66. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 22. November 2006
Beginn: 9.02 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich.
Wir setzen die Haushaltsdebatte - Tagesordnungspunkt I - fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2007
(Haushaltsgesetz 2007)
- Drucksachen 16/2300, 16/2302 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010
- Drucksachen 16/2301, 16/2302, 16/3126 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider (Erfurt)
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.8 auf:
Einzelplan 04
Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
- Drucksachen 16/3104, 16/3123 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Petra Merkel (Berlin)
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Alexander Bonde
Anna Lührmann
Zu diesem Einzelplan liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor.
Ich mache schon jetzt darauf aufmerksam, dass wir über den Einzelplan später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
Rainer Brüderle (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist die Bundeskanzlerin auf den Tag genau ein Jahr im Amt.
- Die CDU war selten so anspruchslos wie heute.
Frau Merkel, die FDP hat Ihnen damals zu Ihrer Wahl gratuliert und viel Erfolg gewünscht.
Die Gratulation zum Ende des ersten Regierungsjahres fällt leider zurückhaltender aus. Wenn ich Ihrer Regierung heute noch einmal viel Erfolg wünsche, dann deshalb, weil die Bürger in Deutschland eine gute Politik verdient haben, von guter Politik bisher aber kaum etwas erkennbar ist.
Nach den Aussagen Ihres Regierungssprechers plant die Koalition keine Feierlichkeiten zum Ende des ersten Jahres Schwarz-Rot. Dafür gibt es auch keinen Grund.
Die Deutschen müssen sich von schwarz-roter Politik behandelt fühlen wie der Martini bei James Bond: geschüttelt, nicht gerührt.
- Sie, meine Damen und Herren von der Union, sind nicht in der Kulturszene.
Als Erfolg verkauft die Regierung an erster Stelle den wirtschaftlichen Aufschwung. Wir haben tatsächlich eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Über den Aufschwung und die besseren Konjunkturzahlen freuen wir uns. Der Boom der Weltwirtschaft ist jetzt auf die deutsche Wirtschaft übergesprungen. Der Aufschwung gehört zum Konjunkturzyklus, dem regelmäßigen Auf und Ab des Wirtschaftsgeschehens. Aber der Aufschwung ist weitgehend kein Erfolg dieser Regierung.
Frau Merkel, ich sage gleich zu Beginn meiner Rede, weil ich davon ausgehe, dass Sie unmittelbar auf meine Ausführungen antworten werden:
Diesen Erfolg dürfen sich die Unternehmen in Deutschland, der Mittelstand, die Arbeitnehmer auf die Fahnen schreiben. Sie haben unser Land wieder wettbewerbsfähig und fit für die Weltmärkte gemacht.
Auch moderate Lohnabschlüsse haben dazu beigetragen. Hier gilt es, den Tarifvertragsparteien Dank zu sagen, auch den Gewerkschaften.
Hinzu kommen der Einmaleffekt der Weltmeisterschaft und die vorgezogenen Käufe aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung. Die Weltmeisterschaft hat einen Viertelprozentpunkt Wachstum bewirkt.
Der Wachstumsbeitrag durch die Vorzieheffekte ist nur geliehen. Durch die vorgezogenen Käufe haben Sie in diesem Jahr tatsächlich einen Beitrag zum Wachstum geleistet. Die Menschen wissen, dass im nächsten Jahr die Steuern kräftig erhöht werden, und kaufen deshalb vieles schon in diesem Jahr. Das bewirkt für dieses Jahr einen einmaligen Wachstumseffekt, einen der wenigen, die von dieser Regierung geleistet wurden.
Die Bundesregierung ist weder Vater noch Mutter des Wirtschaftsaufschwungs. Er kommt vom Exportboom, Klinsmann-Effekt und Jahrhundertsommer.
Sie können ja mit der FIFA darüber verhandeln, ob wir vielleicht jedes Jahr eine Weltmeisterschaft in Deutschland durchführen können, um das Wirtschaftswachstum zu verstetigen.
Der Aufschwung verdeckt, was in der bisherigen Regierungszeit von Schwarz-Rot nicht gut gelaufen ist.
Alles andere als gerührt sind die Bürger zum Beispiel von Ihrer Neuauflage des rot-grünen Antidiskriminierungsgesetzes. Damit haben Sie ein Bürokratieaufbauprogramm auf den Weg gebracht.
Zum Gesetz haben Sie, Frau Merkel, im Mai gesagt: ?Ich vertrete das aus vollem Herzen.“ Das ist bemerkenswert. Menschen zu schützen, die es schwerer haben, ist ehrenwert. Das wollen auch wir. Aber dieses Gesetz schadet denen, die es schwerer haben, weil sie erst gar nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Das ist die Folge Ihres Vorgehens.
Vor der Wahl hat die Union gesagt, man solle die EU-Richtlinie maximal eins zu eins umsetzen. Das haben Sie - wie so vieles - nach der Wahl vergessen. Ein bürokratisches Monstrum schützt niemanden. Es schreckt viele ab. Das Gesetz ist gerade einmal seit drei Monaten in Kraft und schon Arbeitsbeschaffungsprogramm für Findige und Anwälte. Auf die Gerichte rollt eine Klagewelle zu.
Beim Bürokratieabbau haben Sie die kleinste Lösung gefunden. Sie haben den Normenkontrollrat geschaffen, aber das Ganze so geregelt, dass er nicht für alle Gesetze zuständig ist. Das, was Schwarz-Rot über das Parlament auf den Weg bringt, muss gar nicht durch den Normenkontrollrat.
Zu Ihrem Konzept ?Mehr Freiheit wagen“: Sie wollen den Haushalt nachhaltig sanieren,
das Steuersystem vereinfachen und die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig machen. Auf diesem Gebiet ist bisher so gut wie nichts geschehen. Herr Kampeter, schämen Sie sich! Sie sind viel zu schlau, um das nicht zu wissen.
Was haben Sie gemacht? Sie haben die größte Steuererhöhung aller Zeiten auf den Weg gebracht. Die Unternehmensteuerreform ist nicht der große Wurf. Dabei wird nichts vereinfacht. Wir befinden uns in einer tollen Situation: Sie machen die Gesetze so kompliziert, dass man jetzt sogar für eine Auskunft vom Finanzamt Geld zahlen muss. Das ist schon eine bemerkenswerte Entwicklung.
Gestern hat der Finanzminister an seine SPD-Fraktion geradezu appelliert, die Unternehmensteuerreform über die Rampe bringen zu helfen. Die SPD hat ja beschlossen, dass es nicht zu nachhaltigen steuerlichen Entlastungen kommen soll. Aber was soll eine Steuerreform bringen, wenn sie die Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger nicht entlastet?
Wir nehmen den Menschen zu viel weg. Das muss sich ändern. Bei diesem Freiheitsthema geht es im Kern um folgende Frage: In welchem Umfang können wir selbst über die Verwendung des Geldes entscheiden, das wir uns hart erarbeitet haben, und in welchem Umfang entscheiden andere an unserer Stelle, weil sie uns für zu doof halten, eigenverantwortlich mit unserem Geld umzugehen?
Zu den Themen Föderalismusreform und Reform der Finanzverfassung kann man nur sagen: Das Kernproblem wurde nicht gelöst.
Allerdings freue ich mich über die Liberalisierung des Ladenschlusses. Dafür haben wir lange kämpfen müssen. Nur in Bayern klappt es nicht. Herr Stoiber, der Schutzpatron aller Leichtmatrosen, hat die Zeit verschlafen. Als im Bayerischen Landtag über dieses Thema abgestimmt wurde, hat ?Wackel-Ede“ die Flucht angetreten, sodass es bei der Abstimmung zu einem Patt kam. Daher findet in Bayern keine Liberalisierung des Ladenschlusses statt. Dort dauert ja alles ein bisschen länger.
Aber bald sind in Bayern Landtagswahlen. Dann wird die Freiheit auch dort mehr Raum bekommen.
Gesundheitsreform: vermurkst. Pflegeversicherung: Fehlanzeige. Auch der Sachverständigenrat hat Ihnen, nachdem er seine wissenschaftliche Arbeit abgeschlossen hatte, ins Stammbuch geschrieben, dass Sie Ihre Chancen vertan haben. Die Bilanz des ersten Jahres Schwarz-Rot lautet: Sie haben Ihre Chancen, angesichts der günstigen Entwicklung der Weltwirtschaft Wachstumspolitik für Deutschland zu betreiben, nicht genutzt. Sie müssen sich leider sagen lassen: Das ist fatal.
Alles in allem muss man feststellen: Das erste Regierungsjahr Ihrer Koalition ist weitgehend ein verlorenes Jahr. Frau Kanzlerin, befreien Sie Ihre Regierung vom Mehltau der unteren Mittelmäßigkeit! No Excellence, Lady Chancellor.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau zwölf Monaten hat die Bundesregierung ihre Arbeit für Deutschland aufgenommen.
In diesen zwölf Monaten sind wichtige Weichenstellungen erfolgt: von der Rente mit 67 bis zum Elterngeld, von der Erarbeitung der Eckpunkte der Unternehmensbesteuerung bis zur Einsetzung des Normenkontrollrats und von der Föderalismusreform bis zum Islamgipfel. Wir haben eine historische Entscheidung zum Einsatz der Bundeswehr im Nahen Osten getroffen. Im Sommer dieses Jahres haben wir in Deutschland eine wunderbare Fußballweltmeisterschaft erlebt, durch die sich das Bild, das die Menschen außerhalb Deutschlands von Deutschland haben, zum Positiven gewandelt hat.
Zwölf Monate sind für die Politik, den Regierungsbetrieb und die Medien eine lange Zeit. Um ein Land auf die Zukunft vorzubereiten, sind zwölf Monate aber eine sehr kurze Zeit. Deshalb gilt der Wählerauftrag von vor einem Jahr unverändert: Es geht für unser Land darum, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es geht darum, bessere Bildung zu ermöglichen. Es geht darum, dass wir unsere Zukunftschancen nicht verbrauchen; wir müssen lernen, weniger Schulden und bald gar keine Schulden mehr zu machen. Es geht darum, das Fundament unseres Wohlstands, die soziale Marktwirtschaft, so zu erneuern, dass wir unseren Wohlstand angesichts der Herausforderungen der Globalisierung halten und weiterentwickeln können.
An diesem Wählerauftrag haben wir uns von Anfang an orientiert. Wir haben eine nüchterne Analyse vorgenommen und uns entschieden, entlang des Dreiklangs von Sanieren, Reformieren und Investieren zu arbeiten. Dieser Dreiklang hat sich als richtig erwiesen.
Wir wussten, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land etwas zumuten müssen. Es ist verständlich, dass manche unserer Maßnahmen nicht auf sofortige Zustimmung stoßen. Aber wir sind uns einig, dass man, wenn man verantwortungsvolle Politik macht, einen Weg gehen muss, der Schwierigkeiten überwindet, statt einen, der ihnen ausweicht. Entscheidend ist, wie wir die Frage beantworten können: Steht Deutschland heute besser da als vor einem Jahr - Ja oder Nein?
Die Fakten besagen Folgendes: Die Wirtschaft wächst so stark wie seit dem Jahr 2000 nicht mehr. Nach einem halben Jahrzehnt ständig steigender Arbeitslosigkeit haben wir in diesem Jahr eine halbe Million Menschen weniger, die auf die Suche nach einem Arbeitsplatz gehen müssen. Seit sechs Jahren werden erstmals wieder sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen, mehr als 250 000. Weil Wirtschaft und Arbeitsmarkt sich erholen, steigen die Steuereinnahmen. Wir haben deshalb beschlossen und beschließen können, die Neuverschuldung weiter zu senken, auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Ich finde, das sind gute Daten und darüber können wir uns freuen.
Dies alles zeigt: Richtige Politik wirkt. Das gilt im Übrigen nicht nur für das letzte Jahr, sondern das gilt immer dann, wenn Schwierigkeiten überwunden und Reformen angepackt werden.
Die Erfolge zeigen ein Zweites: Wenn man überzeugt ist, dass ein Weg unter den gegebenen Umständen der bestmögliche ist, muss man ihn auch durchhalten. Ich erinnere mich an manche Kassandrarufe von vor einem Jahr, was die politischen Maßnahmen, die wir in der Koalitionsvereinbarung formuliert haben, alles bewirken werden. Jetzt gerät mancher Rufer ins Stottern. Der Sachverständigenrat schreibt in seinem Herbstgutachten, insgesamt starte die deutsche Volkswirtschaft mit einer guten Ausgangslage sowie bemerkenswertem Schwung in das neue Jahr. Er schätzt das Wachstum für 2007 auf knapp unter 2 Prozent. Auch aus den Wirtschaftsverbänden heißt es, es seien keinerlei Anzeichen erkennbar, die eine fühlbare Abschwächung des Wachstums erwarten ließen, auch nicht durch die Mehrwertsteuererhöhung; so der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Braun am 17. November. Ähnlich sieht es der Zentralverband des Deutschen Handwerks.
Die Bundesregierung ist bei ihrer Prognose bewusst vorsichtiger als zum Beispiel der Sachverständigenrat. Aber es kann nun wirklich nicht bestritten werden, dass sich unser Land nach Jahren der Stagnation endlich wieder im Aufschwung befindet. Das ist eine gute Nachricht für die Bürgerinnen und Bürger.
Doch die Jahresbilanz weist auch darauf hin, dass es noch sehr viel zu tun gibt. Deshalb werden wir die Hände nicht in den Schoß legen. Der Sanierungskurs hat erst dann sein Ziel erreicht, wenn wir es schaffen, den Haushalt eines Tages wieder ausgeglichen zu gestalten. Viele Arbeitsplätze in Deutschland sind weiterhin von Verlagerung bedroht. BenQ ist leider nur ein Beispiel; für andere gilt Ähnliches. Die Arbeitsplätze in Deutschland müssen langfristig wieder sicherer werden. Und mit 4 Millionen Arbeitslosen können wir uns natürlich nicht zufrieden geben. Die Unternehmen müssen spüren, dass sich Neueinstellungen lohnen; sie müssen noch mehr Mut fassen. Ich möchte an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an den Mittelstand in Deutschland richten. Er ist der Jobmotor in diesem Jahr gewesen. Deshalb ist es wichtig, dass wir gerade den Mittelstand stärken.
Der Aufschwung darf nicht bloß eine kurze Erholungsphase werden, sondern er muss nachhaltig gemacht werden. Dass das eine gewaltige Aufgabe ist, die die Politik nicht alleine schafft, müssen wir immer wieder deutlich machen. Es ist deshalb wichtig, dass wir darüber sprechen, welche Werte, welche Maßstäbe, welche Leitbilder uns lenken und welche Prinzipien wir haben, nach denen wir arbeiten und bei deren Umsetzung wir die Menschen im Lande mitnehmen können. Ich habe vor einem Jahr in meiner Regierungserklärung diese Prinzipien genannt. Ich habe gesagt, es beginnt damit, dass die Politik nachhaltiger und verlässlicher wird. Ich habe gesagt, wir wollen die Leistung der Menschen besser anerkennen. Wir brauchen mehr Herz und Einsatz für die wirklich Schwachen in unserer Gesellschaft. Wir wollen ein starker Partner in der Welt werden, verlässlich in unseren Bündnissen und mit einer wertebezogenen Außen- und Europapolitik. Um all das zu erreichen, müssen wir vor allem eines: mehr Freiheit wagen.
Meine Damen und Herren, schauen wir uns die Dinge doch einmal ganz nüchtern an: mehr Freiheit für mehr Lebenschancen, mehr Freiheit, damit sich Leistung besser lohnt. Genau aus diesem Grunde haben wir die Sanierung des Bundeshaushalts in Angriff genommen. Zukünftige Generationen brauchen wieder mehr Spielraum. In diesem Zusammenhang haben wir natürlich auch Maßnahmen getroffen, die nicht ganz einfach waren.
In diesem Hause wird darüber geredet, was man noch alles hätte sparen können. Die Vorschläge, die sowieso unseriös sind, lege ich einmal beiseite und ich weise darauf hin, dass wir bei den Bundesbeamten, die für den Staat arbeiten, 1 Milliarde Euro einsparen. Sie haben eine 41-Stunden-Woche und ihr Weihnachtsgeld wurde gekürzt. Wir schicken die Soldaten zu schwierigen Einsätzen ins Ausland und müssen sie gleichzeitig um Verständnis dafür bitten, dass das notwendig ist, weil auch das ein Beitrag für ihre Zukunft ist. Das ist nicht ganz einfach und man muss einfach auch einmal würdigen, dass die Menschen das mittragen. Dafür kann man keine Begeisterung erwarten. Sie tun ihren Dienst trotzdem und das ist viel.
In diesem Jahr halten wir den europäischen Stabilitätspakt wieder ein. Ich erinnere mich noch an unsere ersten Gespräche mit der Europäischen Kommission und daran, mit welch sorgenvollem Gesicht man auf Deutschland geschaut hat. Heute ist Deutschland wieder ein Land, das für die Europäische Kommission dafür steht, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt in diesem Jahr und auch in den nächsten Jahren eingehalten werden kann. Das ist ein Riesenerfolg.
Mit dem, was wir erreicht haben, geben wir uns nicht zufrieden. Wir haben den Sachverständigenrat gebeten, zu untersuchen, welche noch wirksameren Schuldenbremsen es für Bund und Länder gibt, damit wir weitermachen und uns unter Druck setzen können, um die Ziele ausgeglichene Haushalte und weniger Verschuldung zu erreichen. Dies wird auch bei der zweiten Stufe der Föderalismusreform eine gewichtige Rolle spielen.
Meine Damen und Herren, mehr Freiheit wagen, heißt natürlich auch, den Menschen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu geben; denn wir alle wissen: Arbeit schafft Selbstvertrauen und soziale Kontakte. Es geht also um Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben.
Wir werden die Lohnzusatzkosten senken.
- Wir werden die Lohnzusatzkosten senken. Selbst dann, wenn Sie die 0,9 Prozent, die der Arbeitsnehmer beim Krankenkassenbeitrag bezahlt, mitrechnen, bedeutet das immer noch eine Reduzierung von 42 Prozent auf ungefähr 40,6 Prozent. Wer das nicht als Senkung erfassen kann, der ist in diesem Hause vielleicht falsch. Es geht runter.
