Bundestagsvizepräsident Seiters eröffnet am Montag, 22.
Mai 2000, im Plenarssaal des Reichstagsgebäudes die 11.
Interparlamentarische EUREKA-Konferenz und hält dabei
nachstehende Rede:
"Sehr herzlich darf ich Sie persönlich, gleichzeitig auch im Namen von Bundestagspräsident Thierse, willkommen heißen zur Interparlamentarischen EUREKA-Konferenz, der 11. ihrer Art und der ersten, die in Deutschland stattfindet.
Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag nunmehr zum dritten Mal in nur 13 Monaten geschätzte Kolleginnen und Kollegen ausländischer Parlamente im Plenarsaal unseres Parlaments in Berlin begrüßen kann. Vor Ihnen waren es Kolleginnen und Kollegen aus 72 Parlamenten, die im September 1999 im Rahmen einer Parlamentspräsidentenkonferenz an den Feiern zum fünfzig-jährigen Bestehen des Deutschen Bundestages in diesem Plenarsaal versammelt waren. Und vor Ihnen war es die Interparlamentarische Union, Abgeordnete aus fast allen 137 Mitgliedstaaten, die im Oktober 1999 in diesem Gebäude an der Eröffnung der 102. IPU-Konferenz teilnahmen.
Heute und morgen werden Sie, Abgeordnete aus den jetzt 26 Teilnehmerländern der EUREKA-Initiative, Gäste des deutschen Parlaments sein. Wie Sie vielleicht wissen, dient dieses Gebäude erst seit dem 19. April 1999 wieder als ständiger Tagungsort für das Plenum des Deutschen Bundestages, während die Funktionsbauten mit den Sitzungssälen für Ausschüsse, mit den Büros für Abgeordnete, Mitarbeiter und die Verwaltung, nebenan noch immer im Bau sind. Ich bitte Sie also um Nachsicht, dass Sie zwar in einem fertiggestellten Gebäude, aber zugleich mitten in einer Großbaustelle Ihre Beratungen abhalten werden.
Wie sehr dieser Bau Geschichte verkörpert, mag Ihnen bereits bewusst geworden sein: Die Außenmauern des Gebäudes können nicht verleugnen, dass sie im späten 19. Jahrhundert errichtet wurden. Im Inneren des Hauses, speziell unter dieser ungewöhnlichen Kuppel, begegnet Ihnen Architektur des späten 20. Jahrhunderts, multifunktional und ökologisch optimiert für die Erfordernisse unserer Zeit, wofür wir unserem Baumeister, dem britischen Architekten Sir Norman Foster, dankbar sind.
Dieses Gebäude, ursprünglich eingeweiht im Jahre 1895, war Ort der parlamentarischen Begleitung der Politik des Kaiserreichs, damit auch des Weltkrieges von 1914 bis 1918. Und es war Tagungsort deutscher Parlamentarier, so lange in Deutschland parlamentarische Funktionen ausgeübt werden konnten, also bis Anfang 1933. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten überstand der Bau keine vier Wochen. Am 27. Februar 1933 wurde das Gebäude in Brand gesteckt und damit unbrauchbar. Eine Funktion hatte es allerdings noch zu erfüllen: Der Reichstagsbrand diente als äußerer Anlass und wurde benutzt, um mit dem "Ermächtigungsgesetz" die Befugnisse des Parlaments praktisch "auf null" zu setzen - nominell für vier Jahre, tatsächlich für die gesamte Dauer der Hitler-Diktatur.
Am 30. April 1945 eroberten Soldaten der Roten Armee die Reichstags-Ruine. Inschriften sowjetischer Soldaten an den Mauern dieses Hauses erinnern an den schmerzhaften und verlustreichen Verlauf des zweiten Weltkrieges. Seit 1945 lag die Ruine des Reichstagsgebäudes im "Britischen Sektor" von Berlin, sein Südost-Turm beherbergte Jahre lang einen britischen "Feldposten". Für den Augenkontakt zu seinem Gegenüber, dem russischen "Feldposten" auf dem Brandenburger Tor im "Sowjetischen Sektor" von Berlin, waren Feldstecher nicht nötig, man sah sich mit bloßem Auge, beiderseits umgeben von Ruinenfeldern.
