Pressemitteilung
Datum: 14.07.2001
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
14.07.2001
Bundestagspräsident Thierse würdigt Theodor Heuss als "Vorbild für alle Demokraten"
Sperrfrist: Beginn der Rede
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhält am Samstag, 14. Juli, in Stuttgart den "Theodor-Heuss-Preis" des Jahres 2001. Anlässlich der Verleihung des Preises (Beginn der Veranstaltung: 10.30 Uhr, "Alte Reithalle", Maritim-Hotel) hält der Bundestagspräsident eine Dankesrede und führt dabei aus:
"Der Theodor-Heuss-Stiftung und ihrem Kuratorium danke ich für das Vertrauen, das sie mir mit der Zuerkennung des Theodor-Heuss-Preises entgegen bringen. Mir ist bewusst: Sie nehmen mich mit dieser Ehrung in die Pflicht, Sie verbinden mit dieser Ehrung bestimmte Erwartungen an den Preisträger, an sein politisch-moralisches Handeln.
Dieses Handeln muss sich messen lassen am wirkungsmächtigen politischen Lebenswerk von Theodor Heuss - am Lebenswerk eines Politikers, der mit Leidenschaft für demokratische Ziele und Werte stritt und den antidemokratischen Bestrebungen seiner Zeit das eigene Engagement für die Grund- und Freiheitsrechte, für Menschenwürde, für Toleranz entgegen setzte.
Theodor Heuss war nach 1945 für lernende Demokraten - wie Frau Hamm-Brücher es einmal formulierte - "so etwas wie eine Leitfigur, ein ‚Rocher de Bronze' im aufgewühlten Meer der politischen und menschlichen Katastrophen". Er hat die geistigen Grundlagen unserer Verfassung wesentlich mit geprägt und die parlamentarische Demokratie als Staats- und Lebensform beispielgebend verteidigt. Das Wissen um die Verdienste von Theodor Heuss bei der Ausgestaltung der politischen Kultur in Deutschland nimmt uns nachkommende Demokraten, Politiker wie Bürger, in die Pflicht.
Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, war schon zu Zeiten der Weimarer Republik davon überzeugt, dass die "Demokratie keine Glücksversicherung ist, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung". Dies ist ein Satz, der immer wieder gerne zitiert, doch allzu selten hinterfragt, allzu selten auf seine Tauglichkeit für heute untersucht wird.
Der von Theodor Heuss verwendete Begriff der demokra-tischen Gesinnung klingt im Zeitalter der ethischen Diskurse zunächst ein wenig altmodisch, ein wenig verbraucht, ein wenig nach letztem Jahrhundert. Doch ist er das wirklich? Ist die Rede von "demokratischer Gesinnung" ein alter Hut, ein Verlegenheitswort, ein Unwort gar - wo wir doch mit Max Weber zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu unterscheiden gelernt haben? Welches sind die Gesinnun-gen, die im Verständnis von Theodor Heuss die Demokratie tragen? Und welcher Gesinnungen bedarf die Demokratie heute?
Wer sich mit Theodor Heuss' Verfassungs- und Demokratieverständnis beschäftigt hat, weiß, dass dieses wesentlich gezeichnet war durch bittere geschichtliche Erfahrungen - durch das erlebte Scheitern der Weimarer Republik und durch das Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus. Dieses historische Wissen und das Wissen um die eigene Mitverantwortung für den Lauf der Dinge prägten das politische Ethos des Bundespräsidenten. Ich zitiere aus einer Rede von 1949: "Wir dürfen nicht vergessen, dürfen auch nicht Dinge vergessen, die die Menschen gerne vergessen möchten, weil das so angenehm ist. Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, die Synagogenbrände, die Abtransporte von jüdischen Menschen in die Fremde und das Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen dürfen, weil wir es uns nicht bequem machen dürfen."
Dieses "es sich nicht bequem machen dürfen" galt in besonderem Maße auch für Heuss selbst, daran ließ er keinen Zweifel. Am 23. März 1933 hatte Theodor Heuss als Mitglied des Reichstags jenem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, welches dann Reichstag und Reichsrat von der Gesetzgebung ausschloss und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft erst ermöglichte.