Mit dem Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 4,2 Prozent haben wir den niedrigsten Stand seit 20 Jahren erreicht. Das ist auch ein Erfolg der Bundesagentur für Arbeit. Dass dieser Erfolg eingetreten ist, liegt aber wiederum auch an einer politischen Maßnahme, die von der vergangenen Regierung durchgesetzt und von der CDU/CSU-Opposition unterstützt wurde. Nun können wir uns doch freuen, dass das besser läuft und dass die Menschen durch die Bundesagentur gleichzeitig auch noch bessere Ansprechpartner haben.
Wir haben gesagt, wir wollen zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Das kann die Politik nicht alleine. Mit unserem Investitionsprogramm im Umfang von 25 Milliarden Euro haben wir aber die Weichen in die richtige Richtung gestellt. Dass wir als Bund unseren Beitrag dazu leisten, dass in Zukunft 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden können, und dass wir die Gründerfonds geschaffen und die Exzellenzinitiative durchgesetzt haben, sind ganz wesentliche Beiträge. All dies deutet darauf hin, dass wir nicht wollen, dass die besten Köpfe aus diesem Lande abwandern, sondern dass sie hier eine Chance haben, weil wir hochwertige Arbeit in diesem Lande wollen und brauchen.
Mehr Freiheit heißt für mich auch, dass die Unternehmen Zukunft haben. Wir haben im Kabinett die Eckpunkte für eine Unternehmensteuerreform und die Erbschaftsteuerreform verabschiedet. Für den Mittelstand haben wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen geschnürt: Die Eigenkapitalbildung wird begünstigt und er wird durch weniger Bürokratie dauerhaft entlastet.
- Wir sorgen für weniger Bürokratie: Wir haben ein Mittelstandsentlastungsgesetz und das Infrastrukturbeschleunigungsgesetz beschlossen. Damit haben wir dem Mittelstand Anreize geliefert. Wir haben gleichzeitig die degressive Abschreibung verbessert und wir haben Steuererleichterungen geschaffen.
Wer gestern Abend beim 65. Geburtstag des Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks war, der weiß, dass es bei den Menschen draußen ankommt, egal wie viel hier kritisiert wird. Darüber kann man sich freuen.
Wir werden im nächsten Jahr weitermachen und durch den Normenkontrollrat das Gesetzeswerk auf den Prüfstand stellen, was Kontroll- und Statistikpflichten anbelangt, und in einem Jahr um die gleiche Zeit über die Ergebnisse berichten können.
Mehr Freiheit - das heißt auch starke Regionen in Deutschland.
Deshalb war die Föderalismusreform ein wichtiger Schritt. Diese Regierung hat jetzt zweimal die Kommunen in Deutschland durch die Überweisung von Kosten für die Unterkunft in einem Maße unterstützt, über das man aus Bundessicht auch sagen könnte, wenn es etwas weniger gewesen wäre, wäre es nicht schlimm, damit sie ihre Aufgaben - zum Beispiel Kinderbetreuung auch für unter Dreijährige - erfüllen können.
Dies ist ein Beitrag dazu, dass wir uns zum Subsidiaritätsprinzip bekennen, dass wir sagen: Die kleinen Einheiten sind wichtig da, wo nahe am Menschen entschieden wird. Das ist unser Bild von dieser Gesellschaft und deshalb geht es den Kommunen mit dieser Bundesregierung gut.
Sie müssen nur mal die Oberbürgermeister fragen.
Wenn sie zusammen sind, dann loben sie nie. Wenn Sie sie aber alleine treffen, dann machen sie einen sehr zufriedenen Eindruck. Das alles ist die Wahrheit.
Wir haben auch etwas für diejenigen gemacht, die die freiheitliche Lebensentfaltung brauchen, nämlich für die Familien, in denen Werte vermittelt werden. Ich glaube, dass wir die Tatsache des Elterngeldes gar nicht hoch genug einschätzen können. Das ist ein Wechsel. Ob es ein Paradigmenwechsel oder ein qualitativer Wechsel ist, sei dahingestellt. Es ist ein Wechsel, weil wir die Entscheidung für Kinder in unserer Gesellschaft anerkennen. Ich halte dieses Elterngeld für einen wichtigen Schritt.
Ich habe im vergangenen Jahr gesagt: Wir müssen Leistung anerkennen und mehr Freiheit wagen, damit wir auch den Schwachen in unserer Gesellschaft besser helfen können. Deshalb haben wir natürlich in diesem Jahr eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, mit denen wir gerade denjenigen zu helfen versuchen, die in unserer Gesellschaft Schwierigkeiten haben. Das hat dazu geführt, dass wir Arbeitsmarktinstrumente überprüft haben - ganz im Sinne von Fordern und Fördern - und auch weiter über Anreize nachdenken, wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen; das ist unser Hauptziel. Deshalb reden wir auch über Kombilöhne und Hinzuverdienstmöglichkeiten und werden die notwendigen Entscheidungen am Beginn des nächsten Jahres fällen.
Wir haben die Regelsätze zwischen Ost und West angeglichen - ein Beitrag, der für die neuen Bundesländer sehr wichtig war - und wir haben im Sinne von Fordern und Fördern gesagt: Derjenige, der dreimal ein Arbeitsangebot ablehnt, der hat auch das Anrecht verspielt, von anderen, die für ihre Löhne hart arbeiten, unterhalten zu werden und Transferzahlungen zu bekommen.
Aber diejenigen - das ist mir wichtig -, die keine Möglichkeit haben, Arbeit aufzunehmen, haben es verdient, dass sie weiter entsprechende Fördermaßnahmen bekommen. Wir müssen zwischen denen unterscheiden, die Dinge zu Unrecht in Anspruch nehmen, und denen, die keine Chance haben. Diejenigen, die keine Chance haben, müssen weniger werden in unserer Gesellschaft. Das ist wichtig.
Wir haben in der Bildungsfrage - weil der Bund hier Kompetenzen hat - -
- Frau Künast, ich erinnere an die Diskussion über Art. 91 b. Wir diskutieren gerade über den Hochschulpakt, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Das ist ein Beitrag des Bundes zu Bildungsfragen.
Wir haben einen Pakt für Ausbildung mit der Wirtschaft geschlossen, damit wir uns um Berufsausbildung kümmern können.
Wir haben die Kinderbetreuungsfragen bei den Kosten der Unterkunft mit behandelt. Wir kümmern uns im Rahmen dessen, was in der Kompetenz des Bundes liegt, ganz bewusst um diejenigen, die mehr Bildung brauchen.
Auch die Berufsausbildung ist Bildung. An dieser Stelle tun wir eine ganze Menge.
Ich sage aber auch in allem Ernst: Wir stehen immer wieder vor extrem schwierigen Situationen.
Der Amoklauf in Emsdetten, der ?Fall Kevin“ und der ?Fall Stephanie“ haben uns alle zutiefst bekümmert. Wir alle hier im Hause wissen, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Aber es gibt einen Schutzauftrag und ein Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft. Deshalb sollten wir die Frage, wie wir solche Fälle verhindern, nicht zu einer parteipolitischen Frage machen, sondern uns wirklich redlich mühen, Eltern in ihrer Erziehungskraft zu stärken, den jeweiligen Jugendeinrichtungen die Möglichkeit zu geben, ein Maximum an Hilfe zu leisten, und eine Gesellschaft aufzubauen, in der Zivilcourage herrscht und man nicht sagt: Sobald die Wohnungstür zugeht, geht mich das nichts mehr an. - All das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Daran werden wir noch lange zu arbeiten haben.
Wir müssen durch unsere Politik deutlich machen: Es gibt null Toleranz gegenüber Intoleranz. Ich sage das im Hinblick auf den Linksextremismus und insbesondere im Hinblick auf die gravierend angestiegene Zahl rechtsextremistischer Straftaten. An dieser Stelle müssen wir sehr deutlich machen, dass die demokratischen Kräfte in diesem Lande vereint dagegen stehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten das Bild unseres Landes bestimmen. Hier gehen wir entschieden vor. Das haben wir deutlich gemacht, indem wir Mittel für entsprechende Maßnahmen in den Haushalt eingestellt haben.
Natürlich müssen wir die Kriminalitätsbekämpfung und insbesondere die Terrorismusbekämpfung ständig weiterentwickeln. In diesem Jahr sind dazu wichtige Schritte ermöglicht worden. Ich erinnere nur an die Antiterrordatei, die aus meiner Sicht ein ganz wesentlicher Punkt ist.
Wir haben uns außerdem - das ist aus meiner Sicht ein Meilenstein in der Arbeit der Regierung - dem Thema Integration zugewandt. Wir sind ein Land mit einer scharfen demografischen Veränderung. Wir sind ein Land, in dem wir seit Jahrzehnten zulassen, dass diejenigen, die seit Generationen bei uns leben, nicht die gleichen Chancen haben. Es ist an der Zeit, dass wir den jungen Menschen, die aus Elternhäusern mit Migrationshintergrund kommen, die gleichen Möglichkeiten eröffnen. Das beginnt damit, dass man der deutschen Sprache mächtig ist. Ansonsten haben Kinder in diesem Lande keine Chance. Ich bin froh, dass die Diskussion darüber nicht mehr auf parteipolitischer Ebene geführt wird. Wir wollen miteinander erreichen, dass auch die jungen Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Lande eine Chance haben und sich gut entwickeln. Wenn wir sehen, wie viele keinen Schul- oder Berufsabschluss haben, dann darf uns das nicht ruhen lassen. Deshalb ist der Integrationsgipfel eine solch wichtige Maßnahme.
Jeder kann einmal in eine Situation kommen, in der er auf unsere sozialen Sicherungssysteme angewiesen ist. Deshalb haben wir die Rente auf eine zukunftsfähige Grundlage gestellt und das Programm ?50 plus“ zur Verbesserung der Chancen älterer Menschen auf dem Arbeitsmarkt aufgelegt. Der Bundesarbeitsminister hat dies sehr bewusst getan; denn wir wissen, dass wir das Renteneintrittsalter erhöhen müssen, um jungen Menschen eine Chance zu geben, und gleichzeitig die über 50-Jährigen außerordentlich schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Aber das darf so nicht bleiben. Damit darf sich die Politik nicht abfinden. Deshalb ist die Maßnahme ?50 plus“ genau richtig, um älteren Menschen wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben.
Wir haben eine Gesundheitsreform auf den Weg gebracht.
- Das habe ich mir schon gedacht. Wissen Sie, Gesundheitsreformen waren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland selten von einem großen Lobgesang begleitet. Im Übrigen werden Gesundheitsreformen - das gilt für diese ganz besonders - meist von denen kommentiert, die Leistungen erbringen, und nur selten von den Versicherten selbst. Ich sage Ihnen ganz ausdrücklich: Diese Gesundheitsreform ist eine Reform für die Versicherten und nicht für diejenigen, die die Leistungen erbringen. Deshalb setzen wir uns auch in erster Linie mit den Versicherten auseinander.
Wenn man einen Einblick bekommen will, an welchen Stellen in dieser Republik eine Veränderungsunwilligkeit besteht und an welchen Stellen man an Besitzständen hängt - auch wenn ich nicht alle über einen Kamm scheren will -, muss man Gespräche mit den Fachleuten aus dem Gesundheitsbereich führen. Wir wollen, dass es in Deutschland nicht eine Zweiklassenmedizin gibt, sondern ein Gesundheitssystem für alle Menschen.
Es geht um die Versicherten bei dieser Reform. Deshalb musste die Gesundheitsreform verwirklicht werden.
Wir werden im nächsten Jahr die Reform der Pflegeversicherung in Angriff nehmen; denn wir wissen, dass die Pflegeversicherung genauso reformbedürftig ist wie das Gesundheitswesen. Wir haben aber immer gesagt: Eines folgt auf das andere.
Wir haben in diesem Jahr eine Vielzahl von nationalen Projekten in Angriff genommen. Jeder, der sich anschaut, was auf den Weg gebracht wurde, wird sehen, dass wir dieses Land entschlossen verändern und reformieren und die Bedingungen für die Zukunft nachhaltig verbessern. Allerdings erleben wir täglich, dass es an vielen Stellen nicht mehr ausreicht, im nationalen Rahmen Entscheidungen zum Wohl unseres Landes zu treffen, sondern dass wir dafür Partner brauchen. Deshalb habe ich schon im vorigen Jahr in meiner Regierungserklärung gesagt, dass wir wieder ein starker Partner in Europa und in der Welt werden wollen und können. Deutsche Außen- und Europapolitik gründet sich auf Werte. Sie ist Interessenpolitik. Eine Politik in deutschem Interesse setzt auf Bündnisse und Kooperationen mit unseren Partnern.
Wir haben in diesem Jahr für innenpolitische Vorhaben eine Koalitionsvereinbarung getroffen, die ein Programm vorgibt, das man abarbeiten kann. In der Außenpolitik aber sind wir von Ereignissen überrascht worden, die wir nicht voraussehen konnten. An dieser Stelle möchte ich ein ganz herzliches Dankeschön sagen. Bei all den Maßnahmen, die getroffen werden mussten, obwohl sie nicht in der Koalitionsvereinbarung standen, und bei all den Ereignissen, die uns vor vollkommen neue Herausforderungen gestellt haben, hat es eine vertrauensvolle und intensive Zusammenarbeit innerhalb der Bundesregierung und mit dem Parlament gegeben. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön.
Abzusehen war, dass Europa eine finanzielle Vorausschau braucht. Das haben wir in der Europäischen Union geschafft. Dadurch ist die Europäische Union ein Stück handlungsfähiger geworden. Es war abzusehen, dass wir uns mit dem Nuklearprogramm des Iran befassen müssen. Wir können heute noch nicht sagen, dass dieses Problem gelöst ist. Der Bundesaußenminister und andere müssen weiter daran arbeiten. Es gab darüber hinaus die unerwartete Geiselnahme von zwei sächsischen jungen Männern und wir waren außerordentlich erleichtert, als wir feststellen konnten, dass sie wieder frei waren und nach Hause konnten. Und schließlich haben wir uns für zwei Einsätze entschieden, im Kongo und im Libanon, die nicht vorauszusehen waren. Ich möchte an dieser Stelle zu dem schrecklichen Mord an Herrn Gemayel im Libanon sagen - ich glaube, für Sie alle -: Wir verurteilen diesen Mord. Wir wollen, dass es einen selbstständigen Libanon gibt. Gewalt muss mit aller Kraft unterbunden werden. Dieses war ein feiger Mord, den die Weltgemeinschaft insgesamt verurteilen muss.
Lassen Sie mich stellvertretend für die internationalen Herausforderungen ein Thema nennen, das in den letzten Tagen sehr intensiv diskutiert worden ist - angesichts der Vorbereitung auf den NATO-Gipfel in Riga ist dies nicht unverständlich -, nämlich die Situation in Afghanistan. Wir haben als Bundesregierung ein sehr realistisches Konzept für Afghanistan aufgestellt. Die Bundesregierung hat sich auch in den vergangenen Jahren der Entwicklung Afghanistans in hohem Maße verpflichtet gefühlt. Ich erinnere an den Petersbergprozess, an die Wahlen in Afghanistan und an vieles andere mehr. Nach unserem - ebenfalls sehr realistischen - Bericht über die Lage in Afghanistan mussten wir feststellen, dass wir mehr Zeit für die Entwicklung Afghanistans brauchen, als wir es uns gedacht und gewünscht hätten. Ich sage aber auch: Wir wollen und wir müssen diese Mission in Afghanistan mit unseren Verbündeten zusammen zum Erfolg führen. Wir brauchen mehr Zeit, aber es gibt überhaupt keinen Grund, an dieser Stelle zu verzagen.
Die Frage ist nur: Was brauchen wir? - Wichtig ist, dass wir einen Ansatz haben, der Sicherheit und Wiederaufbau klug und durchdacht miteinander verbindet. Es kann keine rein militärische Lösung geben, aber ohne ein militärisch gesichertes Umfeld kann es auch keinen Aufbau in Afghanistan geben.
Deshalb ist Afghanistan eine politische Aufgabe und das werde ich auf dem NATO-Gipfel auch deutlich machen: Hier kann man keine separaten Diskussionen führen. Es ist eine politische Aufgabe, eine militärische Aufgabe, eine Aufgabe der inneren Sicherheit und eine Aufgabe für unsere Entwicklungspolitik.
Die Bundesregierung hat sehr früh in einem ganz neuen Ansatz die Gemeinsamkeit der betroffenen Ressorts gesehen. Es gibt eine ganz regelmäßige Zusammenarbeit zwischen dem Entwicklungshilfeministerium, dem Innenministerium, dem Verteidigungsministerium und dem Außenministerium. Dieser Ansatz muss weiterentwickelt und zu einem Standardansatz bei all unseren Aktivitäten werden. Sie können heute nicht mehr zwischen den einzelnen Ressorts unterscheiden. Ich bin sehr froh, dass wir das am Beispiel Afghanistan auch praktizieren.
Wir werben für diesen Ansatz - wie ich glaube, erfolgreich. Der auf der Londoner Konferenz zu Afghanistan beschlossene so genannte ?Afghan Compact“ von London folgt ebendiesem Ansatz, dass einzelne Nationen für einzelne Aufgaben zuständig sind, Deutschland zum Beispiel für den Aufbau der Polizei in Afghanistan. Diese Aufgabe als Leitnation nehmen wir sehr ernst. Wir haben bislang dort 17 000 Polizisten ausgebildet und sind militärisch mit circa 2 900 Soldatinnen und Soldaten über Jahre hinweg einer der größten Truppensteller.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass wir unsere Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit noch besser aufeinander abstimmen müssen, auch zwischen den einzelnen Partnern. Wir müssen die Nachbarn des Landes noch stärker in die Verantwortung nehmen. Wir müssen gemeinsam mit den Partnern und Verbündeten natürlich das Nötige tun, um die Sicherheitslage zu verbessern. Es ist richtig: Afghanistan ist der Lackmustest für die Handlungsfähigkeit der NATO. In Riga wird es deshalb darum gehen, das Zusammenwirken ziviler und militärischer Elemente und die Zusammenarbeit zwischen der NATO, den Vereinten Nationen und der EU sowie mit den Nichtregierungsorganisationen zu verbessern.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr erfüllt im Rahmen der ISAF-Mission im Norden des Landes eine wichtige und gefährliche Aufgabe. Wir wollen den Erfolg dieser Mission im Norden auf gar keinen Fall infrage stellen. Deshalb sehe ich niemanden, der ernsthaft die relative Stabilität, die wir im Norden erreicht haben, aufs Spiel setzen möchte.