Die fünfziger Jahre sahen eine Reparatur des Gebäudes, das wieder hergerichtet wurde für parlamentarische Beratungen, die indes nur spärlich und nur auf der Ebene der Fraktionen stattfinden durften. Denn Deutschland war zweigeteilt, es entwickelten sich zwei Staaten und zwei Parlamente, ein demokratischer Staat in Bonn am Rhein und eine "volksdemokratische" Diktatur in Ostberlin, der sogenannten Hauptstadt der DDR, die sich seit 1961 mit einer schrecklichen Mauer umgab, um die Menschen am Verlassen der DDR zu hindern. 28 Jahre hatte diese Mauer Bestand. Ihre gewaltlose Öffnung am 09. November 1989 markierte den Anfang vom Ende der Teilung Deutschlands und zugleich der Teilung Europas und auch das bevorstehende Ende des Kommunismus.
In Deutschland wurde 1989 und 1990 - zum ersten Mal in unserer Geschichte - von innen heraus, mit eigenen Kräften und nur auf friedlichem Wege der Übergang von einer Diktatur in eine Demokratie bewerkstelligt. Dass wir die Einheit Deutschlands erreichen konnten, war das Werk vieler, vor allem der Ostdeutschen selbst, die ihren Willen zur Einheit und Freiheit auf so beeindruckende Weise in einer friedlichen Revolution bekundeten. Unsere Dankbarkeit gilt aber auch unseren Nachbarn im Osten, im Westen, im Süden wie im Norden für ihre Zustimmung und ihre Unterstützung in den damaligen historischen Jahren. Nur 11 Monate nach dem Fall der Mauer wurde am 03. Oktober 1990 vor diesem Gebäude die deutsche Einigung gefeiert. Am Tag darauf fand hier die erste Sitzung eines gemeinsamen, gesamt-deutschen Parlamentes statt.
Nun also können wir heute und hier in diesem Gebäude die 11. Interparlamentarische EUREKA-Konferenz eröffnen. EUREKA startete 1985. Auf Anregung Frankreichs und Deutschlands beschlossen anfangs 18 Staaten sowie die Europäische Kommission eine europäische Initiative für Forschung und Entwicklung. Sie verständigten sich in Hannover auf eine Grundsatzerklärung, die - Kompliment! - so geschickt abgefasst wurde, dass sie bis zur Stunde nicht geändert werden musste. Zweck der Initiative war und bleibt es, "durch verstärkte Zusammenarbeit von Unternehmern und Forschungsinstituten auf dem Gebiet der Hochtechnologien die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Industrien und Volkswirtschaften Europas auf dem Weltmarkt zu steigern und damit die Grundlage für dauerhaften Wohlstand und Beschäftigung zu festigen".
Heute - nach der Zeitwende von 1989/90 - gehören - ihrem Wunsch entsprechend - weitere Staaten der EUREKA an, nämlich Ungarn, die Russische Föderation, Slowenien, Polen, die Tschechische Republik, Rumänien und Litauen. Weitere Länder Europas bekunden seit längerem ihr Interesse an einer Mitgliedschaft (insbesondere Kroatien, Lettland und die Slowakische Republik). Sie werden diesem Ziel vielleicht noch auf dieser Konferenz oder beim nachfolgenden Ministertreffen am 23. Juni 2000 in Hannover näher kommen.
In der Resolution Ihrer letzten Interparlamentarischen Konferenz - der zehnten, abgehalten am 03./04. Juni 1999 in Ankara - bestätigten Sie Ihre Einschätzung, dass EUREKA dank seiner Flexibilität und seiner nur geringen Bürokratie den Erfordernissen der Industrie in Europa entspreche. EUREKA sahen Sie in einem Entwicklungsprozess hin zu einem "bedeutsamen Mechanismus zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der euro-päischen Industrie". Zugleich hielten Sie ein "starkes politisches Engagement" zur "Revitalisierung" von EUREKA für geboten. Ziel sollte es sein, Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen in Europa zu stimulieren und "längerfristig eine größere Anzahl profitabler Unternehmungen auf dem europäischen Markt zu konsolidieren, mit all ihren positiven Auswirkungen auf Beschäftigung und andere soziale Wohltaten".
Ich hoffe, Sie werden heute und morgen feststellen können, dass seit Ihrer Beschlussfassung vom Juni 1999 die Umsetzung des von Ihnen angestrebten Reform-Scenarios "Revitalisierung" vorangekommen ist.
Bitte seien Sie sich bewusst - gerade hier in Berlin -, welche besondere Bedeutung EUREKA für die Volkswirtschaften Mittel- und Osteuropas hat, die nach 1949 über Jahrzehnte dem "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" angehört hatten. Wie Sie wissen, galten im COMECON andere Lehrbücher, ihre Untauglichkeit hat sich inzwischen erwiesen.
