Experten räumen falsche oder ungenaue Konjunkturprognosen ein
Berlin: (hib/KHB) Der Untersuchungsausschuss zum angeblichen "Wahlbetrug" der rot-grünen Bundesregierung vor der Bundestagswahl hat am Donnerstag drei Stunden lang Sachverständige zur Konjunkturforschung befragt. Es ging um den Aussagewert von Konjunkturprognosen. Die fünf Wissenschaftler aus Berlin, Essen und Kiel gaben an, mit den gleichen Ausgangsdaten zu arbeiten: Steuerschätzungen der Bundesregierung und amtliche Daten des Statistischen Bundesamtes und des Europäischen Statistikamtes Eurostat. Die Bewertung sei aber unterschiedlich. Sie räumten ein, die konjunkturelle Entwicklung im Jahre 2002 falsch oder ungenau vorhergesagt zu haben. Bis zum Sommer seien sie von einem erwarteten Anstieg der Konjunktur ausgegangen und hätten erst im Herbst ihre Prognosen geändert.
Nur das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel habe als einziges seine Prognose des Konjunkturverlaufs und des zu erwartenden Etatdefizits vor der Bundestagswahl zurückgenommen; das erwartete Wachstum für 2002 von plus 1,2 auf 0,4 Prozent gesenkt, das Defizit von 2,5 auf 3,1 Prozent angehoben, erklärte Joachim Scheibe vom Institut. "Menschen haben nicht die Gabe, in die Zukunft zu sehen", sagte Hugo Dicke vom gleichen Institut. Dicke hat die Treffsicherheit solcher Prognosen untersucht: sie hätten sich seit den 60-er Jahren nicht verbessert. Da früher Konjunkturschwankungen größer gewesen seien, habe die Schwankungsbreite zwar absolut abgenommen, nicht aber relativ. Zum Vergleich zog Dicke den Elefanten und die Maus heran. Der Schwanz eines Elefanten schlage stärker aus als der der Maus; man müsse den Ausschlag aber auf das Tier beziehen.
Ulrich Heilemann, Vizepräsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung Essen, nannte die geänderten Wachstumsprognosen und deren Treffsicherheit für 2002 "nicht außergewöhnlich". Schon zur Jahresmitte hätten die Institute auf die Schwäche des Aufschwungs, die große Rolle der Weltkonjunktur und deren Risiken, die schwache Binnenkonjunktur, verbunden mit dem durch die Steuerreform verursachten Einbruch bei der Körperschaftsteuer, hingewiesen. Auch die Halbierung der Aktienkurse, die Auseinandersetzung um den Irak und die Jahrhundertflut habe die Prognose erheblich erschwert.
Gustav-Adolf Horn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung verwies darauf, dass "zu fast allen Zeiten" alle Länder Europas die Einnahmen zu hoch und die Defizitquote zu niedrig schätzten. In der deutschen Schätzung 2002 sei nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass sich immer mehr Unternehmen durch Outsourcing Tarifabschlüssen entzögen und so das Aufkommen der Sozialbeiträge erheblich überschätzt werde.
Jürgen Komphardt (Berlin), Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftliche Entwicklung, nannte die Prognosen schwierig. Erst im Juli, August habe sich vermuten lassen, dass "die Defizitgrenze überschritten werden könnte". Eine fundierte Basis dafür habe es erst im Oktober, also nach der Wahl, gegeben. Die Frage des CDU-Abgeordneten Jürgen Gehb, ob er wie der Bundesfinanzminister noch am 17. September behauptet hätte, die Bundesregierung werde die Defizitkriterien der EU einhalten, beantworte dieser klar mit "Nein". Doch fügte er hinzu: "Ich hätte auch nicht das Gegenteil behauptet. Ich hätte auf mögliche Schwankungsbreiten verwiesen."