Heuss trug bis zu seinem Lebensende schwer an diesem politischen Irrtum. Dass er ihn später öffentlich und selbstkritisch reflektierte, ihn durch tätige Reue, durch vorbildliches politisches Tun praktisch zu revidieren suchte, fundierte seine Glaubwürdigkeit und Integrität im höchsten Amte unserer Republik. Auch dadurch ist er ein Vorbild für alle Demokraten geworden und geblieben.
Demokratische Gesinnung im Heuss'schen Verständnis setzt auf die Veränderungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft von Menschen. Egal wie wir uns definieren, ob als Demokraten, als Liberale, als Christen: Wir haben nicht das Recht, Menschen dauerhaft auf ihre Vergangenheit zu fixieren, sie in das Gefängnis ihrer Geschichte einzusperren. Ganz im Gegenteil: Wir haben die Pflicht, den Menschen Veränderungen zuzutrauen, ihnen Umkehr und Läuterung zu ermöglichen. Umkehr und Läuterung sind urchristliche Motive, und diese Motive sind, so meine ich, auch in einer Demokratie gut aufgehoben.
Für biographische Wandlungsprozesse haben wir in der Geschichte unserer Demokratie viele Beispiele von Herbert Wehner bis Werner Höfer. Für mich lautet die entscheidende Frage, ob jemand Konsequenzen aus früheren Fehlern gezogen hat und ob er in der Lage ist, sich glaubwürdig für die Demokratie zu engagieren. Dazu gehört dann auch das Bekenntnis zum Rechtsstaat und zur Gewaltfreiheit.
Dass es in der Diskussion um die Wandlungsfähigkeit von Menschen um aktuelle Fragen geht, hat sich gerade erst in der geschichtspolitischen Debatte um den 68er Aufbruch in der alten Bundesrepublik gezeigt. Und es zeigt sich auch heute wieder, wo innerhalb der PDS kontrovers bis unversöhnlich über die historische Verantwortung der Partei und ihrer Mitglieder gestritten wird - über den Mauerbau und seine Folgen.
Wer von der Lernfähigkeit der Demokratie überzeugt ist, sollte auch den Menschen in der Demokratie Lernfähigkeit zugestehen.
Ein System, das auf die bessere Einsicht der Menschen setzt, das seine Gegner und Feinde integrieren kann, ist jedem System unendlich überlegen, das seine Gegner und Feinde verfolgen, inhaftieren, ausbürgern muss, um überhaupt überleben zu können. Diese Offenheit gehört zur Demokratie, sie begründet ihre Attraktivität, stellt aber in Krisenzeiten zugleich auch ihren Angriffspunkt dar.
Und hier ist wieder, durchaus im Heuss'schen Verständnis, über demokratische Gesinnung als reflektierte Handlungsoption zu reden: Demokratie bedarf - und dies ist eine historische Grundeinsicht - der verbreiteten Bereitschaft, sich an den demokratischen Verfahren, am demokratischen Geschehen zu beteiligen, und zwar dauerhaft zu beteiligen, auch im Interesse anderer. Sie bedarf des selbstbestimmten Engagements möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger. Denn diese sind die Akteure der Demokratie. Sie halten deren Lauf, deren Schicksal in ihrer Hand.
(Theodor Heuss hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Demokratie als Lebensform die Demokratie als Staatsform ergänzen müsse. Denn die Weimarer Republik war ja gerade an diesem nichtvermittelten Widerspruch zugrunde gegangen. Der ausgeprägte Mangel an überzeugten, verantwortungsbereiten, couragierten Demokraten wurde ihr zum Verhängnis).
