Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Industrie- und Handelskammer Stuttgart
"Ein Blickwechsel nach zehn Jahren Einheit" ist das Thema einer Rede, die Bundestagspräsident Wolfgang Thierse heute, 23. November 2000, im Rahmen einer Veranstaltung der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart hält. Die Veranstaltung im Rahmen eine Reihe mit dem Thema "Aufbruch in die Welten von morgen" beginnt um 18 Uhr in der Industrie- und Handelskammer Stuttgart, Jägerstraße 30 (Saal Württemberg). In seiner Rede führt Bundestagspräsident Thierse u.a. aus:
"Wenn ich mir anschaue, welche Unternehmen Mitglied der "IHK Region Stuttgart" sind, dann liest sich diese Liste wie das stolze "Who is who" der Wirtschaft - ich muss wohl dazufügen: der erfolgreichen Wirtschaft: Es sind international agierende Konzerne, bekannte Mittelstandsbetriebe, aber auch kleinere Familienunternehmen von Weltrang.
Nicht wenige dieser Unternehmen sind auf unterschiedliche Weise auch in den neuen Bundesländern präsent: einige mit einem Produktionsstandort, andere mit Handelshäusern und kleineren Verkaufsfilialen.
Die meisten von ihnen haben sich, wie ich vermute, inzwischen ein eigenes Bild vom "Aufbau Ost", von den Erfolgen, Problemen und Niederlagen des Transformationsprozesses gemacht, quasi "vor Ort". Sie haben sich davon überzeugt, dass noch Erhebliches zu tun ist, bis auch Sachsen-Anhalt oder Brandenburg in den erlauchten Kreis der "Geberländer", wie es im Finanzdeutsch so schön heißt, aufgenommen werden können.
Ich wage heute den Versuch, Ihnen aus persönlicher Erfahrung zu schildern, wie sich Ostdeutschland in den vergangenen zehn Jahren entwickelt hat und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Meine persönliche Wahrnehmung der Umgestaltungsprozesse seit dem Mauerfall deckt sich in entscheidenden Punkten mit den Grunderfahrungen vieler Menschen im Osten Deutschlands:
Erstens: die Umgestaltung war radikaler Natur, sie betraf alle, aber auch wirkliche alle Lebensbereiche, und sie vollzog sich in einem atemberaubenden Tempo. Alle Konzepte, die politische, ökonomische und soziale Integration stufenweise über einen längeren Zeitraum durchzusetzen, hatten - wir wissen es heute - keine Chance auf Realisierung. Es waren die Ostdeutschen selbst, die auf eine schnelle Einigung drängten. Der Ruf auf den späten Montagsdemonstrationen "Kommt die D-Mark nicht zu uns, dann gehen wir zu ihr!" ist mir sehr lebhaft in Erinnerung.
Zweitens: die beschriebene Geschwindigkeit und Radikalität des Transformationsprozesses veränderte unmittelbar und tiefgreifend das Leben der Menschen, brachte einen neuen Wind in ihren eingeübten Alltag. Sie mussten sich neu orientieren im Beruf, im sozialen Sicherungssystem, im Rechtssystem, im Bildungssystem, im Markt. Es gibt wohl keine ostdeutsche Biographie, in die sich die deutsche Einheit nicht als Zäsur, als Chance, als Neustart oder auch als Bruch eingeschrieben hat. Transformationsleistungen waren von jedem zu erbringen, und diese Leistungen - das möchte ich in diesem Kreis ausdrücklich hervorheben - verdienen Anerkennung und Respekt.
Dass der Aufbruch von 1989/90 ein Aufbruch nach Westen war, ist nur konsequent. Der Westen war Vorbild und Objekt ostdeutscher Sehnsucht. Wir kannten den dort erreichten Wohlstand, wir kannten die dort herrschenden großen und kleinen Freiheiten. Wie oft hatten in den Jahrzehnten der Teilung sich die allermeisten gewünscht, die zwangsweise erduldete Obrigkeit abwählen, davonjagen zu können. Ersatzweise wanderten alle, die es konnten, Abend für Abend via Fernsehen aus. Vor dem Bildschirm war die Nation vereint.
