Bundestagspräsident Thierse würdigt Josef Felder
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält heute beim Empfang der Landeshauptstadt München anlässlich des 100. Geburtstags von Josef Felder, des letzten noch lebenden Reichstagsabgeordneten, der 1933 gegen Hitlers "Ermächtigungsgesetz" gestimmt hat, nachstehende Ansprache:
"Wir sind zusammengekommen, um einen Mann zu ehren, den man mit Fug und Recht als eine Jahrhundertgestalt bezeichnen kann. Sein "verwunderlich langes Leben", wie es Josef Felder selbst formuliert hat, begann mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts - und die Bedeutung des politischen Lebenswerks unseres Jubilars reicht weit über das Ende des Millenniums hinaus. Der 100. Geburtstag des letzten noch lebenden Reichstagsabgeordneten, der 1933 gegen Hitlers "Ermächtigungsgesetz" gestimmt hat, ist deshalb zugleich eine Zukunftsverpflichtung für uns alle.
Der Rückblick auf seine Lebensleistung erinnert an eine schwarze Stunde für den Parlamentarismus in Deutschland - an den 23. März 1933, jenen Tag, an dem ein frei gewähltes Parlament unter dem massivem Druck der Nationalsozialisten seine Selbstentmündigung beschlossen hat. Josef Felder ist und bleibt für alle, die sich für die parlamentarische Demokratie engagieren, ein Vorbild, weil er zusammen mit 93 anderen Männern und Frauen den Mut und das Verantwortungsbewusstsein hatte, den brutalen Einschüchterungsversuchen der Nationalsozialisten zu widerstehen. "Warum ich nein gesagt habe" - lautet der Titel seines gerade fertiggestellten Buches. Aus welchen Motiven heraus Josef Felder "nein" gesagt hat, die schwerwiegenden Folgen, die diese Verweigerung für ihn hatte und die Konsequenzen, die er aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus gezogen hat, spiegeln sich im Lebensweg eines widerständigen homo politicus, den wir heute würdigen wollen.
Das einhundertjährige Geburtstagskind wurde am 24. August 1900 in Augsburg geboren und erlernte nach dem Schulbesuch den Beruf eines Setzers und Buchdruckers - wie man weiß, war dieser Beruf schon immer eine gute Voraussetzung, um Sozialdemokrat zu werden. Das liberale Elternhaus, aber auch die Erfahrung der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse der Jahre nach dem ersten Weltkrieg schärften Josef Felders soziales und politisches Bewusstsein. Im Juli 1919 trat er in Mindelheim in die USPD ein. Nachdem sich jedoch im August 1920 der Ortsverein Mindelheim für einen Beitritt der USPD zur von Moskau aus gesteuerten "Kommunistischen Internationale" entschied, wechselte er zur gemäßigteren MSPD über. Seine große rednerische Begabung führte dazu, dass ihm sogleich die Organisation einer Gruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend übertragen wurde.
Beruflich war er seit 1921 bei der sozialdemokratischen "Schwäbischen Volkszeitung" in Augsburg tätig. In diesem Parteiorgan kommentierte er mit feiner und zuweilen auch spitzer Feder tagespolitische Ereignisse. Seit 1924 Redakteur der "Schwäbischen Volkszeitung", wurde er 1929 in den Augsburger Stadtrat gewählt. Kunst und Wissenschaft sowie Leibesübung waren hier seine kommunalpolitischen Hauptaufgaben. Josef Felder war schon damals ein unabhängiger, kritischer Kopf - auch über Familienbande hinweg. So hielt ihn die Zugehörigkeit seines Onkels zur Stadtratsfraktion der Bayrischen Volkspartei (BVP) nicht davon ab, gegen dessen Reden zu Felde zu ziehen.