Dass die Demokratie keine "Glücksversicherung", kein Garantieschein, kein Selbstläufer ist, haben wir in den vergangenen zehn Jahren wieder zur Kenntnis nehmen müssen - in bestürzender Weise: Intoleranz, Fremdenhass, Antisemitismus, Rechtsextremismus schlagen sich in brutalen Gewalttaten nieder. Ausländerfeindliche Einstellungen sind heute wieder Teil des Alltagsbewusstseins vieler Menschen. Sie sind kein Randphänomen in unserer Gesellschaft, sondern sie reichen hinein in deren Mitte, werden dort reproduziert.
Wir Parlamentarier, Lehrer, Journalisten, Eltern müssen uns fragen: Was haben wir falsch gemacht bei der Vermittlung demokratischer Werte, demokratischer Gesinnung, was haben wir versäumt, dem Selbstlauf überlassen? Wo wurzeln diese fürchterlichen Defizite in der Wertevermittlung? Und wie können wir diese Defizite beheben?
Eine Selbstvergewisserung über unsere demokratischen Werte findet offenbar bei uns in nicht ausreichender Weise statt. Viel zu lange haben wir übersehen, dass sich die von Theodor Heuss und anderen formulierten demokratischen Grundeinsichten, die 1949 Verfassungsrang erhielten und sich allmählich zum gesellschaftlichen Konsens entwickelten, nicht von alleine in die nächste Generation weiter vermitteln. Auf sie kann nicht immer voraussetzungslos verwiesen werden. Vielmehr müssen sie wieder viel mehr erläutert, begründet und vor allem von uns Älteren vorgelebt werden.
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht unterscheiden zu können, setzt einen Lernprozess voraus. Die Demokratie und die rechtsstaatlichen Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, bedarf der Mitwirkung, des Ausprobierens, der echten Teilhabe an politischen Gestaltungsaufgaben. Dafür müssen wir die Wege ebnen, dafür müssen wir Gelegenheiten schaffen. Und dazu müssen wir vor allem die Jugendlichen immer wieder neu ermutigen - innerhalb wie außerhalb der klassischen Parteienlandschaft, in neuen, unkonventionellen Bündnissen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, vor Ort - in Schulen, Klubs, Initiativen - das Gespräch zu suchen mit jenen Menschen, die sich öffentlich für die Demokratie engagieren, die der schleichenden Verbreitung von Angst entgegen treten, die ihre ausländischen Mitbürger gegen Pöbeleien, gegen drohende psychische und physische Gewalt verteidigen. Wir Politiker müssen diesen demokratisch gesinnten Menschen den Rücken stärken - in der unmittelbaren Begegnung und nicht nur über die Medien. Wir dürfen die Mutigen, die Aufrechten, die Engagierten um keinen Preis alleine lassen.
Die Theodor-Heuss-Stiftung zeigt auf ihre Weise, wie das gehen kann: Ich bin froh und dankbar, dass sie heute neben zwei anderen, sehr würdigen Initiativen dem Wurzener "Netzwerk für Demokratische Kultur" Öffentlichkeit und Anerkennung zuteil werden lässt. Gerade das Wurzener Beispiel zeigt, dass organisierter Widerstand gegen die rechtsextreme Szene möglich, äußerst sinnvoll und Schritt für Schritt auch erfolgreich ist. Wenn Bürger sich zusammentun, können sie Alternativwelten zur etablierten rechtsextremen Szene entwickeln und dafür sorgen, dass die Opfer von Hass und Gewalt nicht alleine bleiben.
Demokratische Gesinnung ist nicht allein in krisenhaften Situationen gefragt, sondern auch im ganz normalen gesellschaftlichen Alltag, im politischen Amt ebenso wie im Ehrenamt. Sie erfordert ein gerütteltes Maß an individueller Enttäuschungsbereitschaft. Wer etwas in Gang setzen, bewegen, verändern will, der muss auch zurückstecken können. Eine ausgeprägte Enttäuschungsbereitschaft, eine hohe Toleranzschwelle sind in der Demokratie Voraussetzung für das Aushandeln von Kompromissen, für die Annäherung unterschiedlicher Interessen. Hölderlin hat das Bild von der "Versöhnung mitten im Streit" geprägt, ein schönes und zugleich anspruchsvolles Bild, denn Streit ist das Wesen von Demokratie.