Und jeder wusste oder ahnte es doch: die westliche Welt birgt Risiken, aber damit würden wir fertig werden. Denn was wiegen die Risiken im Vergleich zu den Chancen?
Es war - seien wir auch im Rückblick ehrlich - 89/90 verpönt, überhaupt über die Risiken zu reden. Die SPD in der DDR hat dies zwei Mal zu spüren bekommen: Bei den Volkskammerwahlen im März und den Bundestagswahlen im Dezember 1990 wurden die Sozialdemokraten für ihr Risikobewusstsein bestraft. Viele Menschen sahen darin einen Mangel an Überzeugung, an Begeisterung für die Einheit, ja einen Mangel an Identifikation mit den Ostdeutschen. Bis heute hofft manch ein Geschichtsverklärer auf Zuwachs an politischem Kapital, wenn er die SPD in die Nähe der Vereinigungsgegner rückt. Ein absurder Gedanke.
10 Jahre deutsche Einheit haben die Bundesrepublik verändert - den Osten wie den Westen. Der erste Staatsvertrag vom Mai 1990 mit seiner währungspolitischen Grundentscheidung gab dem Beitrittsgebiet die Entwicklungsrichtung vor und diese lautete: Angleichung, - Angleichung an die westdeutschen Produktions- und Lebensverhältnisse, Angleichung an die im Westen erprobten Standards in Wirtschaft, Politik, Sozialem, Bildung.
Die 1990 von beiden Parlamenten - dem Deutschen Bundestag und der Volkskammer - souverän getroffene Entscheidung für eine "Wiedervereinigung", ich betone: Wiedervereinigung, versprach nachzuholen, was die Geschichte dem Osten verwehrt hatte. Für "Neuvereinigung" - also für eine gemeinsame Verfassungsgebung, eine Neuordnung der gesamten Republik - gab es ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Mehrheit. Keine Mehrheit zum einen, weil im Westen jene fast vergessene politische Selbstverpflichtung und Solidarität gegenüber dem Osten nur durchsetzbar war, wenn man Kontinuität verhieß. Und keine Mehrheit zum anderen, weil im Osten "Wiedervereinigung" die beste Versicherung gegen die Wiederkehr der gescheiterten Vergangenheit zu sein schien.
Folglich hatten Vorstellungen Konjunktur, die sich aus dem ganzen Reservoir der westdeutschen Vor- und Erfolgsgeschichte speisten - vom "Marshall-Plan" bis zum Glauben an eine Neuauflage des "Wirtschaftswunders" - nun in den sogenannten "neuen" Ländern. Dieses, für viele Bürger und manche Politiker so attraktive Leitbild "Angleichung der Lebensverhältnisse" schien auch zeitlich kalkulierbar, berechenbar zu sein: In zehn Jahren würden wir auf eigenen Füssen stehen. Der Westen hat es uns ja vorgemacht, er hat gezeigt, dass es möglich ist.
Doch die Wirklichkeit, der heutige Stand der Dinge belehren uns eines Schlechteren. Man muss konstatieren: wir haben einen kritischen Punkt der Entwicklung erreicht. Das Konzept der "Wiedervereinigung" forderte auf beiden Seiten einen enormen Preis: im Westen führte es nach einer vorübergehenden Konjunktur zu einem lang anhaltenden Reformstau. Und im Osten führte es - trotz beachtlicher Transferleistungen und Investitionen, trotz einiger Erfolge - nicht zu einer wettbewerbsfähigen ökonomischen Basis, mithin zu einem Verlust von fast 4 Millionen Arbeitsplätzen.