Immerhin leben in diesem Gebiet circa 40 Prozent der afghanischen Bevölkerung. Die Bundeswehr wird dort auch weiterhin im Rahmen ihres Mandats Verantwortung tragen. Ich sehe aber kein über dieses Mandat hinausgehendes militärisches Engagement. Auch das will ich hier ganz deutlich sagen.
Deshalb gilt für mich für den NATO-Gipfel in Riga: Das Thema Afghanistan ist zu wichtig, als dass wir es zu einer militärischen Nord-Süd-Debatte verkümmern lassen dürfen. In Afghanistan wollen wir als NATO und als Weltgemeinschaft erfolgreich sein. Wir in Deutschland wissen, dass man dafür kämpfen muss, auch militärisch. Aber, meine Damen und Herren, man muss auch kämpfen um die Herzen der Menschen in Afghanistan. Beides gehört für mich zusammen und so werden wir diese Mission verstehen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch ein ganz herzliches Dankeschön an unsere Soldatinnen und Soldaten und an ihre Familien sagen. Sie tun unter schwierigsten Bedingungen ihren Dienst, nicht nur in Afghanistan. Sie haben unsere Unterstützung verdient!
Wir haben beim Thema Sicherheit in diesem Jahr sehr viel über die militärische Sicherung ziviler Prozesse gesprochen. Sicherheit wird in der Zukunft aber auch - das hat dieses Jahr genauso gezeigt - mit Energiepolitik und Energiesicherheit zu tun haben. Die Europäische Union hat darüber eingehend diskutiert. Energiepolitik ist inzwischen zum Teil Energieaußenpolitik: Die Partner fragen, ob man sich aufeinander verlassen kann.
Zwei große Herausforderungen werden uns in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen:
Das eine ist die Frage, wie nicht nur wir, sondern die Welt mit bezahlbarer Energie ausreichend versorgt werden können. Angesichts des Bevölkerungswachstums - die Weltbevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten auf 9 Milliarden Menschen anwachsen -, angesichts der extrem hohen Wachstumsraten vieler Länder, wie China und Indien, angesichts der Tatsache, dass wir den Menschen auf anderen Kontinenten nicht ernsthaft sagen können, dass wir ihre Entwicklung hin zum Wohlstand nicht wollen, wird uns dieses Thema beschäftigen.
Die zweite große Herausforderung - sie hängt mit der Energieversorgung unmittelbar zusammen - ist die Veränderung unseres Klimas. Ich glaube, viele haben die Dimension dieser Herausforderung noch nicht in vollem Umfang verstanden. Die Erwärmung heute liegt bei etwa 0,6 Grad. Wir wissen, dass eine Erwärmung über 2 Grad hinaus nicht stattfinden darf. Viele Prozesse sind allerdings schon unumkehrbar und auch in Deutschland ist die Klimaveränderung spürbar. Nun können Sie sagen: Ob die Eiche in der Uckermark eine Zukunft hat, ist nicht so wichtig. - In Portugal und Spanien aber stellt sich das Ganze schon anders dar, man schaue sich die Wüstenbildung an, und in Afrika wird eine weitere Versteppung Grund für Bürgerkriege und Migration sein.
Europa und auch Deutschland werden hier eine ganz besondere Verantwortung haben. Wir sind uns in der Bundesregierung einig, dass wir Deutschlands langfristige Energieversorgung unter die Lupe nehmen müssen: Wir müssen hier planen und Szenarien erstellen. Wir müssen vor allen Dingen zeigen - ansonsten werden wir auf der Welt keine Chance haben -, dass es uns gelingt, wirtschaftliches Wachstum von den Emissionen von Treibhausgasen zu entkoppeln.
Ein Stück weit haben wir das schon geschafft; aber wir müssen noch mehr tun. Unser Programm zur energetischen Gebäudesanierung ist nicht nur ein Programm zur Belebung der Bauwirtschaft, sondern auch ein Programm zur Sicherung der Zukunft. Ein Hochtechnologiestandort wie Deutschland sollte sich mit dem Thema Energieeffizienz ganz stark identifizieren, um eines Tages sagen zu können: Hier haben wir einen Beitrag für andere geleistet und gleichzeitig einen Exportschlager geschaffen.
Wir haben in der Europäischen Kommission dafür gesorgt - dafür bin ich dem Bundesumweltminister dankbar -, dass es Fonds zur Investitionsförderung für effiziente und erneuerbare Energietechnologien gibt. Durch diesen Fonds können auch in Entwicklungsländern Beiträge geleistet werden. Ich glaube, dass uns die Entwicklung von CO2-freien, erneuerbaren, aber auch anderen Energien in den nächsten Jahren sehr beschäftigen sollte. Heute kommen 19 Prozent aller Umwelttechnologien aus Deutschland. Es können ruhig noch mehr werden. An dieser Stelle können wir zulegen. Ich halte dies für einen wichtigen Punkt.
Meine Damen und Herren, in meiner Regierungserklärung vor einem Jahr habe ich gesagt: ?Verlässlichkeit soll das Markenzeichen dieser Regierung sein.“ Verlässliche Politik ist sicherlich sehr schwierig, weil wir viele Entwicklungen nicht voraussehen können; aber wir müssen uns schon an dem messen lassen, was wir uns vorgenommen haben. Verlässlichkeit bedeutet für mich, dass man nicht alles einfach auf eigene Faust macht, sondern dass man die Menschen für diese Politik gewinnt. Da haben wir noch ein Stück Arbeit vor uns; das will ich ganz klar sagen.
Aber ich möchte auch denen danken, die in diesem Jahr unsere Verbündeten waren. Wir haben einen Energiedialog begonnen, in den sich viele Teilnehmer engagiert einbringen. Wir haben eine Allianz für Familien gegründet, bei der die gesellschaftlichen Verbände intensiv mitmachen. Wir haben eine Initiative ?Erfahrung ist Zukunft“ zur Behandlung von Fragen des demografischen Wandels auf den Weg gebracht. Daran beteiligen sich die Wirtschaft und die Wohlfahrtsverbände intensiv. Ich habe dafür Dank zu sagen, dass die Arbeit dieser Bundesregierung aus den gesellschaftlichen Bereichen unterstützt wird; denn wir können das, was zu tun ist, allein nicht schaffen.
Ich weiß, dass manche immer noch nach dem einen großen, befreienden Sprung suchen, obwohl sie wissen, dass Deutschlands Kraft erst noch wachsen muss. Ich glaube, es ist vielmehr so, dass die Freiheit von unten wachsen muss. Roman Herzog hat es einmal folgendermaßen beschrieben - ich zitiere -:
... den großen Wurf, den unser Volk so gern hat, (gibt es) in dieser Frage nicht ... Notwendig sind Dutzende, vielleicht sogar Hunderte kleiner Schritte, die sich im Laufe der Zeit und bei entsprechender Zielstrebigkeit summieren und auszahlen werden. ... Die Schritte werden aber von Jahr zu Jahr größer werden, und dasselbe wird von den Gestaltungsräumen gelten, die unser politisches System dadurch gewinnt, gerade auch im finanziellen Bereich.
Ich glaube, Roman Herzog hat Recht. Der Aufschwung in diesem Jahr gibt uns Anlass zum Selbstvertrauen, auf unserem Weg weiterzugehen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich bringe Sie nicht in Verlegenheit, indem auch ich Ihnen jetzt Blumen schenke. Es würde Ihnen sicherlich schwer fallen, sich dazu zu verhalten.
Ich finde es ungerecht, dass Sie am Anfang Ihrer Rede nur erwähnt haben, dass Sie ein Jahr im Amt sind; unser Herr Bundestagspräsident ist ja auch ein Jahr im Amt. Wenn schon, dann muss auch ihm gratuliert werden.
- Ich habe das eigentlich in der Hoffnung gesagt, einmal Beifall von der Union zu bekommen; aber das ist mir nicht vergönnt.
Zum einjährigen Jubiläum Ihrer Kanzlerschaft, Frau Merkel, möchte ich zwei würdigende Bemerkungen am Anfang machen:
Erstens. Da Sie sich nicht jeden Tag erklären, müssen Sie sich im Unterschied zu Ihren Vorgängern auch nicht so oft korrigieren. Das finde ich ganz geschickt.
Zweitens. Es gibt eine kleine Gruppe von leicht arroganten CDU-Ministerpräsidenten, die Ihnen das Amt nicht gönnen. Ich finde, diese haben Sie ganz gut im Griff. Das muss man auch einmal sagen.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sind aber auch eine Frau und stammen aus Ostdeutschland. Sie haben das bisher wenig gezeigt und diesbezüglich wenig getan. Es ist ganz typisch, dass in Ihrer Rede nicht ein Wort zur Gleichstellung der Geschlechter gefallen ist und Sie auch gar nichts zur Situation in Ostdeutschland gesagt haben.
- Ja, da haben Sie völlig Recht. Wenn irgendjemand etwas für Gleichstellung in der Gesellschaft getan hat, dann waren es vielleicht die Grünen, die SPD und die Linken, aber ganz bestimmt nicht die Union. Da brauchen wir bloß einen Blick in die Geschichte zu werfen.
Fangen wir mit der Außenpolitik an: Sie, Frau Bundeskanzlerin, sind aus mir unerklärlichen Gründen irgendwie mit Präsident Bush befreundet. Wir können aber feststellen, dass dieser gerade eine Quittung für seine Kriegspolitik bekommen hat. Zwar etwas spät, aber bei den Wahlen zum Senat und zum Repräsentantenhaus hat die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung nun Nein zu seiner Kriegspolitik gesagt.
Sie haben ja am Schluss Ihrer Rede zu Recht auch über Umweltfragen gesprochen. Die USA stürzen uns in eine Klimakatastrophe. Ich möchte gerne wissen, ob Sie ihm das auch so offen sagen bzw. ob die Europäische Union ihm gegenübertritt und sagt, dass es so einfach nicht weitergeht. Die größte Industrienation kann diesbezüglich nicht machen, was sie will, weil sie auf diese Weise die ganze Menschheit in eine Katastrophe stürzt.
Zurück zur Kriegspolitik: Der Irakkrieg ist doch in jeder Hinsicht gescheitert. Es ging um die Sicherung von Erdölvorkommen und um die Bekämpfung des Terrorismus. Wie kann man denn mit der Höchstform des Terrorismus, nämlich mittels Krieg, Terrorismus bekämpfen? Man erreicht so doch nur neue Bereitschaft zu Terrorismus. Das beweist der Irak täglich.
Selbst der Premierminister Großbritanniens, Tony Blair, fängt ja jetzt an, selbstkritische Töne von sich zu geben - leider viel zu spät. Es gab aber auch kluge Politiker auf der Welt, die immer gegen den Irakkrieg waren und immer schon gesagt haben, mittels Krieg lassen sich die Probleme und Konflikte nicht lösen, sondern sie verschärfen sich nur. Der Irak ist das beste Beispiel dafür.
Sie haben auch Afghanistan angesprochen und über die relative Ruhe im Norden berichtet. Was nutzt es denn, wenn in einem Teil eines Landes relative Ruhe herrscht, sich aber im anderen Teil alles verschärft? Zugleich habe ich gehört, dass Sie gesagt haben, Sie wollen die Bundeswehr nicht in den Süden schicken. Wir werden Sie beim Wort nehmen, denn es wäre ein großer Fehler, wenn wir Soldaten auch noch dorthin schickten.
Lassen Sie mich noch ein anderes Thema erwähnen, das in letzter Zeit in Deutschland eine Rolle spielt. 200 000 deutsche Soldaten waren oder sind in Kriegseinsätzen.
- Wie Sie das nennen, Herr Struck, ist mir egal; aber es sind Kriegseinsätze. Wenn Sie einmal nach Afghanistan, in den Irak usw. schauen, sehen Sie, wo auf dieser Welt Kriege stattfinden.
Die Soldaten kommen mit Erlebnissen zurück, und zwar mit Erlebnissen, die sie in Deutschland nicht hätten und nicht haben. Welch eine Verrohung dort stattfindet, haben Sie an den Bildern gesehen, die Soldaten mit Leichenköpfen zeigen. Darauf, dass die Soldaten psychisch verändert nach Deutschland zurückkommen, sind wir überhaupt nicht vorbereitet. Wir haben noch nicht die Erfahrung wie die Sowjetunion mit den Afghanistansoldaten oder die USA mit den Vietnamsoldaten. Aber wir müssen uns darauf vorbereiten. 200 000 Soldaten in solchen Einsätzen verändern eine Gesellschaft und Sie wollen das nicht einmal zur Kenntnis nehmen, geschweige denn Mittel dafür zur Verfügung stellen, um dagegen etwas zu tun.
Sie haben über die Europäische Union gesprochen, Frau Bundeskanzlerin, und auch die Verfassung erwähnt. Ich hätte gerne einmal eine Auskunft von Ihnen: Was streben Sie in Bezug auf die europäische Verfassung an? Sie müssen doch das Nein aus Frankreich und den Niederlanden ernst nehmen. Wenn man das Votum ernst nimmt, kann man doch nicht nur darüber nachdenken, ob man das Ding anders nennt oder ob man einen Satz weglässt, sondern muss eine Verfassung für Europa schaffen, die die Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern akzeptiert. Das wäre ein Gewinn. Nicht gegen die Bevölkerung, sondern mit der Bevölkerung muss eine Verfassung gestaltet werden.
Wir werden dafür konkrete Vorschläge unterbreiten.
Dabei geht es um Freiheitsrechte, aber auch um Sozialrechte; denn die Menschen in Europa sind heute in großem Maße sozial verunsichert. Sie wollen kein Europa, das so organisiert ist, dass sich mit jedem Beitritt die soziale Frage neu stellt, und zwar in dem Sinne, dass alles nach unten geht. So erreicht man keine Begeisterung für Europa; wohl aber erreichen die Rechtsextremen eine Begeisterung für den früheren Nationalstaat.
Das erleben wir doch auch in Deutschland. Wenn wir hier alle die europäische Integration wollen - das ist ja ein Vorteil dieses Parlaments, dass wir sie alle wollen -, dann müssen wir auch etwas dafür tun, dass die europäische Integration wesentlich mehr Akzeptanz in den Bevölkerungen findet. Dann können wir nicht über die Bevölkerungen hinweggehen, sondern müssen die Verfassung mit ihnen zusammen gestalten.
Bund, Länder und Kommunen haben Aufgaben, auch in Deutschland, und die Kassen sind ziemlich leer. Das hat Folgen. Wenn wir nicht nur das letzte Jahr, sondern mehrere zurückliegende Jahre betrachten, können wir feststellen, dass die Ausgaben für Bildung und Kultur, für Wissenschaft und Forschung sowie für Investitionen in Infrastruktur gesunken sind.
Das gilt auch für die Justiz. Das, was wir jetzt in Siegburg erlebt haben, ist natürlich ein Ausdruck dessen, dass es zu wenig qualifiziertes Personal gibt. Anders ist es doch nicht denkbar, dass dort jemand 20 Stunden gefoltert wird und niemand das merkt! Das sind Strukturschwächen, die wir uns nicht leisten können.
Hinzu kommt, dass wir die Justiz jetzt den Ländern übergeben. Das heißt, die Länder entscheiden je nach Kassenlage, wie viel Geld sie für eine Justizvollzugsanstalt zur Verfügung stellen.
Mir wird schon jetzt ganz schlecht, wenn ich darüber nachdenke, wie das dann in den ärmeren Bundesländern aussehen wird.
Also brauchen wir hier eine andere Herangehensweise.
Sie haben festgestellt, Frau Bundeskanzlerin, Deutschland stehe besser da. Dann müssen wir einmal definieren: Wer ist Deutschland? Fragen Sie doch einmal einen Langzeitarbeitslosen, ob er empfindet, dass er besser dasteht. Fragen Sie einmal einen Jugendlichen, der keinen Ausbildungsplatz bekommt, ob er findet, dass er besser dasteht. Verstehen Sie: Man muss das immer konkret untersuchen. Ich weiß, es geht Leuten besser: den Reichen und den Besserverdienenden; das ist wahr.
Aber den Arbeitslosen geht es nicht besser und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch nicht.
- Ich werde Ihnen gleich belegen, dass ich Recht habe.
Sie haben dafür gesorgt, dass die Kassen im Bund, in den Ländern und in den Kommunen leer sind, indem Sie die Steuereinnahmen immer weiter gesenkt haben. Sie können doch eine Tatsache nicht bestreiten: Deutschland hat bei den Steuereinnahmen den vorletzten Platz in der Europäischen Union; nur die Slowakei hat noch geringere Steuereinnahmen als Deutschland. Es ist für ein wirtschaftlich starkes Land geradezu blamabel, was wir uns hier leisten.
Die durchschnittliche Quote der Steuern und Abgaben, also der berühmten so genannten Lohnnebenkosten, der Sozialabgaben der Unternehmen, beträgt EU-weit 40 Prozent und in Deutschland 35 Prozent. Selbst dort sind wir unterdurchschnittlich. Auch das muss man sagen.
Nun können Steuern sehr verschieden sein. Wir reden zwar immer allgemein über Steuern. Aber es gibt beispielsweise einen Unterschied zwischen Unternehmensteuern und Mehrwertsteuer. Es ist spannend, sich einmal die Anteile der einzelnen Steuerarten anzuschauen. Die Einkommen- und Unternehmensteuern machen in Deutschland einen Anteil von 9,5 Prozent aus.
Das müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen; alles andere bezahlen sie. Im EU-Durchschnitt liegt der Anteil bei 13,4 Prozent und in Dänemark bei 29,5 Prozent. Vor Schröder lag der Anteil in Deutschland übrigens bei 11,2 Prozent. Jetzt liegt er, wie gesagt, bei 9,5 Prozent. Das ist die Wahrheit.
Professor Jarass hat errechnet, dass durch die Steuerreform von SPD und Grünen seit 2001 jährlich 21 Milliarden Euro weniger eingenommen werden.