Demokratie nimmt die Menschen so, wie sie sind. Sie glaubt nicht an deren Unfehlbarkeit, und sie erwartet selten Helden-tum. Die Demokratie geht davon aus, dass auch Politiker Menschen sind in allen Schattierungen. Sie sind keine Heiligen, die nicht hinterfragt, nicht kritisiert werden dürfen. Und weil dem so ist, hat sich die Demokratie Regeln zur Selbstkontrolle geschaffen. Sie verleiht Macht nur auf Zeit. Theodor Heuss sagte sehr treffend: "Demokratie ist Herrschaftsauftrag auf Frist", und er hat die Befristung der eigenen Amtszeit verteidigt gegen die Idee einer Sonder-regelung - extra für ihn. Auch in diesem Verzicht auf Sonderrechte zeigt sich demokratische Gesinnung.
Demokratische Verfahren leben von Einmischung, Beteiligung, öffentlicher Kritik, aber auch von der Optimierung und Veränderung ihrer Instrumente. Derzeit diskutieren wir parteiübergreifend, wie wir die parlamentarische Demokratie vitalisieren können, etwa durch die Einführung von Volksinitiativen, Volksentscheiden, Volksbegehren. Wenn die Bürger mehr Möglichkeiten bekommen, sich auch zwischen den Wahlen einzumischen, sich zu artikulieren, politische Forderungen einzubringen, die Legislative mit politischen Aufträgen zu versehen, kann das für unsere Demokratie, für deren Stabilität und Anziehungskraft, nur von Nutzen sein. Ich hoffe sehr, dass wir auch auf Bundesebene mehr Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung schaffen können!
Zeitgemäße Kompetenzvermittlung, Darstellung und Begründung der demokratischen Werte, Erziehung zu demokratischer Gesinnung durch das eigene politische Verhalten, Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit - das sind Aufgaben, die sich uns - der Politik, der Bildung, den Medien, den Familien - in dieser Bündelung, in dieser Komplexität neu stellen."
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhält am Samstag, 14. Juli, in Stuttgart den "Theodor-Heuss-Preis" des Jahres 2001. Anlässlich der Verleihung des Preises (Beginn der Veranstaltung: 10.30 Uhr, "Alte Reithalle", Maritim-Hotel) hält der Bundestagspräsident eine Dankesrede und führt dabei aus:
"Der Theodor-Heuss-Stiftung und ihrem Kuratorium danke ich für das Vertrauen, das sie mir mit der Zuerkennung des Theodor-Heuss-Preises entgegen bringen. Mir ist bewusst: Sie nehmen mich mit dieser Ehrung in die Pflicht, Sie verbinden mit dieser Ehrung bestimmte Erwartungen an den Preisträger, an sein politisch-moralisches Handeln.
Dieses Handeln muss sich messen lassen am wirkungsmächtigen politischen Lebenswerk von Theodor Heuss - am Lebenswerk eines Politikers, der mit Leidenschaft für demokratische Ziele und Werte stritt und den antidemokratischen Bestrebungen seiner Zeit das eigene Engagement für die Grund- und Freiheitsrechte, für Menschenwürde, für Toleranz entgegen setzte.
Theodor Heuss war nach 1945 für lernende Demokraten - wie Frau Hamm-Brücher es einmal formulierte - "so etwas wie eine Leitfigur, ein ‚Rocher de Bronze' im aufgewühlten Meer der politischen und menschlichen Katastrophen". Er hat die geistigen Grundlagen unserer Verfassung wesentlich mit geprägt und die parlamentarische Demokratie als Staats- und Lebensform beispielgebend verteidigt. Das Wissen um die Verdienste von Theodor Heuss bei der Ausgestaltung der politischen Kultur in Deutschland nimmt uns nachkommende Demokraten, Politiker wie Bürger, in die Pflicht.
Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, war schon zu Zeiten der Weimarer Republik davon überzeugt, dass die "Demokratie keine Glücksversicherung ist, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung". Dies ist ein Satz, der immer wieder gerne zitiert, doch allzu selten hinterfragt, allzu selten auf seine Tauglichkeit für heute untersucht wird.
Der von Theodor Heuss verwendete Begriff der demokra-tischen Gesinnung klingt im Zeitalter der ethischen Diskurse zunächst ein wenig altmodisch, ein wenig verbraucht, ein wenig nach letztem Jahrhundert. Doch ist er das wirklich? Ist die Rede von "demokratischer Gesinnung" ein alter Hut, ein Verlegenheitswort, ein Unwort gar - wo wir doch mit Max Weber zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu unterscheiden gelernt haben? Welches sind die Gesinnun-gen, die im Verständnis von Theodor Heuss die Demokratie tragen? Und welcher Gesinnungen bedarf die Demokratie heute?
Wer sich mit Theodor Heuss' Verfassungs- und Demokratieverständnis beschäftigt hat, weiß, dass dieses wesentlich gezeichnet war durch bittere geschichtliche Erfahrungen - durch das erlebte Scheitern der Weimarer Republik und durch das Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus. Dieses historische Wissen und das Wissen um die eigene Mitverantwortung für den Lauf der Dinge prägten das politische Ethos des Bundespräsidenten. Ich zitiere aus einer Rede von 1949: "Wir dürfen nicht vergessen, dürfen auch nicht Dinge vergessen, die die Menschen gerne vergessen möchten, weil das so angenehm ist. Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, die Synagogenbrände, die Abtransporte von jüdischen Menschen in die Fremde und das Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen dürfen, weil wir es uns nicht bequem machen dürfen."
Dieses "es sich nicht bequem machen dürfen" galt in besonderem Maße auch für Heuss selbst, daran ließ er keinen Zweifel. Am 23. März 1933 hatte Theodor Heuss als Mitglied des Reichstags jenem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, welches dann Reichstag und Reichsrat von der Gesetzgebung ausschloss und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft erst ermöglichte.
Heuss trug bis zu seinem Lebensende schwer an diesem politischen Irrtum. Dass er ihn später öffentlich und selbstkritisch reflektierte, ihn durch tätige Reue, durch vorbildliches politisches Tun praktisch zu revidieren suchte, fundierte seine Glaubwürdigkeit und Integrität im höchsten Amte unserer Republik. Auch dadurch ist er ein Vorbild für alle Demokraten geworden und geblieben.
Demokratische Gesinnung im Heuss'schen Verständnis setzt auf die Veränderungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft von Menschen. Egal wie wir uns definieren, ob als Demokraten, als Liberale, als Christen: Wir haben nicht das Recht, Menschen dauerhaft auf ihre Vergangenheit zu fixieren, sie in das Gefängnis ihrer Geschichte einzusperren. Ganz im Gegenteil: Wir haben die Pflicht, den Menschen Veränderungen zuzutrauen, ihnen Umkehr und Läuterung zu ermöglichen. Umkehr und Läuterung sind urchristliche Motive, und diese Motive sind, so meine ich, auch in einer Demokratie gut aufgehoben.
Für biographische Wandlungsprozesse haben wir in der Geschichte unserer Demokratie viele Beispiele von Herbert Wehner bis Werner Höfer. Für mich lautet die entscheidende Frage, ob jemand Konsequenzen aus früheren Fehlern gezogen hat und ob er in der Lage ist, sich glaubwürdig für die Demokratie zu engagieren. Dazu gehört dann auch das Bekenntnis zum Rechtsstaat und zur Gewaltfreiheit.
Dass es in der Diskussion um die Wandlungsfähigkeit von Menschen um aktuelle Fragen geht, hat sich gerade erst in der geschichtspolitischen Debatte um den 68er Aufbruch in der alten Bundesrepublik gezeigt. Und es zeigt sich auch heute wieder, wo innerhalb der PDS kontrovers bis unversöhnlich über die historische Verantwortung der Partei und ihrer Mitglieder gestritten wird - über den Mauerbau und seine Folgen.