Immer mehr rückte allerdings die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Mittelpunkt des politischen Geschehens. Auch Josef Felder hat die Brutalität ihres Vorgehens erfahren - und er hat Strategien entwickelt, um dem braunen Ungeist öffentlich entgegenzuwirken. Nachdem die Nazis eine öffentliche Parteiversammlung sprengten, die er durchgeführt hatte, schlug er in der "Schwäbischen Volkszeitung" ein Streitgespräch zwischen SPD und NSDAP vor - freilich nur unter der Bedingung, dass dabei den von den Nazis verfolgten Juden freier Zutritt zur Versammlung gewährt wird. Einem solchen öffentlichen Streitgespräch wollten sich die Nationalsozialisten nicht stellen. Durch ihre anschließende Polemik gegen Felder und die SPD - die sie u.a. als "kapitalistische Judenschutztruppe" titulierten - entlarvten sie sich endgültig selbst: jeder, der sehen und hören wollte, konnte nun den antidemokratischen Geist und die Menschenverachtung des Nationalsozialismus erkennen.
Nach einem erbitterten Wahlkampf wurde Felder im Herbst 1932 in den Reichstag gewählt. Die beginnende politische Karriere wurde jäh unterbrochen, als nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung" politisch Andersdenkende brutal verfolgt wurden. Josef Felder beschreibt in seinen 1982 erschienenen Erinnerungen eindringlich das bedrückende Gefühl, das ihn und seine politischen Freunde befiel, als sie in diesen Tagen durch die mit Nazi-Emblemen beflaggten Straßen gingen. Hinter ihnen lag ein Wahlkampf, in dem die Rücksichtslosigkeit der NS-Schlägertruppen gezeigt hatte, dass sie jeden Widerstand zu brechen entschlossen waren. Wir können es uns heute - zum Glück - nur noch schwer vorstellen, dass damals gewählte Abgeordnete für die nationalsozialistischen Schläger zum Freiwild wurden, sich nicht mehr in ihre Wohnungen wagen konnten und ihre Familienangehörigen in ständiger Gefahr wussten. Josef Felder hat die Situation nach seiner Wahl in den Reichstag so beschrieben: "Von nun an war ich ein Verfolgter".
Um die Macht im Staat endgültig in Händen zu halten, mussten die Nationalsozialisten jedoch den Reichstag ausschalten. Hierzu sollte das sog. "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Recht" dienen. Bis heute wird es jedoch viel treffender als "Ermächtigungsgesetz" bezeichnet. Schließlich hat seine Annahme Hitler erst endgültig den Weg zur Macht - und damit zu dreizehn Jahren schlimmsten Terrors - freigeräumt.
Am 22. und am 23. März 1933 beriet die SPD-Fraktion den Entwurf für das "Ermächtigungsgesetz", das abzulehnen von Anfang an Konsens war. Es ging nur noch um die Frage, ob die Fraktion überhaupt an der Reichstagssitzung teilnehmen sollte. Immerhin zeichnete sich bereits ab, dass die Abstimmung zur Farce werden würde. Schließlich waren die kommunistischen Abgeordneten, aber auch Parlamentarier der SPD und anderer Parteien bereits verhaftet worden, untergetaucht oder auf der Flucht. Dennoch sprachen sich u.a. der SPD-Vorsitzende Otto Wels, der junge Kurt Schumacher und Louise Schroeder entschieden für eine Teilnahme der SPD an der Reichstagssitzung und für eine demonstrative Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes aus.
Josef Felder hat eindringlich davon berichtet, wie die SPD-Abgeordneten auf den Weg zur Abstimmung im Reichstag einen wahren Spießrutenlauf durch organisierte NS-Sympathisanten erlebten. Die Abstimmung selbst fand unter dem massiven Druck der SA statt, die unzulässiger Weise in die Kroll-Oper eindrang und sich in der Lobby drohend bereithielt. Und dennoch hat Josef Felder damals mit "Nein" gestimmt, haben mit ihm 93 andere Frauen und Männer der SPD den Mut gehabt, sich der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland zu widersetzen.
Der SPD-Vorsitzende Otto Wels hielt in seiner Reichstagsrede Hitlers Polemik entgegen:
"Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten."