Jetzt setzt die neue Regierung das Ganze verschärft fort. Ich sage deshalb ?verschärft“, weil Sie ab dem Jahr 2007 durch die zusätzlichen Belastungen wie Erhöhung der Mehrwertsteuer, Reduzierung der Pendlerpauschale und Halbierung des Sparerfreibetrags sowie durch die anstehenden Erhöhungen der Renten- und Krankenversicherungsbeiträge die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen mit 30 Milliarden Euro jährlich belasten werden. Trotz steigender Steuereinnahmen und eines Überschusses der Bundesagentur für Arbeit bitten Sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeitslose weiter zur Kasse und belasten sie im nächsten Jahr mit 30 Milliarden Euro. Das ist nicht hinnehmbar. Trotzdem machen Sie es.
Ich spreche also deswegen davon, dass Sie die Politik der vorherigen Regierung verschärft fortsetzen, weil es noch unsozialer wird, indem Sie Konzernen und den Reichen in unserer Gesellschaft noch mehr Geschenke machen.
Gleichzeitig planen Sie eine Unternehmensteuerreform - dass so etwas immer gleichzeitig geschieht, ist auffällig -, wonach Sie ab dem Jahr 2008 jährlich 30 Milliarden Euro brutto weniger einnehmen. Netto macht dies 10 Milliarden Euro aus.
Das haben Gewerkschaften und viele andere errechnet. Der Bundesfinanzminister spricht von 5 Milliarden Euro und andere, die es genauer gerechnet haben, sprechen, wie gesagt, von 10 Milliarden Euro.
Wir sollten jetzt keinen Streit um die genaue Zahl führen.
21 Milliarden Euro Steuererleichterungen gab es durch die Reformen von SPD und Grünen und jetzt kommen noch einmal 10 Milliarden Euro durch die Reformen der großen Koalition hinzu. Das macht zusammen etwas über 30 Milliarden Euro. Das heißt, die Konzerne - die Unternehmensteuerreform wird sich überwiegend zugunsten der Konzerne und viel weniger zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen auswirken - bekommen, wenn man die Effekte der Steuerreformen der Regierung Schröder und Ihrer Regierung, Frau Merkel, zusammen nimmt, zusätzlich 30 Milliarden Euro. Aber die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen müssen letztlich auf diese 30 Milliarden Euro verzichten. Das ist eine direkte Umverteilung von unten nach oben, wie es sie so in der Geschichte kaum gegeben hat.
Die Mehreinnahmen werden viel zu wenig für Wissenschaft, Forschung, Bildung und Kultur genutzt. Ich muss es immer wieder sagen: Deutschland hat bekanntlich kaum Erdöl- und Goldvorkommen. Wir können hier keine Wirtschaftspolitik wie Bahrain machen. Wir müssen auf andere Dinge setzen. Die Stärke Deutschlands bestand immer darin, eine sehr gut ausgebildete Bevölkerung zu haben. Auch wenn Sie es nicht gerne hören wollen, sage ich Ihnen: Die DDR hat ihre Jugendlichen gut ausgebildet und die Bundesrepublik hat ihre Jugendlichen gut ausgebildet. Jetzt sind wir vereint und packen es nicht mehr. Wir sind unterdurchschnittlich geworden in Europa. Das ist einfach nicht hinnehmbar.
Die Bildung ist doch unserer eigentliche Stärke.
Die Steuereinnahmen des Bundes steigen um 12 Milliarden Euro. Es gibt einen Überschuss bei der Bundesagentur für Arbeit. Wenn wir die Mehreinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen zusammen nehmen, haben wir sogar ein Plus von 33 Milliarden Euro. Erklären Sie doch einmal einem Pendler, warum er angesichts eines flexiblen Arbeitsmarkts weniger Pendlerpauschale bekommt, obwohl der Staat 12 Milliarden Euro mehr einnimmt.
Das ist einfach grob ungerecht. Gerade Sie von der Union plädieren jeden Tag für einen flexiblen Arbeitsmarkt, indem Sie sagen: Man muss sich damit abfinden, dass man beispielsweise in Hessen ausgebildet wird, in Nordrhein-Westfalen einen Job bekommt und fünf Jahre später nach Thüringen wechselt. Die Menschen müssen also immer größere Entfernungen in Kauf nehmen. Trotzdem kürzen Sie die Pendlerpauschale. Das ist die Realität.
Sie sagen dann, die Leute sollten mehr Kinder kriegen. Aber gleichzeitig gibt es 16 verschiedene Bildungssysteme. Die Menschen wären also total verantwortungslos, wenn sie mit schulpflichtigen Kindern zweimal in ein anderes Bundesland ziehen würden.
Ihre Politik hat eben keine Logik. Auch konservative Politik muss doch zumindest eine Logik haben; aber diese ist nicht zu erkennen.
Die Körperschaftsteuer möchte ich gesondert erwähnen. Sie ist eine typische Steuer für Kapitalgesellschaften und hat mit den Inhaberunternehmen gar nichts zu tun. Sie betrug in Deutschland unter Helmut Kohl - daran darf ich die Union erinnern - 45 Prozent. Dann hat Herr Schröder sie auf 25 Prozent gesenkt. Nun will die große Koalition sie auf 15 Prozent senken. Ich sage dazu nur eines - damit wir uns das hübsch merken -: In den USA beträgt die Körperschaftsteuer 35 Prozent, in Frankreich 33 Prozent und in Großbritannien 30 Prozent.
Also steht eines fest: Wir machen den anderen Ländern Konkurrenz und nicht die anderen Länder uns. Wir üben Druck aus, sodass die anderen Länder ihre Körperschaftsteuer senken müssen, damit es auch dort noch sozial ungerechter zugeht. Was Sie hier leisten, ist einfach nicht hinnehmbar.
Was machen die Konzerne? Sie halten Pressekonferenzen ab und verhöhnen die Politik. Vertreter der Deutschen Bank, der Allianz usw. sagen: Wunderbar, wir bedanken uns. Wir haben im letzten Jahr den größten Gewinn in unserer Geschichte gemacht. Dafür entlassen wir 8 000 oder 10 000 Leute. Jetzt können wir es uns ja leisten, Abfindungen zu zahlen. Dann sind wir sie los. - Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Es gibt, wie wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, nicht mehr Arbeitsplätze, sondern weniger.
Jetzt komme ich auf die Zahl der Arbeitslosen zu sprechen. Sie ist zurückgegangen. Das haben Sie erwähnt; das hätte ich an Ihrer Stelle auch getan; das ist normal. Aber ich weise auf zwei Dinge hin: Auf der einen Seite hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen - das haben Sie nicht erwähnt - in derselben Zeit um 55 000 erhöht. Sie haben auch nicht erwähnt, dass die Zahl der 1-Euro-Jobber zugenommen hat. Diese zählen ja nicht als Arbeitslose in der Statistik; das muss man hinzufügen. Sie haben auch nicht erwähnt, dass es noch mehr geringfügig Beschäftigte gibt. Es sind inzwischen fast 5 Millionen. Das sind doch fast Arbeitslose. Wenn man das alles mitberücksichtigt, dann sieht man, dass die Arbeitslosenzahl ganz anders ausschaut.
Sie haben auch nicht erwähnt, wie hoch die Arbeitslosigkeit im Osten ist und welche Probleme wir hier haben. Auf der anderen Seite gibt es eine Zahl, die unwiderlegbar ist. Im Vergleich zu 2002 gibt es 1 Million Menschen weniger in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das ist ein Abbau, an dem noch nichts korrigiert worden ist, weil es dafür keine Politik gibt.
Noch eine Bemerkung zu den Arbeitslosen. Jetzt gibt es ja einen Vorschlag von Herrn Rüttgers. Es ist wirklich spannend, dass ein CDU-Ministerpräsident vorschlägt, dass ältere Arbeitslose länger Arbeitslosengeld I bekommen sollen. Spannend ist erst einmal der Vorschlag an sich. Dann schreit aber der SPD-Vorsitzende gleich: Kommt gar nicht infrage! Jetzt rufen auch die CDU und viele Ministerpräsidenten: Kommt gar nicht infrage! Das alles ist absurd. Ich hätte mir vorgestellt, dass alle sagen: Das ist eine völlig vernünftige Idee. Jetzt müssen wir uns nur über das Wie unterhalten.
Was Herr Rüttgers vorschlägt, ist allerdings abenteuerlich. Zum einen sagt er, ein längeres Arbeitslosengeld solle man erst nach 40 Versicherungsjahren bekommen. Ich bitte Sie: 40 ununterbrochene Versicherungsjahre! Diese Hand voll Leute, auf die das zutreffen würde, kann er alleine bezahlen; das ist nicht das Problem. Ein Problem besteht bei denjenigen, die nach 30 oder 35 Jahren arbeitslos werden. - Aber das ist nur ein Problem.
Zum anderen sagt er nämlich, den längeren Bezug sollten andere Arbeitslose bezahlen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist völlig indiskutabel.
Bei dem derzeitigen Überschuss bei der Bundesagentur für Arbeit - zudem gibt es höhere Steuereinnahmen - muss man dieses Geld nutzen, um zu sagen: Wir zahlen länger Arbeitslosengeld I an Arbeitslose, die lange in die Versicherung eingezahlt haben. Aber dazu ist Rüttgers nicht bereit. Er kommt wirklich nur auf die Idee, zu sagen: Andere Arbeitslose sollen das bezahlen.
Dieser Vorschlag hat überhaupt nichts mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Nur die Idee ist richtig, nämlich dass diejenigen, die länger eingezahlt haben, auch länger Arbeitslosengeld I beziehen müssen. Dafür streiten wir. Deshalb sagen wir noch einmal: Hartz IV muss weg; denn Hartz IV ist Armut per Gesetz.
Das werden Sie immer wieder hören.
60 Prozent der Betroffenen - das hat die Statistik jetzt erwiesen - geht es schlechter als vorher. 40 Prozent der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger geht es gleich, im Einzelfall auch einmal besser; dagegen sagt keiner etwas. Aber gegen die Schlechterstellung der 60 Prozent sagen wir eine Menge.
Frau Bundeskanzlerin, wenn wir Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, dann müssen wir neue Debatten führen. Wir brauchen eine gerechtere Verteilung der Arbeit. Wir müssen wieder über Arbeitszeitverkürzung nachdenken. Wir brauchen einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Es gibt doch nicht zu wenig Arbeit; es gibt nur zu wenig bezahlte Arbeit. Wir sollten einmal darüber nachdenken, ob wir vielleicht die Hausfrauen- oder Hausmännertätigkeit und die Betreuung von Kindern nicht anders in unser Bewusstsein aufnehmen, in der Form, dass das eine wirklich notwendige Tätigkeit ist.
Wir müssen über vieles nachdenken, wenn wir die Arbeitslosigkeit überwinden wollen.
In den Bereichen, in denen es keinen privaten Gewinn zu erwirtschaften gibt, müssen wir Arbeit schaffen. Das habe ich schon einmal gesagt. Wir dürfen dabei nicht den öffentlichen Dienst ausweiten, sondern wir müssen eine öffentlich geförderte Wirtschaft aufbauen. Als Beispiel nenne ich den Förderunterricht für besonders begabte Kinder oder für Kinder, denen es in der Schule besonders schwer fällt. Das sind Bereiche, die sich für private Anbieter nicht lohnen, hier entstehen Arbeitsplätze nicht von selbst. Hier muss die Politik aktiv werden und Arbeitsplätze schaffen.
Ich möchte eine weitere Bemerkung zur Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft machen. Seit 2001 speist sich die Steigerung des Volkseinkommens zu 85 Prozent - Herr Westerwelle, merken Sie sich das bitte - aus der Steigerung der Unternehmens- und Vermögenseinkommen und nur zu 15 Prozent aus der Steigerung des Einkommens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist eine Riesenungerechtigkeit; denn die Zahl der einen ist viel geringer als die Zahl der anderen. Die einen bekommen jedoch 85 Prozent, die anderen nur 15 Prozent. Zwischen 2004 und 2005 sind die Löhne und Gehälter erstmals um 6 Milliarden Euro gesunken. Einen solchen Rückgang hat es bis dahin noch nie gegeben. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen sind im gleichen Zeitraum um 22 Milliarden Euro gestiegen. Ungerechter kann es überhaupt nicht zugehen!
Wenn Sie gegen diese Ungerechtigkeit nichts unternehmen, dann werden Sie niemals als sozial gelten, und zwar zu Recht.
Nun haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, den Ansatz Ihrer Gesundheitsreform beschrieben.
- Auch die Gewerkschaften haben ein paar Fehler gemacht, aber die offizielle Politik Ihrer Regierung hieß immer: Lohnsenkung, Lohnsenkung, Lohnsenkung. Das sei die einzige Chance, um wirtschaftlich stärker zu werden. Sie sind für den jetzigen Zeitgeist verantwortlich.
Meine Redezeit ist begrenzt, deshalb kann ich nicht viel zu Ihrer Gesundheitsreform sagen.
- Ich wusste, dass ich es schaffen würde, einmal Beifall von der CDU/CSU zu erhalten, und bin dankbar. Ich habe das gern.
Zur Gesundheitsreform sage ich Ihnen: Das ist ein Gemurkse, daraus wird nichts mehr. Es ist doch klar: Sie wollten die Kopfpauschale, die anderen eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Dazwischen ist kein Kompromiss möglich. Es wäre besser gewesen, Sie hätten es bleiben lassen, weil es gemeinsam nicht zu packen ist.
Sie sagen, Sie machen eine Reform für die Versicherten. Darüber kann man nur lachen, Frau Bundeskanzlerin.
Die Versicherten werden schon im nächsten Jahr höhere Beiträge bezahlen. Wenn erst einmal der komische Fonds gebildet ist, gibt es nur noch eine Richtung: Der Beitragsanteil der Unternehmen darf nicht erhöht werden, aber die Versicherungen dürfen sich weiterhin an die Versicherten halten und deren Beiträge erhöhen. Was soll denn dabei für die Versicherten herausspringen? Entweder müssen sie mehr bezahlen oder sie erhalten weniger Leistungen oder beides.
Außer der Pharmaindustrie gibt es niemanden, der Ihrer Gesundheitsreform zustimmt. Doch auch die Pharmaindustrie lobt Ihre Reform nicht, sondern schweigt nur dazu. Über diese Tatsache sollten Sie auch einmal nachdenken; denn wenn die Pharmaindustrie meckern würde, dann wäre, so meine ich, an Ihrer Reform etwas dran.
Wir haben in letzter Zeit in Deutschland sehr viel über die Armutsschicht, die Unterschicht genannt wird, diskutiert. Es stimmt, es gibt diese Schicht und sie wächst. Diese Schicht wählt zu einem kleinen Teil noch die SPD, zu einem bestimmten Teil meine Partei, aber zu einem größer werdenden Teil die NPD. Das muss uns ernsthaft Sorgen machen. Das heißt nämlich, diese Menschen fühlen sich ausgegrenzt. Sie haben keine Beziehungen mehr zu unserer Demokratie und glauben nicht daran, dass wir, und zwar wir alle, ihre Probleme lösen können. Viele dieser Menschen wählen natürlich gar nicht, auch das weiß ich. Dies ist für eine Gesellschaft ein sehr gefährlicher Vorgang.
Frau Bundeskanzlerin, ich habe von Ihnen nichts dazu gehört, welche Maßnahmen Sie ergreifen wollen, um die so genannte Unterschicht, die Armutsschicht, Schritt für Schritt zu überwinden, damit es in Deutschland keine Armut mehr gibt. Die Überwindung der Armut müsste Ihr Ziel als Bundeskanzlerin sein.
Ich sage Ihnen voraus, was passieren wird: Der Unterschicht können Sie eines Tages nichts mehr nehmen, weil sie nichts mehr hat. An die Reichen und die Vermögenden trauen Sie sich nicht heran. Die Steuerreform wird wieder nur die Großaktionäre reicher machen.
Das ist alles, was dabei herauskommen wird. Vielleicht wollen Sie an die Reichen auch nicht heran. Sie werden sich also an die Mittelschicht halten,
Sie werden die Normalverdiener immer schlechter stellen. Wenn Sie aber die Mittelschicht einer Gesellschaft schrittweise zerstören
- das passiert -, gibt es zwischen oben und unten keine Kommunikation mehr.
Die Mittelschicht kann nach unten und nach oben kommunizieren. Sie hat Illusionen, wie sie selber nach oben kommt, und Angst davor, nach unten zu kommen. Das alles macht sie für bestimmte Fragen sehr sensibel. Ich sage Ihnen als Linker, dass es falsch ist, die Mittelschicht der Gesellschaft zu zerstören, weil das die Kommunikation innerhalb der Gesellschaft zerstört.
Lassen Sie mich noch etwas zum Osten sagen.
Wir haben keine Vereinigungspolitik. Wir hatten nur eine Einheitspolitik. Niemand hat etwas dafür getan, dass sich Strukturen im Westen etwa durch die Übernahme von 5 Prozent der Oststrukturen verändern. Das wurde immer arrogant abgetan. Es hätte jedoch etwa bei Kindertagesstätteneinrichtungen Sinn gemacht. Es hätte Sinn gemacht, an Schulen eine stellvertretende Direktorin oder einen stellvertretenden Direktor für außerunterrichtliche Tätigkeiten zu haben. Es hätte Sinn gehabt, sich vielleicht die Strukturen der Polikliniken anzusehen und darüber nachzudenken, ob man sie im Westen einführt. Ich sage Ihnen auch, warum: Damit die Frau und der Mann in Passau, die Frau und der Mann in Kiel mit der Einheit das Erlebnis verbunden hätten, dass sich ihre Lebensqualität durch die Übernahme von drei, vier oder fünf Strukturen aus dem Osten erhöht hat. Ein solches Erlebnis ist niemandem im Westen gegönnt worden.
Das macht deren Einstellung aus, was ich auch verstehen kann.
Deshalb sage ich: Wir hatten eine Einheit, aber keine Vereinigung. Gerade von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, hätte ich erwartet, dass Sie diesbezüglich Zeichen setzen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, Sie denken an die verbleibende Redezeit in der eigenen Fraktion?
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich denke nur an meine Fraktion, Herr Präsident, gelegentlich auch an etwas anderes. Lassen Sie mich noch den einen Satz sagen.