Wer von der Lernfähigkeit der Demokratie überzeugt ist, sollte auch den Menschen in der Demokratie Lernfähigkeit zugestehen.
Ein System, das auf die bessere Einsicht der Menschen setzt, das seine Gegner und Feinde integrieren kann, ist jedem System unendlich überlegen, das seine Gegner und Feinde verfolgen, inhaftieren, ausbürgern muss, um überhaupt überleben zu können. Diese Offenheit gehört zur Demokratie, sie begründet ihre Attraktivität, stellt aber in Krisenzeiten zugleich auch ihren Angriffspunkt dar.
Und hier ist wieder, durchaus im Heuss'schen Verständnis, über demokratische Gesinnung als reflektierte Handlungsoption zu reden: Demokratie bedarf - und dies ist eine historische Grundeinsicht - der verbreiteten Bereitschaft, sich an den demokratischen Verfahren, am demokratischen Geschehen zu beteiligen, und zwar dauerhaft zu beteiligen, auch im Interesse anderer. Sie bedarf des selbstbestimmten Engagements möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger. Denn diese sind die Akteure der Demokratie. Sie halten deren Lauf, deren Schicksal in ihrer Hand.
(Theodor Heuss hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Demokratie als Lebensform die Demokratie als Staatsform ergänzen müsse. Denn die Weimarer Republik war ja gerade an diesem nichtvermittelten Widerspruch zugrunde gegangen. Der ausgeprägte Mangel an überzeugten, verantwortungsbereiten, couragierten Demokraten wurde ihr zum Verhängnis).
Dass die Demokratie keine "Glücksversicherung", kein Garantieschein, kein Selbstläufer ist, haben wir in den vergangenen zehn Jahren wieder zur Kenntnis nehmen müssen - in bestürzender Weise: Intoleranz, Fremdenhass, Antisemitismus, Rechtsextremismus schlagen sich in brutalen Gewalttaten nieder. Ausländerfeindliche Einstellungen sind heute wieder Teil des Alltagsbewusstseins vieler Menschen. Sie sind kein Randphänomen in unserer Gesellschaft, sondern sie reichen hinein in deren Mitte, werden dort reproduziert.
Wir Parlamentarier, Lehrer, Journalisten, Eltern müssen uns fragen: Was haben wir falsch gemacht bei der Vermittlung demokratischer Werte, demokratischer Gesinnung, was haben wir versäumt, dem Selbstlauf überlassen? Wo wurzeln diese fürchterlichen Defizite in der Wertevermittlung? Und wie können wir diese Defizite beheben?
Eine Selbstvergewisserung über unsere demokratischen Werte findet offenbar bei uns in nicht ausreichender Weise statt. Viel zu lange haben wir übersehen, dass sich die von Theodor Heuss und anderen formulierten demokratischen Grundeinsichten, die 1949 Verfassungsrang erhielten und sich allmählich zum gesellschaftlichen Konsens entwickelten, nicht von alleine in die nächste Generation weiter vermitteln. Auf sie kann nicht immer voraussetzungslos verwiesen werden. Vielmehr müssen sie wieder viel mehr erläutert, begründet und vor allem von uns Älteren vorgelebt werden.
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht unterscheiden zu können, setzt einen Lernprozess voraus. Die Demokratie und die rechtsstaatlichen Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, bedarf der Mitwirkung, des Ausprobierens, der echten Teilhabe an politischen Gestaltungsaufgaben. Dafür müssen wir die Wege ebnen, dafür müssen wir Gelegenheiten schaffen. Und dazu müssen wir vor allem die Jugendlichen immer wieder neu ermutigen - innerhalb wie außerhalb der klassischen Parteienlandschaft, in neuen, unkonventionellen Bündnissen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, vor Ort - in Schulen, Klubs, Initiativen - das Gespräch zu suchen mit jenen Menschen, die sich öffentlich für die Demokratie engagieren, die der schleichenden Verbreitung von Angst entgegen treten, die ihre ausländischen Mitbürger gegen Pöbeleien, gegen drohende psychische und physische Gewalt verteidigen. Wir Politiker müssen diesen demokratisch gesinnten Menschen den Rücken stärken - in der unmittelbaren Begegnung und nicht nur über die Medien. Wir dürfen die Mutigen, die Aufrechten, die Engagierten um keinen Preis alleine lassen.