Trotz dieser mutigen Worte hat der Reichstag am 23. März 1933 mit den Stimmen der Nationalsozialisten und der bürgerlichen Parteien das "Ermächtigungsgesetz" angenommen. Die Folgen der de factoEntmachtung des Parlamentes bekamen jene Parlamentarier, die mit "Nein" gestimmt hatten, umgehend zu spüren. Sie wurden rücksichtslos gejagt, verfolgt, verhaftet, in KZs gebracht. Josef Felder floh nach München. Hier wurde er im April 1933 mit Berufsverbot belegt und als Redakteur der "Schwäbischen Volkszeitung" entlassen. Er emigrierte im Juni 1933 nach Österreich, wo er bis Februar 1934 in Wien im Untergrund tätig war. Von dort ging er im gleichen Jahr nach Prag. Aber seine Familie war in Deutschland geblieben, und alle Versuche, sie heraus zu holen, schlugen fehl. So kehrte Josef Felder mit einem gefälschten Pass 1934 aus dem Exil zurück. Von den Nationalsozialisten erkannt und verhaftet, wurde er im KZ Dachau unter brutalen Bedingungen inhaftiert. In seinen Erinnerungen berichtet er von den Versuchen, ihn mit psychischem Druck in den Selbstmord zu treiben. In Dachau traf Felder u.a. den späteren SPD-Parteivorsitzenden Dr. Kurt Schumacher, mit dem er seit 1929 befreundet war. Die Erfahrung der KZ-Haft war für beide ein entscheidendes Motiv, sich für den Neuaufbau einer parlamentarische Demokratie in Deutschland einzusetzen.
Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands verlegte man Felder schließlich in die Lungenabteilung der Krankenhausbaracke. Dank der Vermittlung seines Bruders wurde er von Willy Bogner, dem Begründer der Münchener Textil- und Sportbekleidungsfirma, als Buchhalter angefordert und im Februar 1936 "probeweise" aus dem KZ Dachau entlassen. Er war erneut gefährdet, als ihn ein Mitarbeiter der Firma denunzierte. Doch der Firmenchef verhinderte eine weitere Inhaftierung, die Josef Felder möglicherweise mit dem Leben hätte bezahlen müssen. Es gelang ihm mit viel Glück, NS-Herrschaft und Zweiten Weltkrieg zu überleben, freilich in der ständigen Sorge um das Leben seiner Familie.
Nach dem Einzug amerikanischer Besatzungstruppen in Bayern übernahm er treuhänderisch die Leitung der Textilfabrik Bogner, bis der Eigentümer im Zusammenhang mit der Entnazifizierung entlastet wurde. Er wollte jedoch so bald wie möglich wieder in seinen erlernten Beruf zurückkehren und beim Aufbau einer freiheitlichen, unabhängigen Presse in der parlamentarischen Demokratie mitwirken. 1946 erhielt Felder von der amerikanischen Militärverwaltung in Bayern die Lizenz für die in Bad Reichenhall herausgegebene Tageszeitung "Südost-Kurier".
Anfang des Jahres 1955 übertrug die SPD Josef Felder die Leitung des "Zentralorgans der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands", des "Neuen Vorwärts", den er unter dem Namen "Vorwärts" mit dem Untertitel "Sozialdemokratische Wochenzeitung" bis 1957 fortführte. Auch als Leiter des "Vorwärts" hat sich Josef Felder nie gescheut, parteikritische Stimmen zu veröffentlichen.
Innere Unabhängigkeit blieb ein Markenzeichen unseres Jubilars - auch, als der ehemalige Reichstagsabgeordnete sich auf Wunsch seiner Parteifreunde entschloss, sich wiederum als aktiver Politiker zu engagieren und zur Festigung der noch jungen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland beizutragen. 1957 kandidierte er im Wahlkreis Erlangen für den Deutschen Bundestag. Nach dem Einzug in den Bundestag gehörte Josef Felder drei Wahlperioden lang dem zu Recht so bezeichneten "Herz unserer Demokratie" an. Er wurde zunächst Mitglied des Ausschusses für Kulturpolitik und Publizistik, später umbenannt in Ausschuss für Bildung und Wissenschaft. Auf Wunsch von Fritz Erler wechselte er Mitte des Jahres 1960 in den Verteidigungsausschuss. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Untergangs der Weimarer Demokratie maß er dem demokratischen Aufbau der Bundeswehr besondere Bedeutung zu. Josef Felder wusste nur zu gut, dass die Weimarer Reichswehr niemals in die Weimarer Republik integriert und deswegen für antidemokratisches Denken anfällig geblieben war.