Der Verlust von zwei Dritteln der Industrie und 80 % des industriellen Forschungs- und Entwicklungspotentials in wenigen Jahren stellt die schwerste Katastrophe in der ostdeutschen Wirtschaftsgeschichte dar. Weder der 1. Weltkrieg noch die Weltwirtschaftskrise noch der 2. Weltkrieg haben zu Potentialverlusten derartigen Ausmaßes geführt. Eine der Ursachen besteht in den Schwächen der zentralistischen Planwirtschaft, die in Konfrontation mit dem Weltmarkt offenbar wurden. Sicher. Doch warum ist es in keinem der anderen Ostblockländer zu einer vergleichbaren De-Industrialisierung gekommen? Diese Diskussion steht noch aus. Den zweiten Ursachenkomplex kann ich hier nur stichpunktartig andeuten, nicht vertiefen. Ich denke hier an
- den Crashkurs beim Übergang zur Marktwirtschaft;
- an die schnelle Währungsunion, zu der es zwar keine Alternative gab, die aber dem Prinzip widersprach, dass eine starke Währung eine starke Wirtschaft voraussetzt;
- an den Verlust der Exportmärkte durch die schlagartige Aufwertung der DDR-Mark um 400 %, und ich denke
- an den Einkommenstransfer von West nach Ost, dem ein Vermögenstransfer von Ost nach West zugrunde lag.
Das Leitbild "nachholende Modernisierung" war eine Anpassungsvorgabe, nach der im Osten häufig umstandslos, manchmal geradezu zwanghaft übernommen wurde, was teilweise schon seit zehn Jahren im Westen reformbedürftig ist. Denken Sie etwa an Entwicklungen im Gesundheitswesen oder im Hochschulbereich, wo positive ostdeutsche Erfahrungen neue Lösungen in ganz Deutschland hätten befördern können.
Wenn wir den ökonomischen Kennziffern vertrauen wollen, dann haben wir nun, nach einem Jahrzehnt, die "Zwei-Drittel-Einheit" erreicht. Gemessen am Stand von 1990 wäre also die Hälfte des Weges beschritten. Eine spezielle Ostförderung halten die Wirtschaftsinstitute noch bis ins Jahr 2030 für erforderlich.
Ostdeutschland ist kein Bittsteller, sondern hat einen gesetzlich definierten Anspruch auf gleiche Lebensverhältnisse. Ostdeutschland - ich möchte das hier betonen - nimmt nicht nur Fördermittel, sondern gibt auch zurück: innovative Produkte, bemerkenswerte Wachstumsinseln, Feriengebiete und sogenanntes "kulturelles Kapital". Ostdeutschland zahlt Steuern, einschließlich Solidarbeitrag, und Ostdeutschland ist ein wichtiger Absatzmarkt, über den vieles in den Westen zurückfließt, was dort aufgebracht worden war.
Den Transfers für den "Aufbau Ost" stehen Gewinne von Märkten und Vermögen gegenüber. Die im Osten diagnostizierte "Produktionslücke" in Höhe von jährlich 200 Mrd. DM verweist zugleich auf eine wirtschaftliche Nachfrage, die im Westen schätzungsweise 2 Millionen Arbeitsplätze sichert. Ein Ende der Transfers beträfe folglich Ost und West. Hier, im Osten, stünde auf dem Spiel, was bisher mühsam erreicht wurde, dort, im Westen, gäbe es neue Arbeitslosigkeit, würden die kommunalen Einnahmen sinken.
Die westliche Dominanz im Prozess des Zusammenwachsens war keine Niederlage, die wir uns zuzuschreiben haben, sondern sie war unvermeidlich und alternativlos. Was kann man auch anderes erwarten, wenn ein ökonomisch erfolgreiches und ein gescheitertes System zusammen treffen, als dass das erfolgreiche zunächst dominiert?
