Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
EU-GIPFEL VON NIZZA KONTROVERS BEURTEILT
Berlin: (hib/BOB) Als "historischen Schritt" hat es Bundesaußenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) am Freitagvormittag bezeichnet, dass es den EU-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel in Nizza gelungen sei, die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union herzustellen.
Nizza, so der Minister bei einer öffentlichen Sondersitzung des Europaausschusses weiter, sei allerdings dennoch "keine Ideallösung" gewesen.
Vor allem bei dem Einstieg in Mehrheitsentscheidungen hätte sich die deutsche Seite mehr gewünscht. Dies sei aber wegen des Einstimmigkeitsprinzips nicht durchsetzbar gewesen.
Beispielsweise habe es bei Steuer- und Handelsfragen "null Spielraum auf britischer Seite" gegeben. Hätte die Bundesrepublik auf ihrer Haltung bestanden, wäre der Gipfel geplatzt, so Fischer.
Der Minister wies darauf hin, Deutschland habe ungeachtet starker Kritik wesentliche Ziele erreichen können.
Dies betreffe die Verschiebung der Stimmengewichte im Ministerrat ebenso wie die proportional höhere Mandatszahl der Bundesrepublik im Europäischen Parlament (EP).
Der deutsche Wunsch, eine sogenannte doppelte Mehrheit im EU-Rat einzuführen, bei der es sowohl auf eine Mehrheit der Staaten als auch auf eine der repräsentierten Bevölkerung ankomme, sei mit der französischen Präsidentschaft nicht zu machen gewesen.
Fischer sprach sich dagegen aus, das Ergebnis von Nizza auf die Frage "Wer ist Sieger?" zu reduzieren, wie das in Teilen der Presse mit Blick auf das Verhältnis von Berlin und Paris der Fall sei.
Das deutsch-französische Verhältnis bleibe "von überragender Bedeutung" für die zukünftige Gestaltung der EU.
Es gelte jetzt, sich mit Paris zusammen zu setzen, um den "Post-Nizza-Prozess" mit konkreten Initiativen einzuleiten und eine Vertiefung der EU einschließlich einer Abgrenzung der Kompetenzen auf den Weg zu bringen.
Der Vorsitzende des Ausschusses, Friedbert Pflüger (CDU/CSU) erklärte, die in Nizza zu Tage getretenen Differenzen zwischen Berlin und Paris spiegelten über die eigentlichen Sachkonflikte hinaus in Frankreich die Sorge, das größere und bevölkerungsstärkere Deutschland gewinne in Europa derart an Gewicht, dass die historische Balance zwischen beiden Ländern nicht mehr funktioniere.
Gefordert seien deshalb konkrete Initiativen der Bundesregierung, um den Nachbarn zu überzeugen, dass der EU-Erweiterungsprozess im gemeinsamen Interesse liege. Der europa-
politische Sprecher der Unionsfraktion, Peter Hintze, stellte fest, die Erweiterungsfähigkeit der EU
sei zwar hergestellt, mehr wäre aber wünschenswert gewesen. Mit Blick auf die auch von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) vor dem Gipfel im Bundestag geforderte größere Effizienz, Transparenz und Legitimität in der EU müsse man demgegenüber jetzt "massive Rückschritte" feststellen.
Hintze kritisierte, besonders mit Blick auf Tschechien und Ungarn, die vereinbarte Sitzverteilung im künftigen EP als "unfair".
Er schlug zudem vor, Beratungen über einen europäischen Verfassungsvertrag samt Kompetenzabgrenzung nicht mehr einem Gipfel der Regierungen, sondern einem auch mit Parlamentariern besetzten Konvent zu überlassen.
SPD und Bündnis 90/Die Grünen erklärten demgegenüber, das Engagement der Bundesregierung habe in Nizza geholfen, ein "eindeutiges Signal" in Richtung Bewerberstaaten zu setzen.
Die Erweiterungsfähigkeit der EU sei nunmehr hergestellt. Dies sei, gerade in Polen, von den Vertretern der Beitrittskandidaten auch registriert worden.
Mit Blick darauf, dass die Entscheidungen in Europa als nicht mehr transparent genug empfunden würden, bedürfe es jetzt eines breiten Diskussionsprozesses in den EU-Mitgliedstaaten im Vorgriff auf einen künftigen Verfassungsvertrag, so der europapolitische Sprecher der SPD, Günther Gloser.
Gloser wie auch Christian Sterzing von den Bündnisgrünen machten im Übrigen keinen Hehl daraus, dass man sich in manchen Bereichen mehr gewünscht habe.
Daraus sei der Bundesregierung aber kein Vorwurf zu machen, da das Einstimmigkeitsprinzip vieles verhindert habe.
Die F.D.P. sprach hingegen von einem "Mickey-Mouse-Ergebnis" von Nizza und zudem von einem "kaputten deutsch-französischen Verhältnis".
Besonders kritikwürdig sei, dass ein substanzieller Einstieg in Mehrheitsentscheidungen im Rat und eine größere Beteiligung des Europäischen Parlaments nicht zustande gekommen seien.
"Das war zu wenig", so Helmut Haussmann für die Liberalen. Auch Uwe Hiksch (PDS) sprach von einem "Fiasko von Nizza".
Er warf der rot-grünen Bundesregierung im Übrigen vor, sie habe in Frankreich einen Beitrag zu einer weiteren Militarisierung der EU-Politik geleistet.