Innerhalb der SPD warb der Jubilar nachdrücklich für eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik und setzte sich für Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Sein Politikverständnis baute - auch darin ein Vorbild für heutige Abgeordnete - auf unbedingte Sachkompetenz, gerade auch auf der unmittelbaren Erfahrung vor Ort auf. Josef Felder suchte deshalb immer wieder die Truppen der Bundeswehr und befreundeter Staaten in ihren Kasernen oder auf den Übungsplätzen auf. Er war häufiger Gast in der "Schule für Innere Führung" in Koblenz, um in engem Kontakt mit den Soldaten aller Dienstgrade die Verankerung der parlamentarischen Demokratie zu fördern.
Bis 1969 war er Mitglied des Deutschen Bundestages - und ein nicht immer bequemes Mitglied der SPD-Fraktion. Aber wer hätte bei einem solchen Lebensweg auch anderes erwartet? Der Mann, der den Mut hatte, zu Hitlers Ermächtigungsgesetz "Nein" zu sagen, war erst recht in der freiheitlichen Demokratie kein Jasager - zum Glück und auch zum Vorbild heutiger Abgeordneter unserer Parlamente.
Seit 1970 ist Josef Felder - wie man hier in Bayern wohl sagt - "Pensionist". Aber für das Altenteil ist einer wie er nicht geschaffen. Vielmehr hat er, so lange es die Gesundheit zuließ, gerade bei jungen Menschen für die Demokratie geworben und gestritten. Er hat ihnen von seinen Erlebnissen im Reichstag und Bundestag berichtet und sie zum Engagement für die parlamentarische Demokratie aufgefordert. Hier ist er zugleich Anreger und Vorbild. Das Geburtstagskind ist Träger hoher Auszeichnungen: ich nenne nur das "Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband", den "Bayrischen Verdienstorden", aber auch den Lindauer "Sozialistenhut" und den "Gustav Heinemann-Bürgerpreis". Aber der Preisträger ist seit 1995 auch Patron eines nach ihm benannten Preises. Seitdem wird der "Josef-Felder-Preis für Gemeinwohl und Zivilcourage" vergeben, mit dem junge, engagierte Menschen und Initiativen ausgezeichnet werden. Dieser Preis würdigt zivilgesellschaftliches Engagement in der Demokratie - im Namen eines Mannes, der sich bleibende Verdienste um die Demokratie in Deutschland erworben hat.
Josef Felder hat sich seine geistige und politische Unabhängigkeit bis ins hohe Alter bewahrt. Ein faszinierendes Interview belegte erst im vergangenen Jahr, dass der Jubilar die politische Entwicklung lebhaft verfolgt. Nach wie vor wirbt er für die parlamentarische Demokratie und warnt vor ihrem größten Feind: dem fehlenden Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger(ich zitiere):
"In der Weimarer Republik hatten wir einfach zu wenig Demokraten. Und dort, wo es sie gab, haben sie sich zu leicht zurückdrängen lassen" (...) Für mich persönlich lautet die wichtigste Lehre: (...)Eintreten für die Freiheit steht über allen anderen politischen Interessen."
Josef Felder ist eine Jahrhundertgestalt - nicht nur für die Sozialdemokraten, die ihn ebenso liebe- wie respektvoll den "roten Großvater" nennen. Vielmehr ist er mit seinem Lebenswerk auch über die Parteigrenzen hinweg ein Vorbild - auch wenn er selbst dies nicht gerne hört. Josef Felder ist kein Mann der großen Worte. Von Heldentum wollte und will er - auch im Hinblick auf den 23. März 1933 - nichts hören: In dem genannten Interview vom vergangenen Jahr stellte er mit der ihm eigenen Bescheidenheit fest:
"Ich war kein Held, sondern immer nur ein überzeugter Sozialdemokrat, der seine Pflicht tut".
Das Wort vom "überzeugten Sozialdemokraten" ist natürlich richtig. Aber ich denke, dass wir uns zu seinem 100. Geburtstag über die Parteigrenzen auf die Feststellung einigen können:
Josef Felder war und ist vor allem ein überzeugter Demokrat, der in vorbildlicher, uns alle verpflichtender Weise weit mehr als seine Pflicht getan hat."