Jetzt, nach zehn Jahren staatlicher Einheit, bedarf es wieder neuen politischen Mutes - für einen Blickwechsel, für ein neues, an den Zukunftsproblemen orientiertes Leitbild der ostdeutschen Entwicklung. Dem Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse wird sich die Politik nicht verschließen können, doch es wird künftig nicht mehr ausreichen, in allen Bereichen auf den Import von Weststandards zu setzen, allein in tradierten Modellen eine Erfolgsgarantie zu sehen.
Das in sich vielfältig differenzierte Ostdeutschland muss seinen Platz in Europa finden, seine Ressourcen und Potentiale in dieser Perspektive entwickeln. Zwei Erfahrungsvorsprünge gegenüber dem Westen können die Menschen in den neuen Ländern einbringen und fruchtbar machen: Zum einen ihre Erfahrungen aus dem elfjährigen Umbruch- und Reformprozess in Ostdeutschland, der ja nicht zuletzt auch mentalitätsprägend war, der Aufgeschlossenheit und Flexibilität förderte. Und zum anderen ihre wirtschaftlichen und kulturellen Erfahrungen mit osteuropäischen Partnern, etwa in Polen, Tschechien, der Slowakei, den baltischen Staaten. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen haben das voraus gesehen und ihre traditionsreichen Kontakte in Osteuropa neu begründet und neu gestaltet.
Im Zuge von Globalisierung und europäischer Einigung wird Ostdeutschland, das "Beitrittsgebiet", schon bald aus seiner heutigen Randlage in die Mitte der europäischen Union rücken - es wird eine europäische Verbindungsregion. Daraus folgt nicht, dass Ostdeutschland, das - gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf dem Niveau Kalabriens in Süditalien steht - nun automatisch auf die Gewinnerseite wechselt. Mitnichten. Doch alle Erfahrung lehrt: Offene Märkte sind zunächst eine Chance und nicht, wie viele noch immer glauben, eine Gefahr.
Entsprechende Konsequenzen müssen schon jetzt gezogen werden. Denn nach der Osterweiterung der EU - das liegt doch auf der Hand - wird Ostdeutschland seine Strukturschwäche nicht länger durch Lohnkostenvorteile, die ja abnehmen, kompensieren können. Es wird sich auf eigene, wettbewerbsfähige und kapitalintensive Produktions- und Dienstleistungsbereiche stützen müssen.
Der Weg vom Beitrittsgebiet zur europäischen Verbindungsregion kann nur erfolgreich sein, wenn dafür die materiellen und mentalen Voraussetzungen geschaffen werden. Und das heißt auch, die Regionen für neue, für ausländische Investoren attraktiv zu machen. Mitunter klappt das schon: Das französische Engagement bei Eko in Eisenhüttenstadt und das italienische Engagement im Chemiewerk Zeitz erfolgte jeweils ausdrücklich in Vorbereitung auf die EU-Osterweiterung. Ein an Europa orientiertes Entwicklungskonzept wird also den Fokus auf die Förderung der eigenen regionalen Potentiale und deren Profilierung für eine neue europäische Arbeitsteilung legen. Ich bin sicher: ostdeutsches Know-how für den Weg nach Europa wird weiter nachgefragt und darauf sollten wir vorbereitet sein. Die Politiker ebenso wie Sie, meine Damen und Herren, die Unternehmerinnen und Unternehmer.
Ein neuer, in den traditionellen Industrien zu beobachtender Trend ist die Ausbildung von Wachstumspolen in einzelnen Regionen, etwa zwischen Leipzig und Halle. Diese Wachstumspole werden durch sogenannte industrielle Leuchttürme geprägt, um die herum netzwerkartige Lieferverflechtungen zu Gunsten kleiner und mittlerer Unternehmen entstehen. Beispiele sind das Opelwerk in Eisenach oder das VW-Werk in Mosel/Zwickau mit ihrer jeweiligen Zulieferindustrie. Weil jedoch die Produktionszuwächse auf Basis massiver Rationalisierungen zustande kommen, fällt der Beitrag zur Beschäftigung vergleichsweise gering aus.
