (hib) bn- Der Deutsche Bundestag beging heute in einer Feierstunde den nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Bundestagspräsident Thierse würdigte den Gedenktag in seiner Eröffnungsrede als einen Anlaß, "öffentlich, aber auch persönlich zurückzublicken auf ein Geschehen, das immer noch alle Vorstellungen sprengt". Der 27. Januar sei "eine Forderung zur Wachsamkeit", eine "verpflichtende Erinnerung" im Sinne der Aussage Adornos an jeden einzelnen in der Gesellschaft, Auschwitz dürfe sich niemals wiederholen. Thierse hob hervor, er wolle sich nicht über den Stil der in den vergangenen Wochen geführten Debatte um "das gemeinsame Erinnern an das Geschehene" äußern. Dennoch halte er die Debatte für notwendig und nützlich. Sie zeige, daß wir derzeit "in Politik und Gesellschaft in einem Generationswechsel stehen". Vieles, was in diesem Zusammenhang kontrovers geäußt worden sei, beruhe offenbar auf dem "Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen".
Die Debatte unterstreiche aber auch, daß "veränderte und erweiterte Zugänge zu dem Geschehen notwendig sind". Wir müßten uns fragen, was für Gegenwart und Zukunft richtig sei. Insofern gelte es, sich "in unserer Gesellschaft und Politik über die Art und Weise des Gedenkens immer wieder neu zu verständigen". Dieses dürfe jedoch nicht zu einer "Kälte der Verdrängung" führen. Vielmehr müsse das "Entsetzliche" so vermittelt werden, daß es auch "mit dem Herzen erfahren und begriffen" werden könne. Gedenken sei mehr als "aufgeklärtes Wissen". "Betroffenheit, die bloß ratlos mache", sei nicht "menschengemäß" und in der Gesellschaft folgenlos. Niemals jedoch dürfe Gedenken verordnet werden, "autoritär" und "formelhaft" sein. Das sei eine persönliche Erfahrung aus DDR-Zeiten. Die intensive Debatte über den 27. Januar halte er für eine "Stärke der Demokratie". Deswegen sei die Debatte über das Holocaust-Denkmal so von Gewicht. Der Bundestagspräsident vertrat ferner die Auffassung, jede Generation habe das "Recht und stehe vor der Herausforderung", ihre "eigene Art des Gedenkens" zu finden. Neue Ansätze des Erinnerns, bedeuteten auch "neue Formen des Gedenkens". Mit diesen Worten leitete er über auf die musikalische Umrahmung der Gedenkfeier durch das Werk des Heidelberger Komponisten Dietrich Lohff "Requiem für einen polnischen Jungen". Die Kunst sei neben der Sprache ein "wichtiges Medium der Erinnerung".
Festredner Bundespräsident Herzog stellte fest, die "bleibende Form" des Erinnerns an die Opfer des Nationalsozialismus habe man noch nicht gefunden. Das verdeutliche die Debatte der vergangenene Monate, die sich an den Namen Walser und Bubis festmachen lasse. Seinen Ausführungen vorweg stellte er den mahnenden Appell "wer je den Gedanken an ein Ende des Erinnerns erwogen hat, der sollte davon so schnell wie möglch ablassen". Dieses ergebe sich aus zwei fast "banalen Erfahrungen". Kein Volk könne bestehen, "ohne gründliches Wissen um seine Geschichte". Wenn zum anderen ein Volk aber versuche, "in und mit seiner Geschichte zu leben, dann ist es gut beraten, in und mit seiner ganzen Geschichte zu leben, und nicht nur mit ihren guten und erfreulichen Teilen".
Gerade in einer Zeit des Übergangs von der "Erinnerung an Erlebtes zur Erinnerung an Mitgeteiltes", so Herzog, müsse man sich der Formen des Erinnerns ernsthaft vergewissern. Viele, in ihrer Bedeutung wichtige Gedanken habe die Debatte zutage gefördert. Gestört habe ihn persönlich allerdings, daß man in die alten Muster gegenseitiger Beschuldigung" zurückgefallen sei. Der "Holocaust ist das allerletzte", hob er warnend hervor, "was wir der political correctnes überlassen dürfen". Herzog halte es für wichtig, wie junge Menschen über die Frage dächten, denn sie würden die Zukunft unseres Landes prägen. Er appellierte an sie, aktiv an der Debatte teilzunehmen, sich in die Diskussionen einzumischen. Ihre Fragen, ihre Sichtweisen, ihre Art der Auseinandersetzung und ihr Interesse würden gebraucht, um "alte Denkmuster" und die "alten Sprachspiele" aufzubrechen. "Wenn das gelingt, hat die Erinnerung eine Zukunft".
Zur Zukunft der Erinnerung gehörten aber auch "Orte der Erinnerung", führte der Bundespräsident weiter aus. Er dächte dabei nicht allein an ein zentrales Mahnmal sondern an noch mehr "Orte der konkreten, historischen Erinnerung", die über das ganze Land verbreitet seien. Überall in Deutschland habe es "Szenen des Schreckens" gegeben, nicht nur in Berlin, Nürnberg oder München. In der regionalen Aufarbeitung liege auch eine "Chance für die schulische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus". Wichtig sei nicht nur die Vermittlung historischer Fakten. Vielmehr müsse die Beschäftigung mit dieser Zeit "mit der Erziehung zu Gewissensbildung und Verantwortung" einhergehen. Die Schule dürfe daher von der Gesellschaft gerade jetzt nicht allein gelassen werden. Der Bundespräsident betonte, es gehe jetzt um die jungen Menschen in unserem Land. Lerninhalte und Lehrmethoden seien insofern "sehr genau, sehr öffentlich und vor allem sehr zielorientiert" zu diskutieren. Erbe heiße Verantwortung. Die Opfer des Nationalsozialismus und unsere Verantwortung für die Zukunft des Menschen erlaubten das "Ausblenden der Vergangenheit" nicht.