Die Theodor-Heuss-Stiftung zeigt auf ihre Weise, wie das gehen kann: Ich bin froh und dankbar, dass sie heute neben zwei anderen, sehr würdigen Initiativen dem Wurzener "Netzwerk für Demokratische Kultur" Öffentlichkeit und Anerkennung zuteil werden lässt. Gerade das Wurzener Beispiel zeigt, dass organisierter Widerstand gegen die rechtsextreme Szene möglich, äußerst sinnvoll und Schritt für Schritt auch erfolgreich ist. Wenn Bürger sich zusammentun, können sie Alternativwelten zur etablierten rechtsextremen Szene entwickeln und dafür sorgen, dass die Opfer von Hass und Gewalt nicht alleine bleiben.
Demokratische Gesinnung ist nicht allein in krisenhaften Situationen gefragt, sondern auch im ganz normalen gesellschaftlichen Alltag, im politischen Amt ebenso wie im Ehrenamt. Sie erfordert ein gerütteltes Maß an individueller Enttäuschungsbereitschaft. Wer etwas in Gang setzen, bewegen, verändern will, der muss auch zurückstecken können. Eine ausgeprägte Enttäuschungsbereitschaft, eine hohe Toleranzschwelle sind in der Demokratie Voraussetzung für das Aushandeln von Kompromissen, für die Annäherung unterschiedlicher Interessen. Hölderlin hat das Bild von der "Versöhnung mitten im Streit" geprägt, ein schönes und zugleich anspruchsvolles Bild, denn Streit ist das Wesen von Demokratie.
Demokratie nimmt die Menschen so, wie sie sind. Sie glaubt nicht an deren Unfehlbarkeit, und sie erwartet selten Helden-tum. Die Demokratie geht davon aus, dass auch Politiker Menschen sind in allen Schattierungen. Sie sind keine Heiligen, die nicht hinterfragt, nicht kritisiert werden dürfen. Und weil dem so ist, hat sich die Demokratie Regeln zur Selbstkontrolle geschaffen. Sie verleiht Macht nur auf Zeit. Theodor Heuss sagte sehr treffend: "Demokratie ist Herrschaftsauftrag auf Frist", und er hat die Befristung der eigenen Amtszeit verteidigt gegen die Idee einer Sonder-regelung - extra für ihn. Auch in diesem Verzicht auf Sonderrechte zeigt sich demokratische Gesinnung.
Demokratische Verfahren leben von Einmischung, Beteiligung, öffentlicher Kritik, aber auch von der Optimierung und Veränderung ihrer Instrumente. Derzeit diskutieren wir parteiübergreifend, wie wir die parlamentarische Demokratie vitalisieren können, etwa durch die Einführung von Volksinitiativen, Volksentscheiden, Volksbegehren. Wenn die Bürger mehr Möglichkeiten bekommen, sich auch zwischen den Wahlen einzumischen, sich zu artikulieren, politische Forderungen einzubringen, die Legislative mit politischen Aufträgen zu versehen, kann das für unsere Demokratie, für deren Stabilität und Anziehungskraft, nur von Nutzen sein. Ich hoffe sehr, dass wir auch auf Bundesebene mehr Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung schaffen können!
Zeitgemäße Kompetenzvermittlung, Darstellung und Begründung der demokratischen Werte, Erziehung zu demokratischer Gesinnung durch das eigene politische Verhalten, Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit - das sind Aufgaben, die sich uns - der Politik, der Bildung, den Medien, den Familien - in dieser Bündelung, in dieser Komplexität neu stellen."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2001/pz_010714