Ein bedeutender Teil der so rapide geschrumpften traditionellen Industrie in Ostdeutschland hält sich zudem nur dank des ständig nach fließenden ausländischen Kapitals oder dank staatlicher Zuschüsse. Von einer flächendeckend sich selbst tragenden Industrie kann auch auf mittlere Sicht nicht gesprochen werden.
Die Fragen, die sich mir nun mit Blick auf die neuen Technologien stellen, sind keineswegs rhetorischer Natur, sondern verdanken sich der Suche nach Alternativen und, wenn Sie so wollen, auch der Notwendigkeit, den geforderten Blickwechsel einzuüben: Also: Ist die "New Economy", ist die "erneuerte Ökonomie" eine ernst zu nehmende wirtschaftliche Perspektive für Ostdeutschland, und welche Rolle spielen künftig die traditionellen Industrien? Wie kann, wie muss Politik die neuen Technologien fördern? Und wo sollte staatliche Steuerung ansetzen, um nicht das Primat der Politik aus der Hand zu geben und einem möglichen Abbau der sozialen Marktwirtschaft Tür und Tor zu öffnen?
Einleitend drei allgemeinere Bemerkungen: Erstens: Der Wandel von der Industriegesellschaft zur industriellen Informations- und Wissensgesellschaft bedeutet zunächst einmal Strukturwandel der Ökonomie. Wie die Wirtschaftsgeschichte weiß, verdrängt eine neue Produktionsmethode niemals die alte von heute auf morgen, quasi über Nacht. Die alte und die erneuerte Ökonomie existieren nebeneinander, sind aufeinander angewiesen, durchdringen sich. Von der Zusammenarbeit auf dem elektronischen Markt profitieren beide Seiten. Der häufig beschworene Gegensatz zwischen alter und neuer Ökonomie ist also ein konstruierter Gegensatz - die eine Welt wäre nichts ohne die andere. Gleichwohl steht Politik von vornherein in doppelter Verantwortung: Sie muss diese Verflochtenheit und die Veränderungen in der Arbeitswelt reflektieren und darf nicht einen Sektor zu Gunsten des anderen vernachlässigen.
Zweitens: Der Bundeswirtschaftsminister hat in seinem Wirtschaftsbericht auf die großen Wachstumschancen hingewiesen, die sich durch die Verschmelzung von sogenannter "alter" und erneuerter Ökonomie ergeben: Realistisch sei, dass bis zum Jahr 2010 auf Basis der neuen Informations- und Kommunikationstechniken rund 750.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Es ist also nicht so, dass Arbeit verschwindet, weniger wird: Vielmehr wendet sich die Nachfrage neuen Produkten und Leistungen zu, die an neuen Arbeitsplätzen erbracht werden. Politik hat sich auf diese Entwicklung einzustellen. Wenn die Anforderungen an die menschliche Arbeit steigen, dann muss Beschäftigungspolitik noch stärker als bisher bei der Qualifikation, bei Investitionen in die Vermittelbarkeit ansetzen.
Drittens: In den Berichten über Firmen aus dem New-Economy-Sektor ist immer wieder die Rede davon, dass manche überkommenen Strukturen der Industriekultur notwendig anstehende Innovationen blockieren. Die Akteure der New Economy halten dagegen mit flachen Hierarchien, Teamwork, Internationalität, mit einem hohen Maß an Verantwortung für das Firmenschicksal und mit finanzieller Beteiligung am Erfolg. Sie sind stolz auf das Engagement der Mitarbeiter, die - wie überall zu lesen steht - gerne 60, 70 Stunden die Woche arbeiten, die sich in der Firma "wie zu Hause fühlen", sich mit ihr identifizieren, und die Gehälter beziehen, von denen Facharbeiter und Ingenieure im traditionellen Sektor nur träumen können. Die andere Seite: Betriebsräte gibt es kaum. Deren Aufgaben, so liest man immer wieder, "erledige das Personalmanagement nebenbei gleich mit", und gewerkschaftliche Vertretung benötige - angeblich - niemand. Die "alte Welt" scheint in vielen Berichten über die New Economy, insbesondere aus Perspektive der erfolgreichen "Garagengründer", nicht mehr als ein Störfaktor mit altertümlichen Regelwerken, nicht mehr als ein anachronistischer Urzustand zu sein, der Gottlob bald überwunden ist.