Sie müssen einen Fahrplan aufstellen, Frau Bundeskanzlerin, und sagen: Ich will die Angleichung der Löhne. Ich will, dass man für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhält und nicht länger arbeitet für weniger Geld, dass man die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung erhält.
Sie müssen Ihre Politik umdrehen. Sie müssen für Frieden kämpfen, für Steuergerechtigkeit, das heißt, auch bei den Konzernen und Reichen abkassieren, und für deutlich mehr soziale Gerechtigkeit. Das hilft dann auch den kleinen und mittleren Unternehmen, weil Sie damit die Kaufkraft stärken.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun Dr. Peter Struck für die SPD-Fraktion.
Dr. Peter Struck (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich habe Ihnen keine eigenen Blumen überreichen können, weil das der Kollege Kauder für mich gleich mit gemacht hat.
Die Blumen bezahlen wir gemeinsam. Sie werden aber bestätigen, dass ich Ihnen schon einen ausgegeben habe, und ich werde das gerne wiederholen. Auch von mir herzlichen Glückwunsch zu Ihrer einjährigen Amtszeit!
Es ist das zweite Mal, dass ein Redner der PDS Soldaten, die im Auslandseinsatz sind, als Soldaten im Kriegseinsatz bezeichnet.
Ich weise diese unverschämte Behauptung mit Nachdruck zurück, Herr Gysi. Unsere Soldaten befinden sich nicht im Kriegseinsatz.
Unsere Soldaten befinden sich in einer friedensstiftenden und friedenserhaltenden Mission. Sie müssen endlich einmal dorthin fahren und sich das ansehen und nicht nur hier im Deutschen Bundestag solche dummen Sprüche klopfen, die die Soldaten beleidigen.
Ich will an dieser Stelle genauso wie die Bundeskanzlerin und der Verteidigungsminister Dank sagen für die Arbeit, die die Soldatinnen und Soldaten unter Gefahren für ihr Leben für unser Land und die Staatengemeinschaft tun. Meine Damen und Herren, Sie haben eine solche Bewertung wie die, die von der Linken kommt, überhaupt nicht verdient. Wir stehen an Ihrer Seite.
Da ich gerade bei der Außenpolitik bin: Das letzte Jahr war wirklich ein schwieriges Jahr für diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen.
Es hätte sich niemand vorstellen können, dass wir Soldaten in die Gegend von Israel und Palästina schicken. Dass es diese Mission sozusagen im Einvernehmen mit dem Staate Libanon und dem Staate Israel gibt, ist ein großer Erfolg. Das zeigt die Einsicht der Beteiligten, dass man etwas machen muss. Auch in Bezug auf die Kritik, die manche Kollegen der FDP im Vorfeld und Nachlauf an Herrn Jung geübt haben, möchte ich deutlich sagen: Dieses Mandat ist gut und der Verteidigungsminister hat sich gut und richtig verhalten.
- Ich spreche für die SPD-Fraktion, Herr Koppelin.
Wir haben im Deutschen Bundestag ein Mandat für den Einsatz im Kongo beschlossen. Wir hoffen - ich gehe davon aus -, dass die Soldaten bald zurückkommen werden. Wir verlassen uns auf Solana, der eine Erklärung dazu abgegeben hat. Die Beschlüsse, die die Bundesregierung gefasst hat, sind eindeutig. Wir wollen hoffen, dass alle gesund und munter aus dem Kongo wiederkommen. Ihren Auftrag haben sie nach dem, was ich gesehen habe, gut erfüllt.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Operation Althea in Bosnien-Herzegowina verlängert. Dazu muss ich - die Verteidigungspolitiker wissen das - einige Anmerkungen machen. Die Althea-Mission in Bosnien-Herzegowina - Herr Außenminister, wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte - ist im Grunde keine militärische Mission mehr. Der Krieg ist seit elf Jahren vorbei. Es haben Wahlen stattgefunden. Nach den Kommunalwahlen gibt es mittlerweile funktionierende kommunale Gremien. Unsere Soldaten fahren Patrouille, zum Beispiel um Kinder zu beschützen, die von ihrem Wohnort, wo sie einer Minderheit angehören, in eine Schule fahren müssen, die in einem Gebiet liegt, wo ihre ethnische Gruppe die Mehrheit stellt.
Deshalb bin ich sehr dafür, dass die Anregung von Verteidigungsminister Jung aufgegriffen wird, die Zahl der Soldaten langsam zurückzuführen. Die Anzahl von jetzt 850 Soldaten kann im Zusammenwirken mit den anderen europäischen Nationen zurückgeführt werden. Wir sind auf dem richtigen Weg. Ein Mandat muss auch einmal beendet werden können, wenn klar ist, dass die Voraussetzungen, unter denen das Mandat erteilt wurde, nicht mehr gegeben sind.
Zu Afghanistan. Die Kanzlerin hat dazu klare Worte gesprochen. Ich kann die Vorwürfe - von wem auch immer die Debatte begonnen worden ist -, wir würden im Norden eine ruhige Kugel schieben, während es im Süden gefährlich sei, überhaupt nicht nachvollziehen.
Wir haben - ich selbst war daran beteiligt - eine klare Aufgabenverteilung beschlossen, nach der Deutschland die Verantwortung für den Norden übernimmt. Wir haben auch ein klares Konzept für die Wahrnehmung dieser Verantwortung erstellt. Unser Wiederaufbauteamkonzept ist anders als das Konzept der Amerikaner, der Briten, der Kanadier oder von wem auch immer sonst. Unser Konzept - das sage ich ausdrücklich - ist das richtige. Wir helfen in allen Bereichen beim Wiederaufbau, und zwar auch zivil: mit NGOs, mit Entwicklungshelfern, im Rahmen der Polizeiausbildung. Wir unterstützen die Menschen, die im Norden Afghanistans leben, auf vielfältige Weise. Das ist das richtige Konzept.
Das meiner Meinung nach falsche Konzept - es folgt anderen Überlegungen - lautet: Wir gehen nur mit Kampftruppen rein. Wir bombardieren nur. Wir verfolgen nur.
Damit kann man das Vertrauen der Menschen in Afghanistan nicht gewinnen. Dann darf man sich nicht wundern, wenn solche Situationen eintreten, wie wir sie im Süden zu beklagen haben.
Für mich ist klar, dass wir eine Verantwortung im Norden haben, die wir auch wahrnehmen werden. Wir wollen den Norden den Taliban und der al-Qaida nicht wieder preisgeben. Deshalb bleiben wir dort. Wir helfen im Süden, wenn wir darum gebeten werden; unsere Aufgabe ist aber der Norden und dabei bleibt es. Ich denke, das wird in Riga bestätigt werden. Dabei unterstütze ich die Bundesregierung voll.
Ich will mich der Innenpolitik zuwenden und zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zur Innenpolitik machen. Ich glaube, das war auch deshalb ein erfolgreiches Jahr für unser Land, weil die sich seit Jahrzehnten politisch bekämpfenden großen Volksparteien miteinander geredet, verhandelt und sich geeinigt haben. Sie haben gemeinsam wichtige Projekte für das Land beschlossen. Große Koalition heißt große Verantwortung. Große Verantwortung bedeutet eine große Chance für unser Land. Große Koalition heißt aber auch, dass man manchmal große Kompromisse schließen muss.
Wir sind von sehr weit voneinander entfernten Punkten aufeinander zugegangen.
Die Debatte über den Weg, den wir miteinander gehen wollen, kann man nicht als Streit bezeichnen. Den Journalisten, die auf der Tribüne sitzen bzw. die vor dem Fernseher sitzen und gar nicht zur Arbeit im Plenum erscheinen - man muss ehrlich sagen: sie arbeiten vom Büro aus -,
ist Streit am liebsten. Ich nehme eine relativ einfache Frage als Beispiel. Wie macht man eine Gesundheitsreform? Jede Partei - wir reden von einer Dreiparteienkoalition - hat ihre eigenen Vorstellungen gehabt. Die lagen ziemlich weit auseinander: Bürgerversicherung hier, Kopfpauschale dort. Wir haben versucht, die Reform hinzubekommen.
Dass das nicht ohne Debatten geht, ist nachvollziehbar. Dass alle über den richtigen Weg streiten, ist auch nachvollziehbar. Aber die Kritik an dem Ergebnis der Gesundheitsreform kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.
Ich war bei einer Veranstaltung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft. Dort hat mir jemand, nachdem ich die Gesundheitsreform - zu Recht - ordentlich gelobt habe, gesagt, das sei Sozialismus pur. Darauf habe ich geantwortet: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Angela Merkel und Edmund Stoiber Sozialismus pur mitmachen würden.
- Nein. - Auch die Union ist nicht für Sozialismus pur. Das ist absurd. Sie glauben doch nicht ernsthaft, die Gesundheitsreform sei Sozialismus pur. Das glaubt doch kein Mensch. Ich nehme Ihnen nicht ab, dass Sie das glauben.
Wenn man sich ansieht, wie die Kampagne gegen die Gesundheitsreform läuft, dann muss man sagen, dass diese Kampagne weit über das Normale hinausgeht. Wenn Musterschreiben ins Internet gestellt werden - jeweils für Beamte, für Angestellte und für Arbeiter - und wenn sich herausstellt, dass die Namen von Versicherten, die gar nicht wissen, dass solche Briefe an uns gerichtet werden, missbraucht werden, dann geht das zu weit. Das kann man nicht akzeptieren.
Natürlich bestehen in verschiedenen Fragen Unterschiede zwischen den Koalitionsfraktionen. Aber sie sind alle überwindbar, wenn das Vertrauensverhältnis der handelnden Personen untereinander stimmt. Die Koalitionsfraktionen können sicher sein: Volker Kauder und ich - auch wenn wir uns nicht immer der gleichen Meinung verpflichtet fühlen - arbeiten in einem absoluten Vertrauensverhältnis zusammen.
Ich danke Volker Kauder dafür, weil dieses schnell gefundene beiderseitige Vertrauen entscheidend und substanziell für viele schwierige Entscheidungen war, die wir in diesem Jahr treffen mussten.
- Wir trinken öfter einen zusammen, als Sie denken.
- Mit Ihnen trinke ich vielleicht auch noch einmal einen zusammen. - Er weiß, Herr Koppelin, was dann passiert.
Das gleiche Vertrauensverhältnis, das ich mit Volker Kauder habe, prägt auch die Zusammenarbeit zwischen Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Vizekanzler Franz Müntefering. Diese enge Zusammenarbeit ist der Garantieschein für den Erfolg dieser Regierung.
Ich weiß, dass es auf der Ebene der Fraktionsvorsitzenden in der Regierung - Volker Kauder, Peter Ramsauer und ich - ganz gut klappt. Ich weiß auch, dass es auf der Ebene der Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker manchmal schwierig ist.
Es wird besser. Das ist mein und auch Volker Kauders Eindruck.
Zum Beispiel haben Wolfgang Schäuble, Franz Müntefering und die Koalitionssprecher Fritz Rudolf Körper und Wolfgang Bosbach in einer ganz schwierigen Frage, die uns jahrelang strittig beschäftigt hat, dem Bleiberecht für langjährig geduldete Ausländer, eine Einigung erreicht. Das ist ein großer Erfolg. Das hat damit zu tun, dass wir wissen, dass wir einander vertrauen können, wenn über bestimmte Fragen geredet wird. Ich gratuliere denjenigen, die darüber verhandelt haben. Ich glaube, sie sind hinsichtlich des Bleiberechts zu einem guten Ergebnis gekommen.
Wenn man die Frage stellt, was die Menschen von dieser großen Koalition erwarten, dann denke ich an verschiedene Dinge. Erstens erwarten sie, dass wir die Lebensrisiken, soweit wir das können, politisch absichern. Ein Lebensrisiko ist, arbeitslos zu werden. Ich glaube, dass uns das, was in diesem Bereich durch den Arbeitsminister bereits unternommen wurde, auf einen guten Weg gebracht hat. Ich nenne die Initiative ?50 plus“ und die Sonderprogramme für jugendliche Arbeitslose. Dass wir mit der Zahl von knapp 4 Millionen Arbeitslosen nicht zufrieden sind, davon können Sie ausgehen. Aber ich lasse mir nicht ausreden, dass es ein Erfolg ist, dass wir 450 000 Arbeitslose weniger haben als im letzten Jahr. Warum sollte ich das verschweigen? Es gibt keinen Grund, nicht darüber zu reden.
Die Maßnahmen zur Unternehmensteuerreform werden nach meiner Einschätzung mit dazu beitragen - der Finanzminister hat hier völlig Recht -, dass wir dadurch einen weiteren Impuls für Wachstum mit Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt bekommen. Für mich als Sozialdemokrat ist wichtig, dass im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform die Gewerbesteuer garantiert ist und sich die Gemeinden darauf verlassen können. Die Gewerbesteuer wird so bleiben wie bisher. Die Gemeinden sind uns dankbar dafür. Das muss man zu Recht unterstreichen.
Das zweite Lebensrisiko, das viele Menschen beschäftigt, ist das Thema Krankheit. Dabei geht es um unser Gesundheitssystem; dazu habe ich mich schon geäußert. Aber ich frage mich: Warum sagen wir eigentlich nicht, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben - dass das der Fall ist, kann man feststellen, wenn man es mit den Gesundheitssystemen anderer Länder vergleicht - und dass wir es zu erträglichen Bedingungen erhalten wollen? Diese erträglichen Bedingungen haben wir im Gesundheitskompromiss, auf den wir uns verständigt haben, festgelegt. Das war eine große Leistung.
Die Menschen können sich darauf verlassen, dass sie - egal wie arm oder reich und wie alt oder jung sie sind - die gesundheitliche Versorgung bekommen, die sie brauchen. Diese Garantie können wir den vielen Menschen, die sich vor diesem Lebensrisiko fürchten, geben. Wir können mit dem, was wir erreicht haben, wirklich zufrieden sein.
Das dritte Thema, das viele Menschen beschäftig, ist die Frage: Was geschieht im Alter, wenn man das Arbeitsleben beendet hat? Das Stichwort lautet: Rente. Dass die Koalition im Zusammenhang mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit einen schwierigen Weg gehen musste, war ersichtlich; denn niemand arbeitet gern länger. Dass dieser Weg unumgänglich war, ist aber auch ersichtlich. Durch diese Maßnahme, die der Arbeitsminister vorgeschlagen hat, haben wir unser Rentensystem stabilisiert. Es wird auch in Zukunft, in den nächsten zehn, 20 und 30 Jahren, stabil bleiben.
Die Maßnahmen, die wir zur sozialen Abfederung der Rente mit 67 vereinbart und im Deutschen Bundestag verabschiedet haben, tragen zur Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme bei. Darum ging es uns.
Nun möchte ich etwas zur Föderalismusreform sagen. Ich erinnere mich noch gut an die Debatten, die wir im Deutschen Bundestag über das so genannte Kooperationsverbot im Bildungsbereich geführt haben. Diese Diskussionen waren schwierig. Jeder weiß, dass ich zum Leidwesen mancher versucht habe, etwas anderes zu erreichen als das, was vereinbart wurde. Nachdem inzwischen ein Hochschulpakt ins Leben gerufen worden ist, für den 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt wird und der immerhin 90 000 zusätzliche Studienplätze garantieren soll,
sage ich nun: Es war richtig, das Kooperationsverbot im Bildungsbereich wegzufegen. Denn das war die Voraussetzung dafür, dass der Hochschulpakt überhaupt erst möglich wurde. Wir sind stolz auf das, was wir auf diesem Gebiet erreicht haben.
- Herr Kollege Kauder, der Beifall der Unionsfraktion könnte, da es gerade um das Thema Bildung geht, ruhig etwas stärker ausfallen.
Ich nehme an, Frau Schavan ist uns für unser Vorgehen im Hinblick auf Art. 91 b des Grundgesetzes sehr dankbar.
- Dann sagen doch Sie gleich etwas zu diesem Thema.
Jetzt komme ich auf den zweiten Teil der Föderalismusreform zu sprechen. Da Teil eins der Föderalismusreform sozusagen abgehakt ist, folgt bald Teil zwei. Heute Nachmittag werden wir im Kreis der Fraktionsvorsitzenden darüber reden, wie wir unser Vorgehen aufseiten des Bundestages organisieren. Der Kanzleramtschef und der Finanzminister haben die Aufgabe, die notwendige Arbeitsbeschreibung im Hinblick auf die Vorbereitung der Föderalismusreform II festzulegen und mit uns darüber zu diskutieren. Ich denke, wir sollten so vorgehen, dass diese Aufgabe noch im Laufe dieser Legislaturperiode erledigt werden kann.
Darüber hinaus müssen wir über die Neuverteilung der Finanzen zwischen Bund und Ländern einerseits und zwischen den verschiedenen Ländern andererseits reden. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass der Solidarpakt bis zum Jahre 2019 gilt. Die ostdeutschen Länder müssen sich darauf verlassen können, dass sich daran nichts ändert und keine Kürzungen vorgenommen werden. Das ist meine Position.
Ich denke, der Föderalismusreform II wird auch eine Föderalismusreform III folgen müssen. Wenn wir es geschafft haben, die Finanzkraft der Bundesländer in angemessener Weise auszugleichen, dann können und müssen wir auch über die Neugliederung der Bundesländer diskutieren.
Nun möchte ich mich noch einigen anderen Themenbereichen zuwenden. Zunächst zur Familienpolitik. Wie Sie wissen, hat die SPD-Bundestagfraktion großen Anteil an der Einführung des Elterngeldes. Das war ursprünglich eine Forderung der SPD, Frau von der Leyen, die in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Gleiches gilt in Bezug auf die Neuregelung zur steuerlichen Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten.
Für uns Sozialdemokraten bleibt es das erklärte Ziel unserer Familienpolitik, dass in Deutschland für jedes Kind ein kostenfreier Kindergartenplatz zur Verfügung steht. Das bleibt unser klares Ziel.
In Deutschland werden jedes Jahr - Steuern, Kindergeld, Freibeträge und dergleichen zusammengerechnet - 160 Milliarden Euro für Familienförderung und Kinderförderung ausgegeben. Ich kann nicht einsehen, dass es nicht möglich sein soll, die 8 Milliarden Euro, die wir brauchen, um den Kindergartenbesuch gebührenfrei zu machen, aus diesen 160 Milliarden Euro herauszuschneiden. Ich hoffe, dass dafür Vorschläge kommen.