In der Planwirtschaft kam es zu allererst auf Bedarfsdeckung an, nicht aber auf internationale Wettbewerbsfähigkeit, und schon gar nicht auf "marktnahe Forschung und Entwicklung". Umso bedeutsamer für Wirtschaftsunternehmen in Mittel- und Osteuropas war es dann, dass EUREKA schon sehr bald nach 1990 dabei geholfen hat, Anschluss an die technologischen Standards Westeuropas zu gewinnen. Heute beginnt sie, eine stolze Realität zu werden: Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Firmen "des Westens". Sie hat neugegründeten bzw. umstrukturierten Firmen Mittel- und Osteuropas neue Märkte geöffnet für neue, gemeinschaftlich entwickelte Hochtechnologie-Produkte.
Ich unterstütze daher ausdrücklich alle Bemühungen EUREKAs um Ausweitung und Verbesserung der Geschäftsbeziehungen - insbesondere der Forschungs- und Entwicklungszusammenarbeit - zwischen Unternehmen aus klassisch marktwirtschaftlichen Ländern und solchen, die es erst kürzlich - wieder - geworden sind. Als beispielgebend und als ermutigend für künftige weitere gemeinsame Unternehmungen greife ich nur folgende drei Projekte heraus:
- Mit dem Projekt FACTORY-PROJOIN konnten Unternehmen und Forschungsinstitute in Estland und Rumänien sowie in Großbritannien, den Niederlanden, Portugal, Schweden und Spanien ihre Anstrengungen zur Weiterentwicklung der Schweißtechnik bündeln. Mit Erfolg wurden Verfahren der automatisierten Produktion, der Prozesskontrolle, der Konstruktion und des Qualitätsmanagements sowie hierauf gerichtete Ausbil-dungsgänge und Betriebsabläufe verbessert. (Das Projekt wird Ihnen morgen hier im einzelnen vorgestellt werden.)
- Mit dem Projekt CLEANTECH konnten Unternehmen in Ungarn sowie in Schweden, der Schweiz und Deutschland neue Technologien für die Produktionsbereiche Reinigungsgeräte, Kühl-schränke, Waschmaschinen, Elektrowerkzeuge und elektro-nische Ausrüstung entwickeln. Damit ist - endlich - möglich geworden, wertvolle Komponenten dieser Geräte anlässlich ihrer Verschrottung wiederzuverwenden und zugleich die Menge an elektronischem Schrott zu verringern. Mit Erfolg finden inzwischen die Motoren aus Altgeräten - erforderlichenfalls nach Aufarbeitung - in neuen, entsprechend gekennzeichneten Geräten der ursprünglichen Hersteller erneut Verwendung.
- Im Projekt TAMARREC konzentrieren Unternehmen und Forschungsinstitute in den Niederlanden, in Großbritannien, Luxemburg und in Deutschland (Technische Universität Chemnitz) ihre Bemühungen darauf, den Gummi alter Autoreifen hochwertig stofflich zu verwerten, um daraus neue Werkstoffe zu gewinnen. Als besonders vielversprechendes Entwicklungsfeld erscheint die Kombination von Gummimehl und bereits zur Neuverwendung aufbereiteter Kunststoffe. Mit Erfolg sind bereits erste Elastomer-Legierungen durch Zusammenfügen von Gummimehl und anderen Stoffen entwickelt worden. Erste Patente sind erteilt; die Forschungen werden fortgesetzt. Ich freue mich, zu hören, dass der Produktionsbeginn für einen ersten neuen Werkstoff noch in diesem Jahr in Deutschland - und zwar in Mecklenburg-Vorpommern - erfolgen soll.
Diese drei Beispiele, denen man - glücklicherweise - noch eine Reihe weiterer hinzufügen könnte, veranschaulichen die beträchtliche Bedeutung, die EUREKA schon heute im östlichen Teil unseres Kontinents gewonnen hat. Deshalb bitte ich Sie nicht nachzulassen in Ihren Bemühungen, die Länder Mittel- und Osteuropa, ihre Unternehmen und Forschungsinstitute - kurz: ihre Menschen - einzubeziehen in den Prozess der internationalen Zusammenarbeit, den EUREKA in so bemerkenswerter Weise verkörpert.
Der 11. Interparlamentarische EUREKA-Konferenz erkläre ich hiermit für eröffnet. Ich wünsche Ihrer Konferenz einen erfolgreichen Verlauf und konstruktive Ergebnisse."