Doch ich frage mich, ob nicht auch künftig die Leitbilder der Demokratie und des modernen Staates - bürgerschaftliches Engagement, gleiche Freiheit, Chancengerechtigkeit, Solidarität - positiv aufzuhebende Schutzgüter sind, die auf längere Sicht zu vernachlässigen - im Überschwange des eigenen Erfolgs, der eigenen Mächtigkeit - irreparable Folgen für die Gesellschaft haben könnte? In dieser Frage sehe ich eine der wohl wichtigsten Herausforderungen, denen sich Politik und Gesellschaft im Zeitalter der New Economy zu stel
len haben. Zu diesem Thema einen gesellschaftlichen Diskurs zu starten, ist längst überfällig!Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Antipode neuen Denkens oder neuer Technologien. Ich plädiere nur dafür, den Wandel in der Arbeitsgesellschaft kritisch zu begleiten und nicht allen Heilsversprechen der Ökonomie, den auf den ersten Blick vielleicht beeindruckenden Zahlen zu verfallen. Politik hat die Aufgabe, normativ für einen sozialen Ausgleich zu sorgen, die Werte der sozialen Marktwirtschaft durchzusetzen. Und da die New Economy international agiert, haben wir uns auch auf EU-Ebene über internationale Regeln der sozialen Marktwirtschaft wie über Möglichkeiten einer internationalen Verhinderung von Wettbewerbsbeschränkungen zu verständigen. In wirtschaftlichen und sozialen Fragen hinkt die "Globalisierung der Politik" der ökonomischen Globalisierung hinterher. Sie werden verstehen, dass ich das bedauere.
"New Economy" ist in Ostdeutschland kein Fremdwort mehr. Legt man die niedrige Basis des Wirtschaftswachstums als Vergleichsmaßstab zugrunde, zählt die relativ große Zahl mittelständischer Unternehmen, in deren Spektrum sich Neugründungen im New-Economy-Bereich konzentrieren, zweifellos zur positiven Bilanz.
Fast jeder, der die wirtschaftliche Entwicklung im Osten beobachtet, kennt beispielsweise die "Intershop Communications". Das "Handelsblatt", "Die Wirtschaftswoche", "Der Spiegel" und diverse Fernsehmagazine haben über dieses "ostdeutsche Wirtschaftswunder" ausführlich berichtet. Früher, zu DDR-Zeiten, hätte man "Intershop" - voller Glück und Pathos - als würdigen "Botschafter unseres " gepriesen. Aber der Vergleich hinkt natürlich: Es gab keinen freien Markt und über das Thema High-Tech in der DDR will ich - hier in Baden-Württemberg - lieber schweigen.
Für erfolgreiche Unternehmensgründungen in den ostdeutschen Ländern stehen neben der "Intershop AG" in Jena (und San Francisco) die "PC-Ware AG" in Leipzig, die "Jenoptik" mit ihren Schwerpunkten optische Systeme und Reinraumtechniken für Chipfabriken, aber auch einige Firmen im Bereich der Biotechnologie. Die Aktien dieser Neugründungen, dieser "blühenden Oasen" in Thüringen und Sachsen, werden wegen ihres Zukunftskapitals an der Börse erfolgreich notiert. Die regionale Spaltung zwischen notierten und nichtnotierten Unternehmen verläuft nicht mehr entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, sondern hat sich in die Nord-Süd-Richtung verlagert: So wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein ist he
ute auch Mecklenburg-Vorpommern aus Perspektive der Börsianer so etwas wie ein "Niemandsland".Dieses Nord-Süd-Gefälle bei der Ansiedlung von Hochtechnologie verweist auf einen banalen Zusammenhang: Die Wirtschaft geht dorthin, wo gute Forschung gemacht wird. Den Baden-Württembergern muss diese Weisheit ja niemand erklären. Ihr Land zeigt ja sehr eindrucksvoll, wie erfolgreich diese Art Symbiose funktioniert.
