Innenausschuss
"EINE MILLIARDE DM BEWILLIGEN, UM DEMOKRATISCHE KULTUR ZU ERLANGEN"
Berlin: (hib/WOL-in) Professor Hajo Funke von der Freien Universität Berlin war einer von elf Sachverständigen, die Mittwochnachmittag bei der Öffentlichen Anhörung zum Rechtsextremismus den Mitgliedern des Innenausschusses, des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Enquete-Kommission ‚Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements‘ ihre Positionen darlegten.
Funke schilderte mit dem Szenario eines "imaginären Ortes ‚Schönbruch‘ nördlich von Berlin" die bedrückende Atmosphäre der "no-go-areas" außerhalb der großen Städte, in denen gewaltbereite junge Neonazis so dominierten, dass es für Jugendliche mit anderen Ansichten und Interessen "kein Entkommen" gebe.
"Von Ausländern brauche man in diesem Zusammenhang ohnehin nicht mehr zu reden, seit der letzte VW-Bus mit Türken abgefackelt worden sei." In einer solchen Mischung aus rechtsextremer Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Jugendarbeitslosigkeit brauche es "mehr als jene ‚25plus‘ Millionen, um zu demokratischer Kultur zu gelangen".
1 Milliarde DM für ein "Community Coaching" sei eher die Größenordnung, in der man rechnen müsse. Wenn von Politikern "der Aufstand der Anständigen" gefordert werde, so müsse das es auch den "Anstand der Zuständigkeit" zur Bewilligung geeigneter Mittel geben.
Professor Christian Pfeiffer erläuterte, rechtsextreme Gewalt sei vor allem ein ostdeutsches Problem. Zwar gebe es auch im Westen rechtsextreme Gewaltexzesse, doch wenn pro 100.000 Bürgern im Osten etwa viermal mehr fremdfeindliche Gewalttaten verzeichnet würden als im Westen, beschönige dies die Situation.
In der Umkehrung errechne sich für 100.000 Ausländer in Ostdeutschland ein etwa zwanzigfaches Risiko, Opfer fremdenfeindlichen Gewalt zu werden.
In den neuen Ländern müssten "Skinheads regelrecht suchen, wenn sie einen Ausländer zusammenschlagen wollten".
Während junge Rechtsextremisten im Westen eine kleine Minderheit darstellten, hätten sie im Osten unter den Zwölf- bis Achtzehnjährigen einen Kern, der zwei- bis dreimal so stark sei.
Auf vielen öffentlichen Plätzen beherrschten sie die Szene, es fehle eine spürbare Gegenkultur. Dabei gebe es kein Defizit der Bekämpfung des Rechtsextremismus durch Polizei, Justiz und Verfassungsschutz zu beklagen.
Was fehle, sei "eine Zukunftsinvestion Jugend". Wenn Ausländer aus einsichtigen Gründen nicht bereit wären, nach Osten zu gehen, dann sei dafür zu plädieren, "Ostler" ins Ausland zu bringen und mit 10.000 Stipendien pro Jahr "quasi Weltoffenheit im Turbokurs" zu erlernen.
Professor Reinhard Kühnl von der Philippsuniversität Marburg konstatierte, die gegenwärtige Entwicklung von Rassismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sei Folge einer jahrzehntelangen Politik, die Ausländer immer unter Nützlichkeitsaspekten gesehen und bewertet und Einwanderer "nie als dazugehörig" betrachtet habe.
In einer Untersuchung von 13 Staaten stehe Deutschland in der Ecke der wenigen Nationen, in den völkischer Nationalismus tief verwurzelt sei.
Auch vermenge sich hierzulande verhängnisvoll Konkurrenzdenken mit wirtschaftlicher Wertschätzung. Asylsuchende Ausländer würden als überflüssige Esser, als Bedrohung des eigenen Lebensstandards angesehen.
Zivilcourage, so Kühnl, könne man nicht herbeireden, wenn man gesamtgesellschaftlich die Antisfaschisten jahrelang diskriminiert habe - eben jene, die sich couragiert gegen den Rechtsextremismus gewendet hätten.
Professor Gerd Langguth vom Fachbereich Politische Wissenschaften der Universität Bonn kritisierte die Medien am Beispiel der "befreiten Zonen", wenn mit undifferenzierter Übernahme rechtsextremistischer Diktion der Schaden eher vergrößert werde.
Stephan Eisel von der Konrad Adenauer Stiftung sah Befürchtungen bestätigt, dass mit Mittelkürzungen für politische Stiftungen eine Einbuße an politischer Bildung und demokratischer Wertschätzung einherginge.
Wenn rechtsextremistische Straftaten zu 70 Prozent von Jugendlichen unter 21 Jahren begangen würden, müssten gesellschaftliche Institutionen wie Familie und Schule deutlich gestärkt werden.
Die Geschichtslosigkeit bei Rechtsextremisten sei nicht zuletzt auf mangelnden Geschichtsunterricht zurückzuführen.
Peter Rieker vom Deutschen Jugendinstitut ging wie zuvor Professor Wilhelm Heitmeyer vom Institut für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung auf Ursachen des Rechtsextremismus ein, wonach Gewalt als Erfahrung in der Familie "gelernt" werde.
Rieker konstatierte Mangel an sozialer Bindung, fehlende Verläßlichkeit im familiären Umfeld sowie politische Unkenntnis und forderte, den Jugendlichen ein gewaltfreies Aufwachsen (in der Familie) und schulische Erfolge zu ermöglichen.