Wir in der SPD diskutieren das. Ich weiß, auch die Union denkt über diese Frage nach. Ich halte es für falsch, zu überlegen, dafür das Kindergeld zu kürzen. Aber darum geht es überhaupt nicht; es geht darum, wie wir die vorhandenen Finanzmittel, ohne zusätzliche schöpfen zu wollen, anders einsetzen, um Kindergartenplätze gebührenfrei anbieten zu können. Ich hoffe, dass wir eine gemeinsame Lösung dafür finden werden. Unser Ziel bleibt es auf jeden Fall, zu machen, was Kurt Beck in Rheinland-Pfalz begonnen hat. Das soll auch in anderen Bundesländern Standard werden.
Ein weiteres Thema ist die Frage des Rechtextremismus. Ich finde es eigenartig, dass wir jedes Mal, wenn gerade Wahlen stattgefunden haben und Rechtsextreme in Landtage eingezogen sind, darüber diskutieren, wie wir mit ihnen politisch umgehen, ob wir sie politisch bekämpfen müssen. Natürlich müssen wir sie politisch bekämpfen. Doch glauben Sie etwa, dass die Union, die SPD und die FDP in Mecklenburg-Vorpommern sie nicht politisch bekämpft haben? Das haben wir gemacht, bei jeder Veranstaltung. Trotzdem sind sie in den Landtag eingezogen. Also müssen wir uns durchaus überlegen, wie wir mit ihnen umgehen und wie wir die Ursachen bekämpfen. Das sehe ich alles ein. Aber ich will noch einmal klipp und klar sagen: Nach meiner Auffassung sind die Wahlergebnisse dieser Partei nur so zu erklären, dass das Nazis sind. Das sind keine Neonazis, das sind Nazis, und wir müssen gegen sie vorgehen.
Ich lasse mir die Frage der Prüfung eines NPD-Verbots nicht ausreden.
Ich weiß, welche rechtlichen Bedingungen es gibt: Ich habe mir die Entscheidung aus Karlsruhe durchgelesen. Ich bin selbst Jurist von Beruf und weiß, was man aus diesem Urteil alles interpretieren kann. Aber die Rechtsauffassung von Karlsruhe - dass wir keine V-Leute in diesen Organisationen haben dürfen, wenn das Verfahren weitergehen soll - ist absurd. Wie sollen wir Erkenntnisse über die Verfassungsfeindlichkeit gewinnen, wenn wir in diesen Gremien keine Leute haben dürfen, die sich von sich aus anbieten - die haben wir doch nicht eingekauft, die bieten sich an! -, uns zu informieren?
Nach meiner Einschätzung führt dieser Beschluss aus Karlsruhe letztlich dazu, dass man überhaupt kein Verfahren zum Verbot rechtsextremer Parteien betreiben kann. Dieses Ergebnis kann ich nicht akzeptieren. Wir müssen an dieser Stelle weiter arbeiten.
Ich finde es gut, dass die Innenministerkonferenz am vergangenen Freitag in Nürnberg beschlossen hat, das Finanzgebaren der NPD überprüfen zu lassen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Schlägerbanden, die die NPD durch Deutschland geschickt hat, die Banden, die beim Aufhängen ihrer Plakate unsere heruntergerissen haben, das alles umsonst gemacht haben. Das glaube ich nicht. Mich interessiert, wer diese Nazipartei finanziert. Es muss einmal öffentlich diskutiert werden, wes Geistes Kind diejenigen sind, die so etwas unterstützen.
Nach einem Jahr großer Koalition ziehe ich für mich und für meine Fraktion das persönliche Fazit: Dieses Bündnis ist weitaus besser, als es von der öffentlichen Meinung dargestellt wird. Wenn Zeitungen jetzt Noten für Kabinettsmitglieder abgeben, ist das lächerlich. Dieses Bündnis ist besser als sein Ruf. Ich mache mir natürlich Sorgen, genau wie alle, die dieser Koalition angehören, wie die Meinungsumfragen aussehen. Allerdings muss man auch sagen: Noch eine Woche vor der letzten Bundestagswahl war die SPD den Meinungsumfragen zufolge so im Keller und die CDU so weit oben, dass niemand von uns auch nur mit einem Stück Brot hätte feiern wollen. Herr Westerwelle saß schon auf dem Stuhl neben Frau Merkel.
- Innerlich, doch, doch. Sie haben sich schon darauf vorbereitet, Herr Westerwelle, geben Sie es zu!
Erstens sage ich Ihnen: Es wird nicht jetzt in Deutschland gewählt. Also muss niemand vor lauter Angst zögern, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die man treffen muss, wenn man regiert.
Zweitens bin ich fest davon überzeugt, dass die Maßnahmen, die wir beschlossen haben - Gesundheitsreform, Arbeitsmarktreform, Steuerreform -, rechtzeitig im Jahre 2009 wirken werden, wenn die nächsten Wahlen anstehen, sodass die Leute sagen werden, dass diese große Koalition eine gute Arbeit geleistet hat.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, dass ihre Partei bei der nächsten Bundestagswahl nur dann stark werden kann, wenn sie sich gegen die andere Koalitionsfraktion, die CDU/CSU, profiliert. Ich bin der festen Überzeugung, dass meine Partei Erfolg hat, wenn die Koalition und die Regierung Erfolg haben. Dafür kämpfe ich.
Man wird mir verzeihen, dass ich zum Abschluss sage: Ich hoffe bei der nächsten Wahl auf das Ergebnis, das es auch 1969 nach der großen Koalition gegeben hat.
Wir haben gut zusammengearbeitet und ein Sozialdemokrat wurde Kanzler. Frau Bundeskanzlerin, Sie werden es mir verzeihen, aber das konnte ich mir nun doch nicht verkneifen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Renate Künast das Wort.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es Sie glücklich machen würde, dann könnte ich für die Vertreterinnen und Vertreter der Koalitionsfraktionen, für die Bundesregierung und für die Bundeskanzlerin einfach dreimal rufen: Ja, ja, ja - ja, die Zahlen sind glänzend, ja, die Nettokreditaufnahme ist niedriger, ja, die Arbeitslosenzahlen sind gesunken. Wenn es denn helfen würde.
An dieser Stelle muss ich aber auch Wasser in den Wein gießen; denn eines ist doch klar: Sie versuchen hier, auf einer Welle guter Zahlen zu schwimmen, in Wahrheit streicht diese Koalition aber nur die Reformdividende von Rot-Grün ein.
- So ist es. - Frau Merkel, wenn Ihr Vorgänger nicht so nervenschwach gewesen wäre, dann würde er heute hier stehen und diese Dividende einstreichen.
Herr Steinbrück hatte gestern Recht, als er in seiner Rede angedeutet hat, dass der Grundstein für diese Reformen - zum Beispiel die Arbeitsmarktreformen - unter der Vorgängerregierung gelegt wurde.
Sie müssen jetzt erst einmal damit anfangen, anzupacken. Unser Kritikpunkt an der jetzigen Situation ist, dass Sie sie für Deutschland nicht wirklich nutzen.
Sie müssen die soziale Marktwirtschaft auch ökologisch weiterentwickeln. Sie müssen dafür sorgen, dass in diesem Land anders produziert und Mobilität anders erreicht wird und dass die Menschen anders wohnen. Diese Bereiche packen Sie aber überhaupt nicht an. Sie sorgen nicht dafür, dass in den sieben fetten Jahren für sieben magere Jahre Vorsorge betrieben wird.
- Sie ruhen sich aus. Herr Raumsauer, wir wären in den sieben Jahren noch weiter gewesen, wenn Sie nicht - Bayern vorneweg - zu den Blockierern gehört hätten.
Sie geben an, dieses Land sei weiter. Sie rühmen sich damit, den Haushalt saniert zu haben. Ich schaue mir das einmal an und rechne nach Adam Riese: Sie haben die Nettokreditaufnahme auf 19,6 Milliarden Euro reduziert. Bei Steuermehreinnahmen von 17,9 Milliarden Euro, Privatisierungserlösen von 9,2 Milliarden Euro und Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung ist eine Reduzierung der Nettokreditaufnahme um circa 11 Milliarden Euro ein Armutszeugnis.
Ich sage Ihnen: Wenn wir Ihre Strategie weiter betreiben würden, dann wären wir relativ sicher erst 2051 am Ziel. Das halte ich für ein bisschen wenig. Man könnte viel früher einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Dazu müssten Sie allerdings die Einsparpotenziale - auch bei der Verwaltung - konsequent nutzen. Dann müssten die Subventionen und die Ausgaben konsequent gesenkt werden. All das packen Sie aber nicht an.
Man kann als Fazit feststellen: Sie nutzen zwar die Windfall Profits, leisten aber wenige Anstrengungen. Die einzige Anstrengung, die Sie unternommen haben, besteht darin, eine Unternehmensteuerreform vorzulegen, die nicht einmal gegenfinanziert ist. Sie entlasten die Unternehmen, greifen aber mit der Mehrwertsteuererhöhung wieder dem kleinen Mann in die Tasche.
Frau Merkel, Sie haben versucht, uns eine Lehrstunde in Sachen Rechnen zu geben, um uns allen zu erklären, dass bei den Lohnnebenkosten von 40,6 Prozent eine Senkung erfolgt sei; wer das nicht errechnen könne, sei in diesem Hause fehl am Platz.
Ich rechne mit dem, was Sie damals angekündigt haben. Sie haben eine Erhöhung der Mehrwertsteuer angekündigt und legitimiert, indem Sie gesagt haben, diese Koalition werde die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent senken. Sie haben zwar die Mehrwertsteuererhöhung beschlossen, aber die Lohnnebenkosten nicht gesenkt. Versprochen - gebrochen: Das ist das richtige Fazit.
Sie haben das Meisterstück der Koalition - eine Gesundheitsreform - angekündigt. Sie haben gerade selbst festgestellt, dass es sich dabei nicht um eine Gesundheitsreform zugunsten der Strukturen und Anbieter, sondern für die Versicherten handelt. Ich halte Ihnen entgegen: Diese Gesundheitsreform war auch für die privaten Krankenkassen gedacht, die Sie von Anfang an sakrosankt gestellt haben. Das ist falsch. Sozial geht anders, Frau Merkel.
Sie haben uns mit der Gesundheitsreform eine Vorstellung Ihres monatelangen Herumdokterns und ständigen Aufschiebens gegeben. Erst haben Sie angekündigt, dass mehr Steuern in das System fließen würden. Dann wurde das wieder zurückgenommen. Als die Einnahmen etwas stiegen, wollten Sie das System doch wieder zum Teil aus Steuermitteln finanzieren. Diese Gesundheitsreform und das Herumdoktern in diesem Punkt hat in Sachen Gesundheit in Deutschland nichts Positives bewegt; die Menschen, die Ihre Arbeit verfolgt haben, sind eher krank geworden.
Was haben Sie in der Arbeitsmarktpolitik bewirkt? Sie haben Unruhe gestiftet. Lassen Sie mich nur auf die Vorschläge von Herr Rüttgers zum ALG I eingehen. Frau Merkel, Sie haben gesagt, Sie wollten Deutschland dienen. An dieser Stelle könnten Sie Deutschland einen Dienst erweisen, indem Sie nicht darauf verweisen, dass Sie den Punkt nicht angehen könnten, weil die SPD das nicht will, sondern ganz klar feststellen: Wir wollen die Vorschläge von Rüttgers nicht umsetzen, weil sie asozial sind.
Sie sind asozial, weil es in Zukunft wenige Menschen geben wird, die 45 Jahre durchgehend erwerbstätig sind, weil Rüttgers’ Vorschlag ihnen Sand in die Augen streut und weil dieser Vorschlag die Situation vieler Menschen noch verschlechtern würde. Heute reicht es, zwei Jahre versicherungspflichtig tätig zu sein, um ein Jahr lang ALG I beziehen zu können. Nach Rüttgers’ Vorschlag muss jemand zehn Jahre versicherungspflichtig tätig sein, um ein Jahr ALG zu erhalten.
Wer von den heute 25- bis 30-Jährigen schafft das denn?
Rüttgers’ Vorschlag richtet sich, glaube ich, gegen mehrere Seiten: zum einen gegen die Kanzlerin, die er nicht akzeptieren kann, zum anderen gegen die jungen Menschen, die erst einmal in den Arbeitsmarkt hineinkommen müssen, und auch gegen die Frauen, die allein aufgrund von Erziehungszeiten nicht so leicht auf zehn Jahre versicherungspflichtiger Tätigkeit kommen.
Auch dazu kann man nur feststellen: Sozial geht anders.
Ich muss mich auch über etwas anderes wundern, Frau Merkel. Wenn Sie über mehr Leistungsbereitschaft reden und darüber, dass Sie die Leistungsträger unterstützen wollen, dann hören Sie doch auf, ständig über Leistungsbeschränkungen, Sanktionen und Missbrauch beim Arbeitslosengeld zu diskutieren! Dann fangen Sie doch an, dafür Sorge zu tragen, dass die Mittel zur Förderung von Langzeitarbeitslosen bei der Bundesagentur abfließen, statt wieder über 2 Milliarden Euro liegen zu lassen und eine Haushaltssperre für Eingliederungsmittel zu verhängen! Sie blinken sozial, aber am Ende ist Ihr Kurs doch wieder neoliberal.
Was Ihre Leipziger Rede angeht, schaffen Sie zwar jetzt ein bisschen Distanz dazu, aber das, was Sie hier anbieten, ist immer noch Leipziger Allerlei.
Nach einem Jahr großer Koalition ist festzustellen: Sie machen eine Politik der kleinen Schritte, von der man heute kaum weiß, wohin sie geht oder gehen soll. Sie verständigen sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass es immer der kleinste gemeinsame Nenner von CDU/CSU, SPD und den Unionsministerpräsidenten ist. Sie haben noch Anfang dieses Jahres den guten Geist von Genshagen, dem Ort, an dem Sie eine Kabinettsklausur abgehalten haben, beschworen. Ich glaube aber, dass der gute Geist von Genshagen gar nicht mehr existiert, sondern dass er eher zum Monster von Wolfratshausen mutiert ist.
- Die Versicherungswirtschaft will Sie nicht wieder haben, Herr Niebel.
Jetzt müsste es eigentlich losgehen. Frau Merkel, Sie haben sowohl in Ihrer heutigen als auch in Ihrer Rede zuvor klar gesagt: Wir dürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Mich stört diese reaktive Grundhaltung. ?Wir dürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen“ offenbart eine falsche Begrifflichkeit; denn wir sind mittlerweile in vielen politischen Bereichen so weit entwickelt, dass es nicht mehr nur um Reaktion und Nichtverbrauchen geht. Vielmehr müssen wir an dieser Stelle eine aktive Haltung einnehmen. Wir müssen uns eine gute Zukunft erst aufbauen. Wir dürfen bei den zentralen Themen Klima, Gerechtigkeit und Kinderförderung nicht nur darauf verweisen, dass wir etwas nicht verbauen dürfen. Vielmehr müssen wir Mut, Kreativität und Kraft haben und uns von alten Lobbygruppen lösen, um wirklich etwas aufzubauen. Aber das tun Sie bislang nicht.
Meine ehrliche Sorge ist, dass Sie Vorbereitungen treffen, um 2007 zu einem Jahr der roten Teppiche und der abgeschrittenen Ehrenformationen zu machen und im nächsten Jahr lauter 50-Jahr-Feiern zu veranstalten. Wir brauchen aber für die Europäische Union und insbesondere für Deutschland eine neue Zündungsstufe in der Entwicklung.
Ich nenne das Thema Klima als Beispiel. Eines verwundert sehr: Herr Gabriel ist herumgereist und hat national und international verkündet, Deutschland wolle eine Vorreiterrolle in Klimafragen einnehmen. Unter diesem Gesichtspunkt war Ihre heutige Rede mehr als enttäuschend, Frau Bundeskanzlerin.
Der Klimawandel findet längst statt. Er ist von einer ökologischen zu einer ökonomischen Katastrophe geworden. Nicholas Stern, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, sagt, dass in wenigen Jahren bis zu 20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung durch den Klimawandel aufgefressen werden. Dabei hat er noch nicht einmal über Hunger, Migrationsströme und Wetterextreme geredet, die unsere Wirtschaft schon heute betreffen. Professor Schellnhuber, der auch Sie berät, Frau Merkel, hat gesagt: Wenn wir eine Wende beim Klima noch schaffen wollen, dann ist heute ein kraftvolles politisches Handeln notwendig, weil wir noch circa zehn Jahre Zeit haben. - Unter diesem Aspekt haben Sie heute nichts angeboten.
- Das ist nicht falsch, auch wenn Sie etwas anderes behaupten. Frau Merkel hat in ihrer Rede zwar das Problem benannt, hat aber keine einzige Maßnahme beschrieben, die sie ergreifen will.
Das Jahr 2007 muss ein Jahr des Handelns werden. Wir brauchen gerade nach Nairobi ein zweigleisiges Vorgehen für einen erfolgreichen Klimaschutz. Wir können nicht immer auf das langsame Völkerrecht warten. Nairobi hat gezeigt, dass die Welt sozusagen auf Leadership wartet. Die Menschen in Afrika zum Beispiel warten darauf, dass jemand Vorreiter für einen wirtschaftlichen Wettbewerb ist, der dazu führt, dass anders produziert wird und Rücksicht genommen wird. Wir müssen unsere CO2-Emissionen senken und lernen, wirtschaftliche Entwicklung und Mobilität ohne CO2-Emissionen zu denken. Aber dazu haben Sie keinen Vorschlag gemacht.
Wer die Wirtschaft in Deutschland und in Europa weiterentwickeln will, muss beim Klimaschutz technologisch vorangehen und schneller sein. Wer beim Klimaschutz anführen will, der muss auch bereit sein, voranzugehen. Das gehört logisch zusammen. Sie müssen endlich beschließen, dass Deutschland 40 Prozent seiner CO2-Emissionen bis 2020 senken wird - komme, was wolle.