Wenn wir erst einmal interessante und leistungsfähige Institute haben, dann kommen auch Fachleute und Investoren. Dresden ist ein ganz gutes Beispiel. Dort sind heute fast alle großen Wissenschaftsorganisationen, wie etwa die Max-Planck-Gesellschaft, vertreten. Dann gibt es die Technische Universität und die Fachhochschule. Die Industrie ist gefolgt: AMD und Siemens haben moderne Chipfabriken errichtet, VW ist unterwegs. Und mehr als 400 weitere Firmen - Zulieferbetriebe, Anwender, Ingenieurbüros und Softwarehäuser - haben sich in der Region niedergelassen.
Die politischen Konsequenzen zur Förderung der neuen Ökonomie und damit zur wirtschaftlichen Förderung der neuen Länder liegen auf der Hand:
Erstens: Die Benachteiligung Ostdeutschlands bei der Ausstattung mit Forschungskapazitäten muss abgebaut und die Wissenschaftsstandorte müssen ausgebaut werden. Forschung sollte endlich als Schlüssel-Kategorie beim Aufbau Ost anerkannt werden. Regionale Entwicklung setzt voraus, dass sich vorhandene Potentiale mit Innovationsträgern vernetzen, um auf den Märkten zu bestehen. Regionale Lösungen, allemal in europäischer Perspektive, brauchen wissenschaftlichen Vorlauf und Begleitung.
Zweitens: Notwendig ist eine Wissenschaftspolitik, die der Abwanderung von gut qualifizierten und motivierten Fachleuten Einhalt gebietet und die die Zuwanderung von Spezialisten nach Ostdeutschland fördert. Der Osten blutet wissenschaftlich aus, wenn hochqualifizierte Fachkräfte nicht gleich bezahlt werden wie ihre Kollegen im Westen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Kasparick hat in den letzten zwei Jahren über 120 Wissenschaftseinrichtungen in den neuen Ländern besucht und festgestellt, dass schlechte Bezahlung und ein starres Haushaltsrecht drohen, die Forschungslandschaft in den neuen Ländern in die Mittelmäßigkeit abgleiten zu lassen.
Drittens: Notwendig ist, die demokratische Teilhabe wirklich aller Bevölkerungsschichten an der Wissenstechnologie zu sichern. Auch dies sehe ich als elementare Voraussetzung für die Entstehung ganz neuer wirtschaftlicher Aktivitäten. Dort, wo es nicht gelungen ist, ehemalige industrielle Kerne wiederzubeleben oder umzustrukturieren. lässt sich heute auch nicht mehr an traditionelle Qualifikationen anknüpfen. Es gibt schon eine Reihe sinnvoller Initiativen und Qualifizierungsprogramme seitens Bund und Länder, die im übrigen mit den entsprechenden regionalen Entwicklungskonzepten abgestimmt und wenn möglich vernetzt werden müssen. Es ist noch unendlich viel zu tun: Bisher sind beispielsweise nur ein Viertel aller Schulen mit der notwendigen Technik für den Internetzugang ausgestattet. Das reicht nicht. Wir brauchen ein kulturelles Klima, das den technischen Zugang der Bürger in das weltweite Netz ebenso fördert wie demokratisch geprägte Medienkompetenz.