Es reicht nicht aus, dass Herr Gabriel hin und wieder Wenn-dann-Sätze spricht. Also: Wenn die Europäische Union entscheidet, dass die CO2-Emissionen um 30 Prozent gesenkt werden sollen, dann werden auch wir ... -
Nein, wir brauchen von der zukünftigen Präsidentschaft der EU und der zukünftigen G-8-Präsidentschaft eine klare Aussage - quasi eine Morgengabe -, die lautet: Deutschland wird die CO2-Emissionen um 40 Prozent reduzieren. Dann lösen Sie Wettbewerb aus und dann geben Sie der Wirtschaft einen Schub.
Wir brauchen mehr als nur rhetorische Verrenkungen. Ich höre Ihre Worte, Herr Gabriel, immer gern; denn sie haben etwas Dynamisches. Sie weisen in die richtige Richtung. Uns Grünen aber fehlt, dass den Worten etwas folgt. Ihre rhetorischen Verrenkungen in den letzten Tagen über Ihren NAP II, also die Senkung der CO2-Emissionen, die Sie in Brüssel eingereicht haben, waren schon beachtlich. Die EU-Umweltagentur hat keine neuen Zahlen gebraucht, um sagen zu können, dass Deutschland beim Klimaschutz kein Vorreiter ist und seine CO2-Emissionen weiter reduzieren muss. Diese Regierung - an vorderster Stelle die Kanzlerin - ist aufgefordert, nicht vor der Drohung eines Investitionsboykotts durch die Stromindustrie in die Knie zu gehen. Sie wollten Deutschland dienen. Hier ist der Ort, zu dienen.
Sie müssen viel ehrgeizigere Ziele beim Emissionshandel festlegen und Sie müssen die Privilegien für Kohlekraftwerke endlich abschaffen, weil Sie ansonsten das Gegenteil dessen tun, was Ihr Berater, Herr Professor Schellnhuber, rät, der gesagt hat, man müsse in den nächsten zehn Jahren aktiv sein, weil sonst die Zeit vertan sei. Wir brauchen ehrgeizige europäische Maßnahmen, einen europäischen Pakt für Klimaschutz und Versorgungssicherheit. Wir brauchen verbindliche Ziele.
Wir Grüne sagen: Wir müssen neue Felder beschreiten. Da lassen wir uns auch nicht durch Marktanreizprogramme, die Sie auflegen, in die Irre führen. Die größten Millionenzahlungen für Anreizprogramme reichen nicht aus, wenn Sie nicht endlich ein Wärmeeinspeisungsgesetz auflegen; denn das ändert die Strukturen und kurbelt die Wirtschaft an.
Gerade der Mittelstand, der die Arbeitsplätze schafft, braucht jetzt eine Effizienzstrategie. Wir haben in diesem Haushalt vorgeschlagen, einen Klimaschutzfonds für das Jahr 2007 einzurichten, den wir später zum Beispiel durch die Versteigerung der Emissionszertifikate speisen wollen.
Wer dieses Land zum Vorreiter machen will, muss die Möglichkeit nutzen, 10 Prozent der Emissionszertifikate zu versteigern und die Einnahmen für eine Effizienzstrategie zu verwenden. Daran wird der Mittelstand verdienen und dadurch werden neue Arbeitsplätze entstehen. Das ist sinnvoller, als über die Abschaffung von Kündigungsschutzregeln zu sprechen.
Mir hat in diesem ganzen Bereich gefehlt, dass Sie Vorschläge machen, wie wir wieder zu den alten Stärken der deutschen Wirtschaft zurückfinden können. Wenn man sich überlegt, wo die Stärken der deutschen Wirtschaft waren, kommt man sofort auf den Automobilbau. Wir stellen aber fest, dass im Augenblick die modernsten Fahrzeuge nicht in Deutschland hergestellt werden. Wer aber wieder dahin will, dass moderne und hoch angesehene Fahrzeuge in Deutschland hergestellt werden, der muss dem Markt Ziele setzen, die er erreichen soll, und Regeln geben. Das bedeutet für die Automobilindustrie eine zeitliche Vorgabe, bis wann der Durchschnittsverbrauch eines in Deutschland oder in Europa hergestellten Autos bei 5 Litern oder wann er bei 3 Litern sein muss. Wer da Bewegung schaffen will, muss dafür Sorge tragen, dass die Kfz-Steuer nach dem CO2-Ausstoß berechnet wird. So macht man eine gute soziale und ökologische Marktwirtschaft und nicht, indem man nur Zahlen benennt.
Frau Merkel, Sie haben an dieser Stelle über soziale Gerechtigkeit geredet. Sie haben Recht: Eine der zentralen Gerechtigkeitsfragen betrifft das Thema Bildung. Aber für die Bildung brauchen wir Durchlässigkeit in den Strukturen, weil es in Deutschland immer noch so ist, dass der soziale Aufstieg, der Aufstieg in Führungsfunktionen, quasi vererbt wird wie im 19. Jahrhundert.
Ehrlich gesagt, stört uns die Art und Weise Ihres Schönheitswettbewerbs um kostenfreie Kitaplätze, meine Damen und Herren. Von diesen kostenfreien Kitaplätzen werden die Besserverdienenden profitieren, aber nicht die Kinder dieser Republik. Sie sind an dieser Stelle auf dem Irrweg.
Ich hoffe, dass Sie sich da gegenseitig wieder zurückholen werden.
Die Republik braucht auch keine flächendeckende Pflasterung mit Modellprojekten, Frau von der Leyen, sondern diese Republik und die Kinder brauchen nach Ihrem Elterngeld einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung mit einem guten Bildungsangebot. Dafür brauchen wir Geld.
Wir brauchen nicht als Erstes Gebührenfreiheit, sondern wir müssen die sprachliche Entwicklung der Kinder fördern. Es nützt doch keinem Kind, wenn es aus einem kostenlosen Kindergarten mit einem Sprachdefizit in die Grundschule kommt.
Sie werden sich mit der Finanzierung der Kinderbetreuung auseinander setzen müssen. Sie tun so, als könne man beim Kindergeld herumoperieren. Ich habe mir die Analyse des Bundes der Steuerzahler des Berichts der Bundesregierung zum Existenzminimum angesehen und kann Ihnen sagen, dass Sie ständig mit Rechentricks arbeiten. Sie tun so, als könnten Sie Kindergartenplätze kostenlos machen, indem Sie das Kindergeld vielleicht nicht erhöhen. Zeitgleich hat Ihr Bundesfinanzministerium die Zahlen systematisch so klein gerechnet - erstmals wird behauptet, es gebe niedrigere Lebenshaltungskosten in dieser Republik -, dass es bis Ende 2008 überhaupt nicht zu einer Erhöhung des Kindergeldes kommen wird. Verlassen Sie doch endlich Ihr Wolkenkuckucksheim! Kümmern Sie sich um die Sorgen der Menschen, die da heißen: Rechtsanspruch auf einen guten Kindergartenplatz.
Voraussetzung dafür ist zum Beispiel eine komplette Umstrukturierung unserer Bildungslandschaft. Natürlich müssen die Curricula durch die Länder verändert werden. Aber auch Sie müssen eine Leistung vollbringen. Diese Regierung muss dafür sorgen, dass die Kommunen genug Geld haben, um bei den Kindergartenplätzen überhaupt anfangen zu können.
Es gibt nur einen Weg: Wenn Sie selber sagen, Sie als Große Koalition seien mutig, dann seien Sie doch so mutig und stellen endlich einmal alte Steuerprivilegien infrage. Nach unserer Meinung ist das Ehegattensplitting, das die kinderlose, reiche Ehe privilegiert, nicht mehr zu legitimieren. Das sind genau die Gelder, die wir in unsere Kinder investieren müssen.
Sie loben sich am Ende der Bildungspyramide, beim Thema Hochschulpakt. Ich sage Ihnen aber: Auch der Hochschulpakt hält nicht, was Sie heute früh versprochen haben. Warum? Weil Sie mit dem Hochschulpakt Boni an einige Stadtstaaten geben, zum Beispiel auch an Berlin, damit existente Hochschulplätze erhalten werden. Sie kürzen die Gelder um mehr als 20 Prozent, sodass Sie mit Ihrem Hochschulpakt gar nicht 90 000 neue Studienplätze werden schaffen können. Das ist ein Dilemma, weil wir in Wahrheit in den nächsten Jahren noch mehr Geld als für diese 90 000 neuen Studienplätze brauchen werden.
Wir haben uns in diesem Jahr als konstruktive Opposition aufgestellt.
Deshalb will ich an dieser Stelle mit einer Bitte und einer Erwartung an die Bundesregierung enden, die sich auf das Thema Außenpolitik bezieht. Frau Merkel, ich habe positiv aufgenommen, was Sie zum NATO-Gipfel in Riga gesagt haben, weil ich glaube, dass es genau darauf ankommt. Ich bin froh, dass Sie jetzt endlich einmal die Stimme erhoben haben und in Richtung NATO-Gipfel klar sagen, dass die internationalen Sicherheitsprobleme eben nicht allein mit Militär zu lösen sind, sondern dass dazu auch zivile Unterstützung und wirtschaftliche Unterstützung erforderlich sind.
Ich hoffe, dass Sie diese Strategie weiterführen, dass Sie laut - auch in Richtung USA - sagen: Das, was im Irak angerichtet worden ist, was unter dem Schild von ?Enduring Freedom“ im Süden Afghanistans passiert, ist nicht richtig. Ich hoffe, dass Ihre Erwartungen erfüllt werden. Ich hoffe, dass internationale Sicherheitspolitik anders betrieben wird.
Wir haben eine Erwartung in Sachen Nahost - dazu haben Sie heute nichts gesagt -: dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, das Nahostquartett wieder beleben. Auch für den Libanoneinsatz gilt: Militär allein wird nicht reichen. Wir brauchen Aktivitäten, die geeignet sind, den Libanon zu stabilisieren. Wir brauchen die Umsetzung der Zweistaatenlösung. Wir müssen Syrien konstruktiv einbeziehen; sonst wird dieses Unternehmen vor Ort scheitern.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Bundeskanzlerin, mein Fazit Ihres ersten Jahres ist: Ihre Zahlen sind zwar gut; aber es ist in Wahrheit die Reformdividende Ihrer Vorgängerregierung. Mein Ausblick ist: Das Jahr 2007 darf nicht das Jahr der roten Teppiche sein. Sie haben große Aufgaben auf dem Gebiet des Sozialen und des Ökologischen zu lösen, damit dieses Land Vorreiter beim Klimaschutz ist und damit hier neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir Grüne erwarten von Ihnen, dass Sie nicht nur über die Fakten reden, sondern diese Dinge wirklich anpacken.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einem Jahr regiert die große Koalition in Deutschland und wir können feststellen: Wir bringen unser Land voran.
Dies hat natürlich etwas mit der Arbeit dieser Bundesregierung und dieser Koalition zu tun. Vier Punkte sind entscheidend dafür, dass in unserem Land ein neuer Optimismus entstanden ist.
Erstens. Wir machen den Staat effizienter. Wir haben die Föderalismusreform durchgebracht und dafür gesorgt, dass in unserem Land wieder klare Aufgabenteilungen und Aufgabenzuständigkeiten vorherrschen. Wir haben dafür gesorgt, dass der Staat effizienter wird und dass wir in der Haushaltspolitik entscheidend vorankommen. Was waren das für dramatische Jahre, als wir unter der Beobachtung der EU standen. Es wurde immer wieder die Frage gestellt: Kommen wir da voran oder nicht? Ich wiederhole: Wir haben den Staat effizienter gemacht. Wir haben Kräfte für die Regierungsarbeit dadurch freigeschaufelt, dass wir den Haushalt konsolidiert haben.
Wir haben etwas gemacht, was viele von uns schon gar nicht mehr für möglich gehalten haben. In vielen Reden haben wir davon gesprochen, dass Bürokratieabbau sein muss. Jetzt haben wir ein Instrument zum Bürokratieabbau gefunden. Ich bitte die Bundesregierung, sehr darauf zu achten, dass der Normenkontrollrat mit seiner Arbeit vorankommt. Wir erwarten erste Ergebnisse im nächsten Jahr. Was die Umsetzung dessen angeht, was wir miteinander vereinbart haben, liegen wir genau im Zeitplan.
Zweitens. Wir stärken den Standort Deutschland durch eine ganze Reihe von Maßnahmen. Vor allem stärken wir den Mittelstand. Die Bundeskanzlerin hat es gesagt: Der Blick in unserem Land fällt immer auf die DAX-Unternehmen und auf die Entwicklung ihrer Mitarbeiterzahlen. Aber die große Leistung, Arbeitsplätze zu schaffen, wird nicht von den großen Unternehmen erbracht, sondern von den vielen kleinen und mittelständischen Betrieben. Ihnen sind wir dafür dankbar. Wir helfen ihnen auch durch konkrete gesetzliche Maßnahmen dabei, dass sie ihre Arbeit für unser Land leisten können.
- Dazu brauchen wir auch die FDP. Ich weiß gar nicht, warum Sie uns an diesem Punkt so kritisch gegenüberstehen. Wir machen genau das, was wir im letzten Jahr vereinbart haben: eine Unternehmensteuerreform und eine Erbschaftsteuerreform. Ich lade Sie ein, bei Vorhaben mitzumachen, die auch Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in Ihrem Wahlprogramm 2005 postuliert haben.
Wir haben eine Mittelstandsinitiative und ein Investitionsprogramm auf den Weg gebracht. Das sind alles richtige Dinge, mit denen wir den Standort Deutschland und insbesondere den Mittelstand stärken. Damit leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Zahlen sind genannt worden. Man kann sie gar nicht oft genug nennen; denn nach fast einem Jahrzehnt ist in diesem Bereich eine Trendwende erkennbar. Das ist auch für die Menschen ein wirkliches Hoffnungszeichen. So habe ich in den letzten Tagen eine junge Frau getroffen,
die seit vielen Jahren in meine Bürgersprechstunde kommt. In der ganzen Zeit hat sie einen Jobverlust nach dem anderen erlebt. Sie hat mir nun gesagt: Herr Kauder, es bewegt sich etwas; zum ersten Mal seit Jahren bekomme ich wieder Einladungen zu Vorstellungsgesprächen. Das sind Hoffnungszeichen in unserem Land, die auf unsere Politik zurückgehen.
Drittens. Wir fördern den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Dafür tun wir zunächst einmal etwas für unsere Familien. Diese sind die entscheidenden Einrichtungen, wo Zusammenhalt in unserer Gesellschaft erlebbar wird. Hier gibt es Hilfe und Unterstützung auch in den Wechselfällen des Lebens. Deswegen bin ich außerordentlich dankbar, dass die Bundesregierung ein Bündel von Maßnahmen zugunsten der Familien initiiert hat.
Ganz entscheidend in diesem Zusammenhang ist auch - Peter Struck hat es angesprochen -, dass Frau von der Leyen für die Bundesregierung eine Aufstellung darüber vorlegen wird, was wir insgesamt für die Familien ausgeben. So wird klar, wie viel wir für Familien tun. Es ist nämlich nicht so - wie manchmal der Eindruck erweckt wird -, dass wir kaum etwas für Familien in unserem Land täten. 150 Milliarden Euro geben wir für familienpolitische Leistungen aus. Das ist eine stolze Fördersumme. Wir wollen prüfen, wie wir das Geld noch besser als in der Vergangenheit einsetzen können.
Die Förderung des Zusammenhaltes unserer Gesellschaft geschieht auch, indem wir uns mit einem ganz wichtigen Thema befassen, das, wie ich glaube, in der Vergangenheit nicht mit dem notwendigen Nachdruck bearbeitet worden ist. Wir fördern nämlich den Zusammenhalt, indem wir uns massiv um Integration in unserem Land bemühen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat von Anfang an darauf verwiesen, dass sich unsere Integrationsbemühungen an all diejenigen wenden, die nicht in die Gesellschaft unseres Landes integriert sind. Dabei handelt es sich beispielsweise um Kinder aus Migrantenfamilien, aber auch um Kinder aus deutschen Familien, die aus ihrem familiären Umfeld keine oder nur wenig entsprechende Erziehung und Hilfe bekommen.
Der kürzlich stattgefundene Integrationsgipfel, der in verschiedener Weise seine Fortsetzung findet und im nächsten Jahr konkrete Ergebnisse bringen wird, zeigt, wie ernst wir diese Sache nehmen. Wir nehmen die Sache auch deshalb ernst, weil wir von Anfang an gewusst haben - das haben wir auch immer gesagt -, dass das Gesäusel von der multikulturellen Gesellschaft Menschen nicht in die Gesellschaft integriert, sondern Menschen aus der Gesellschaft ausschließt. Deshalb machen wir nun etwas ganz anderes mit dem von uns eingeschlagenen Integrationskurs.
Viertens. Wir nehmen innere Sicherheit ernst. Mittels eines ganzen Pakets an gesetzlichen Maßnahmen haben wir die Terrorismusbekämpfung vorangetrieben. Wir sorgen dafür, dass die Polizei ihre Kontrollaufgaben über entsprechend zur Verfügung gestellte Dateien besser als bisher wahrnehmen kann.
Es ist auch völlig klar - das müssen wir den Menschen in unserem Land immer wieder sagen -: Innere Sicherheit kann nicht nur durch gesetzliche und polizeiliche Maßnahmen in unserem Land gewährleistet werden, sondern innere Sicherheit hat auch etwas mit äußerer Sicherheit zu tun. Wir müssen deshalb überall dort, wo NATO bzw. UNO den Eindruck haben, dass eine Befriedung stattfinden muss, unseren Beitrag leisten. Das macht die Bundesregierung auch. Die Bundeswehr hat dabei einen schweren Auftrag. Wir alle wissen, dass wir es uns nicht leicht machen mit der Entscheidung, unsere Soldatinnen und Soldaten an einen Brennpunkt zu schicken.
Aber noch viel schwerer haben es diejenigen, die unsere Entscheidung auszuführen haben. Deswegen sind wir ihnen außerordentlich dankbar; ohne ihren Einsatz, den sie draußen in der Welt leisten, könnten wir innere Sicherheit in unserem Land nicht garantieren. Herzlichen Dank an die Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr!
Wenn man sich diese Bilanz nach zwölf Monaten großer Koalition anschaut, muss man sagen: Diese Regierung hat erfolgreiche Arbeit geleistet. Frau Bundeskanzlerin, herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank für die ersten zwölf Monate der großen Koalition!