Viertens: Zur Entwicklung der europäischen Arbeitsteilung und des Ausbaus von Wirtschaftsregionen gehört die Nutzung der vorhandenen Potentiale. In Ostdeutschland beträfe dies etwa die Förderung von Unternehmen im Bereich der Informationstechnologien mit ihrem Standortvorteil eines hochmodernen, dezentral verfügbaren Telekommunikationsnetzes. Intensiver zu fördern wäre auch die Entwicklung von Modellregionen der ökologischen Modernisierung durch dezentrale Energieversorgung. Beides sind Felder, von denen kleine und mittlere Unternehmen profitieren und in denen sie langfristig nutzbares Know-how erwerben können. Zu befördern ist dringend auch der Ausbau von Zentren der Forschung und Lehre, die sich - wie die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder - durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit profilieren.
Fünftens, und hier gehe ich endgültig über den unmittelbaren Bereich der neuen Technologien hinaus, ohne sie jedoch wirklich aus dem Blick zu verlieren: Jede Investition in die Wettbewerbsfähigkeit des Ostens bringt uns auch der Lösung des innerdeutschen Transferproblems näher. Von den derzeit jährlich 140 Mrd. DM Nettotransfer kommen ca. 35 Mrd. DM für Investitionen in Frage. 140 Mrd. DM sind etwa 3,5 % des deutschen BIP, oder das, was durch Wirtschaftswachstum jährlich hinzu kommt. Wenn es zu einem Investitionsschub kommen soll, muss die relative Höhe des Transfers mittelfristig fest geschrieben werden. Nur so kann der festgestellte Nachholbedarf bei der öffentlichen Infrastruktur im nächsten Jahrzehnt überwunden werden, nur so besteht eine Chance auf den Abbau der in den neuen Ländern mehr als doppelt so hohen Arbeitslosenquote. Bund und Länder sollten beim "Solidarpakt II" und beim Länderfinanzausgleich frühzeitig die richtigen Weichen stellen, um den Osten in einer konjunkturellen Aufwärtsphase des Westens nicht zu "verlieren". Baden-Württemberg gehört zu den Geberländern im Finanzausgleich - das spricht für den Erfolg der hier ansässigen und in der IHK vertretenen Unternehmen. Ich möchte dafür werben, dass die Geberländer ihre Mitverantwortung für Ostdeutschland nicht aufkündigen. Der Finanzausgleich ist nicht nur von wirtschaftlicher, sondern auch von psychologischer Bedeutung. Vorschläge, ihn abzuschaffen, sind lebensfremd.
Unser Blick richtet sich nach Europa, er orientiert sich an der Ost-Erweiterung der EU. Die Zusammenarbeit mit unseren künftigen Partnern - soviel ist sicher - wird uns nicht gelingen, wenn wir ihnen mit Überheblichkeit, mit Vorurteilen oder gar mit Hass begegnen. Wir alle sind gefordert, dem Fremdenhass und der Gewalt, aber auch dem Ermöglichen von Fremdenhass und Gewalt aus unserer Mitte heraus aktiv zu begegnen. Die Berliner Demonstration für Toleranz und Menschenwürde am 9. November, an der sich über 200.000 Menschen beteiligten, war ein eindrucksvolles Bekenntnis. Das neue, das europäische Leitbild ist eine erhebliche mentale und kulturelle Herausforderung für alle Ostdeutschen, daran besteht kein Zweifel.
Die Gestaltung der deutschen Einheit ist kein Freizeitpoker, das wussten wir von Anbeginn. Eingebettet in den europäischen Wandlungsprozess ist sie nur als Gemeinschaftswerk der alten und der neuen Länder zu denken.
Ermunternd sind die Zahlen einer Forsa-Studie, nach der die überwältigende Mehrheit junger Menschen in Deutschland die deutsche Einheit gut heißt. Nur jeder zehnte Deutsche im Alter zwischen 14 und 35 Jahren hält die staatliche Vereinigung für einen Fehler. Dennoch meinen 37 Prozent der Ostdeutschen und 26 Prozent der Westdeutschen, Ost und West würden nie richtig zusammen wachsen. Beweisen wir ihnen - gemeinsam und solidarisch - das Gegenteil!"