Wir werden diesen Erfolgskurs fortsetzen. Wir werden dafür sorgen, dass wir die Ziele, die wir uns gesetzt haben, auch erreichen; wir werden sie konsequent verfolgen.
Das ist zum einen die Haushaltskonsolidierung. Es gibt kein besseres Beispiel dafür, dass wir es mit der Haushaltskonsolidierung wirklich ernst meinen, als die geringste Nettokreditaufnahme seit der deutschen Einheit in diesem Haushalt 2007. Das ist fast eine Halbierung der Nettoneuverschuldungen der vergangenen Jahre. Das ist eine großartige gemeinsame Leistung dieser die Koalition tragenden großen Volksparteien. Ich sage den Haushältern und natürlich auch dem Bundesfinanzminister herzlichen Dank für diese Arbeit.
Wir werden die Föderalismusreform weiter voranbringen. In der Föderalismusreform II müssen die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu geregelt werden. Auch in diesem noch schwierigeren Gebiet als bei der Föderalismusreform I muss die große Koalition zeigen, dass sie Kraft hat; denn wenn es ums Geld geht, hört die Freundschaft ja bekanntlich grundsätzlich auf.
- Frau Künast, Sie können sich daran beteiligen, indem Sie an der Kommission teilnehmen, die wir einrichten. Auf Länderebene sind Sie ja überall verschwunden; deswegen müssen Sie sich auf Bundesebene an diesem Thema beteiligen.
Wir verfolgen weiter unsere Ziele. Wir haben gesagt, wir konsolidieren nicht nur den Haushalt, sondern auch die sozialen Sicherungssysteme. Da steht vor uns eine Aufgabe: die Pflegeversicherung. Wir haben miteinander vereinbart, bei der Pflegeversicherung ein deutliches Zeichen im Sinne der Nachhaltigkeit auch an die junge Generation zu geben. Es gibt gerade eine Diskussion in der Fraktion der SPD und auch bei uns, ob das Thema Nachhaltigkeit stärker verankert werden müsste. Da kann ich nur sagen: Wenn wir diese Diskussion führen, dann sollten wir bei der Pflegeversicherung, deren Reform wir jetzt miteinander vorantreiben, ein Zeichen dafür setzen, dass es uns wirklich ernst ist. Das kann nur heißen: kapitalgedeckte Elemente in der Pflegeversicherung.
Wer Nachhaltigkeit will, muss dieses Thema ernst nehmen. So steht es auch in der Koalitionsvereinbarung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben gesagt, dass wir das Thema Sicherheit ernst nehmen. Weil das so ist, wissen wir auch - Peter Struck und die Bundeskanzlerin haben bereits darauf hingewiesen -, dass wir Sicherheit nicht allein und ausschließlich mit militärischen Einsätzen schaffen können. Wir brauchen ein politisches Konzept. Ich weiß aus meiner Fraktion, dass es uns leichter fällt, die notwendigen Einsätze der Bundeswehr und deren Verlängerungen zu beschließen, wenn wir sehen, dass es über den Einsatz hinaus zu politischen Aktivitäten mit Perspektiven für das Land kommt.
Deswegen bin ich Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, außerordentlich dankbar, dass Sie auch beim NATO-Gipfel in Riga jetzt so vehement auf dieses Thema eingehen. Ich weiß sehr wohl, dass es eine Diskussion - sie hat nicht ausschließlich etwas mit den Amerikanern zu tun - darüber gibt, inwieweit die NATO ein Militärbündnis ist und inwieweit sie auch politische Aufgaben zu übernehmen hat. Aber wenn ich sehe, was gerade die Bundeswehr - dafür, Franz Josef Jung, herzlichen Dank - neben den eigentlichen militärischen Aufgaben tut, um das Land voranzubringen, dann muss ich sagen: Wenn es stimmt, dass nach einem militärischen Einsatz auch politische Konsequenzen folgen müssen, dann muss sich die NATO fragen, ob sie nicht auch dazu einen Beitrag leisten muss. Auf diesem Weg, Frau Bundeskanzlerin, unterstützen wir Sie nachhaltig.
All diese Fragen, die wir in der Innenpolitik sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik miteinander besprechen, sind wichtig und von zentraler Bedeutung. Aber die größte Herausforderung, vor der wir stehen - wenn wir sie nicht bestehen, verlieren alle anderen Fragen an Bedeutung -, ist die Globalisierung in der Welt. Die Bundesregierung und die große Koalition stellen sich dieser Herausforderung.
Wir wissen - so hat es Michael Stürmer vor wenigen Tagen bei einer Vorstellung seines neuen Buches ?Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben?“ gesagt -, dass die Globalisierung kein Mitleid hat. Aufstrebende Nationen mit einer jungen Altersstruktur drängen nach vorne. Deswegen wäre es die völlig falsche Botschaft, wenn wir sagen würden - das kann man manchmal von ganz links hören -: Wir müssten uns abschotten, wir müssten dichtmachen und schauen, dass wir intern vorankommen. Diese Defensivstrategie wird uns nicht zum Erfolg führen. Deshalb ist es richtig, dass wir in die Offensive gehen und sagen: . Wir haben den Mut, diesen Wettbewerb anzunehmen. Wir trauen uns zu, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Das ist die Botschaft. Wer keinen Mut hat und in die Defensive gedrängt wird, der wird diesen Wettbewerb nicht gewinnen.
Den Wettbewerb im Rahmen der Globalisierung werden wir natürlich nur dann gewinnen, wenn wir die Menschen mitnehmen. Es ist richtig, dass sich Menschen in unserem Land Sorgen machen, wie es mit ihnen weitergeht. Bis weit hinein in den Mittelstand machen sich Menschen Sorgen, ob sie ihren Arbeitsplatz behalten. Unsere Antwort darauf lautet: Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein System sozialer Absicherung, das seinesgleichen in der ganzen Welt sucht. Wir wollen trotzdem immer wieder neu überlegen, wie wir dieses System noch besser machen können.
An dieser Stelle muss man auch einmal sagen: Fast 30 Milliarden Euro für Hartz IV sind kein Pappenstiel. Da kann niemand sagen, diese Republik sei nicht sozial. Diese Republik tut wirklich vieles, um denjenigen, die aus der Bahn geraten sind, zu helfen. Natürlich kann man immer mehr machen. Aber mehr machen kann man erst dann, wenn wieder mehr Geld in der Kasse ist. Deswegen ist der entscheidende Punkt: Wirklich sozial ist das, was Arbeit schafft. Denn Arbeit gibt den Menschen Perspektiven.
Herr Vizekanzler, es ist richtig, wie Sie auf diese Herausforderungen reagieren. Mit uns zusammen wollen Sie sich die Gruppen von besonders betroffenen Menschen anschauen. Beispielsweise haben es die über 50-Jährigen und die unter 25-Jährigen besonders schwer, Arbeit zu bekommen. Ich weiß, dass Sie sich in einer Diskussion über den Kombilohn befinden. Im nächsten Jahr wird es entsprechende Vorschläge geben. Das zeigt, die große Koalition lässt die Menschen in unserem Land, die Sorgen und Probleme haben, eben nicht allein und reagiert nicht mit alten Hüten, sondern sie reagiert mit neuen Instrumenten auf die Herausforderungen, um den Menschen in unserem Land zu helfen.
Die Globalisierung hat, wie gesagt, kein Mitleid. Deswegen müssen wir sie annehmen und den Menschen auch Mut machen. Denn nur derjenige, der den Menschen Mut macht, wird diesen Wettbewerb gewinnen. Ich will in diesem Zusammenhang auf ein zweites bemerkenswertes Buch hinweisen. Es handelt sich um ein Buch von Gabor Steingart, in dem diese Thesen ebenfalls enthalten sind. Es lohnt sich also bei Stürmer und Steingart einmal nachzulesen.
Wie können wir die Globalisierung gewinnen? Wir brauchen eine dynamische Gesellschaft. Ob uns dies angesichts der Demografie in unserem Land gelingen wird, hängt davon ab, ob wir eine dynamische Jugend haben. Deswegen ist das, was die Regierungskoalition macht, völlig richtig. Sie setzt Zeichen, indem sie Ausbildungsmöglichkeiten für die junge Generation schafft. All das, was dank Annette Schavan in der Forschungs- und Hochschulpolitik passiert, ist das richtige Signal im Wettbewerb im Rahmen der Globalisierung.
Eines der ganz ernsten Themen im Rahmen des Wettbewerbs innerhalb der Globalisierung betrifft - darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen - die Frage der Energie. Wir müssen alles daransetzen, hier stärker voranzukommen. Wir müssen für mehr Unabhängigkeit von Energie sorgen.
Deshalb ist es richtig, dass wir Energie sparen und uns für eine bessere Energieeffizienz einsetzen. Es ist auch richtig, dass die Wirtschaft darüber nachdenkt, wie Produktionsverfahren energieeffizienter gestaltet werden können. Wir sind dafür, dass man die regenerativen Energien weiter fördert. Gerade vor dem Hintergrund des Klimagipfels und der klimatischen Probleme müssen wir im Rahmen der Energieversorgung einen Beitrag dazu leisten, dass wir weniger CO2 ausstoßen.
Bei allem Sparen, bei allen regenerativen Energien vom Windrad bis zur Wasserkraft - das alles ist in Ordnung und sollte vor allem in der Region eingesetzt werden, wo dies möglich ist - dürfen wir uns selber und auch den Menschen keinen Sand in die Augen streuen. Das alles wird nicht ausreichen, um einer großen Industrienation im globalen Wettbewerb eine ausreichende Energieversorgung sicherzustellen. Ich kann nur sagen: Wenn wir das Problem des CO2-Ausstoßes ernst nehmen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass bei der Energieerzeugung immer mehr CO2 ausgestoßen wird.
Dann müssen wir uns überlegen: Was können wir neben dem Einsatz von regenerativen Energien tun, um bei einem geringeren CO2-Ausstoß Energie zu erzeugen? Das wird das entscheidende Thema sein.
Herr Kollege Westerwelle, da Sie so platt ein Stichwort zugerufen haben, sage ich Ihnen: Das ganz Entscheidende ist - das wird auch in dieser großen Koalition ernst genommen -, dass wir wieder ohne ideologische Vorbehalte Energieforschung betreiben. Das geschieht und das wird unserem Land Zukunft bringen.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Globalisierung einen letzten Punkt ansprechen. Natürlich kommt es ganz entscheidend darauf an, dass wir zum einen denjenigen in unserem Land helfen, die von der Globalisierung betroffen sind, und zum anderen die vorhandenen Mittel einsetzen, um neue Chancen zu schaffen. Globalisierung heißt, die einen mitzunehmen, den anderen aber die Möglichkeit zu geben, etwas zu tun, sich im Wettbewerb zu bewähren. Erst wenn wir das richtig hinbekommen und geschafft haben und dann neue Arbeitsplätze geschaffen werden, werden wir den Wettbewerb gewinnen. Es wird nicht ausreichen - das können wir gar nicht schaffen -, mit immer mehr Geld nur den sozialen Status absichern zu wollen, ohne gleichzeitig darüber nachzudenken, wie wir im Wettbewerb für neue Arbeitsplätze sorgen. Da brauchen wir mehr Selbstständigkeit, mehr Freiheit, mehr Kreativität, all das, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung heute Morgen angesprochen hat.
Es ist völlig klar, dass man angesichts dieser Herausforderungen eine starke und große Regierungskoalition braucht. Diese große Koalition kann nach dem ersten Jahr sagen: Wir haben etwas miteinander erreicht. Peter Struck hat es angesprochen: Fast 40 Jahre lang haben sich die beiden großen Volksparteien in vielen Wahlkämpfen politisch bekämpft. Gerade im letzten Wahlkampf haben wir uns nichts geschenkt; auch das sollte man einmal klar sagen. Dann haben wir das Wahlergebnis gesehen und uns war völlig klar, dass wir miteinander eine große Verantwortung tragen, dass es nicht mehr darum geht, ob nun CDU, CSU oder SPD in eine Regierung kommen, sondern darum, diesem Land eine gute Regierung zu stellen.
Da war die Zusammenarbeit zwischen den drei großen Volksparteien CDU, CSU und SPD
ohne Alternative.
Jetzt muss ich sagen: Koalitionen brechen in aller Regel immer dann - dies ist auch vor dem Hintergrund der Geschichte klar -, wenn die handelnden Personen nicht mehr miteinander können.
Über Sachfragen kann man reden. Da gibt es auch Punkte, bei denen man sich eingestehen muss, dass man nicht zusammenfindet. Wir haben jeder für sich in der großen Koalition unsere persönlichen und politischen Überzeugungen nicht aufgegeben, aber ich bin im Interesse unseres Landes dankbar, dass es gelungen ist, dass Peter Ramsauer und ich ein so gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu Peter Struck haben.
Manche fragen: Wie ist denn das gelungen, ihr habt euch doch so bekämpft? Dazu kann ich nur sagen: Das, was wir vorleben, ist ein Beispiel dafür, wie wir auch in Zukunft Politik in der großen Koalition gestalten werden: Zuerst kommen die Menschen, dann kommt das Land, dann kommen die Parteien und ganz zum Schluss komme ich. Weil wir wissen, dass das so ist, überwinden wir manches, was uns über 40 Jahre hinweg getrennt hat. Wir geben unsere Grundüberzeugungen nicht auf, aber wir haben im Interesse unseres Landes in der Regierung und in der großen Koalition zusammengefunden. Dafür, Peter Struck, ein herzliches Dankeschön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der FDP, Guido Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach der Anzeigenserie, die Sie als Bundesregierung am Montag auf Kosten der Steuerzahler in allen großen Blättern gestartet haben, war es zu erwarten, dass Sie den Versuch wagen würden, aus der Haushaltswoche eine Art Festspielwoche der Koalition zu machen.
Besonders bemerkenswert hat das der Kollege Kauder vorgemacht. Ihre Rede, Herr Kollege Kauder, kann man eigentlich wie folgt zusammenfassen: Erste Abteilung: Merkel ist die Größte. Zweite Abteilung: Ich mag Peter Struck.
Deswegen verstehe ich auch die Anmerkung von Herrn Struck in Ihre Richtung. Dass Sie der Bundeskanzlerin Blumen überreicht haben, war heute wichtig und unverzichtbar. Warum Sie ihm oder er Ihnen keine Blumen gebracht hat, hat der Kollege Struck folgendermaßen begründet: Sie schenken sich keine Blumen, sondern gehen lieber gemeinsam einen trinken. Das kann ich verstehen; denn nüchtern ist diese Lobhudelei nicht zu ertragen.
Diejenigen, die schon etwas länger im Deutschen Bundestag dabei sind, haben schon so manches Déjà-vu-Erlebnis gehabt. Die Bundeskanzlerin hat hier genauso wie in den Zeitungsanzeigen auf Kosten der Steuerzahler all das, was es an positiven Ereignissen in diesem Jahr in der Tat gegeben hat - vom Wirtschaftswachstum bis hin zur Fußballweltmeisterschaft -, für sich reklamiert. Ich glaube, Frau Bundeskanzlerin, dass der Erfolg der Fußballweltmeisterschaft völlig ohne Ihr Zutun zustande gekommen ist. Das ist allerdings in den Tagen der großen Koalition eine gewagte Behauptung.
Ich möchte Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, daran erinnern, dass wir das alles schon einmal vor sechs Jahren erlebt haben. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, die jetzigen Daten seien die besten Wirtschaftswachstumsdaten seit 2000. In großer Bescheidenheit haben Sie darauf aufmerksam gemacht, dass das eigentlich Ihr Verdienst sei.
Der Altbundeskanzler, Gerhard Schröder, hat im Mai 2000, als er noch regierte und nicht Memoiren schrieb, in diesem Hohen Haus fast wortgleich dasselbe vorgetragen:
Die Arbeitslosenzahlen sind im April dieses Jahres ... um exakt 156 000 zurückgegangen. Wir sind unter der 4-Millionen-Grenze. Wir haben alle Chancen ..., am Ende dieser Legislaturperiode weniger als 3,5 Millionen Arbeitslose zu haben.
Anschließend hat er das als zentralen Erfolg seiner Regierung ausgegeben.
Genau das ist die Gefahr, die mit der konjunkturellen Aufhellung verbunden ist. Ich fürchte, Sie glauben daran, dass Sie etwas mit dem Wirtschaftswachstum zu tun haben.
Ich fürchte, Sie glauben wirklich daran.
Das ist das Tragische in diesem Land; denn Politik beginnt mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Das Wirtschaftswachstum in Deutschland hat mit vielem etwas zu tun: in der Tat auch mit der Fußballweltmeisterschaft, vor allem aber mit der Weltwirtschaft und sogar mit dem milden Herbst. Ich sage Ihnen eines: Mit Ihnen, der Koalition, hat das zuallerletzt etwas zu tun.
Deswegen ist das Phänomen, dass man sich mit fremden Federn schmückt, zu Recht ein außerordentlich gefährliches. Wir wissen ja, wie das mit Schröder weitergegangen ist. Danach waren wir bei mehr als 5 Millionen Arbeitslosen,
weil Sie damals Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Auch jetzt wiegen Sie sich in der Sicherheit einer trügerischen Ruhe und schmücken sich mit fremden Federn.
Dazu hat der griechische Philosoph Äsop einmal ein wunderschönes Gleichnis aufgeschrieben:
Eine eitle Krähe wollte schöner sein, als sie wirklich war, und zierte sich mit allerlei bunten Federn von anderen Vögeln... Allein um die Eitelkeit zu bestrafen ...,
fielen diese über sie her und entrissen ihr nicht nur die geraubten Federn, sondern auch einen Teil ihrer eigenen. Armseliger wie vorher, stand sie nun wieder da...
Die Lehre ist:
Prahle nie mit erborgtem Schimmer, Spott ist sonst dein Lohn.
Was Schröder passiert ist, wird auch Ihnen passieren, wenn Sie so weitermachen, Frau Bundeskanzlerin.
Deswegen wollen wir in der Haushaltswoche einmal den Blick auf die Fakten lenken. Die Haushaltszahlen sind in dieser Woche der entscheidende Punkt. Man muss unserer Bevölkerung, unserem Volk eines noch einmal sehr deutlich machen: Wenn Sie in den Zeitungen lesen, verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Regierung würde sparen, meint die Regierung Folgendes: Sie gibt in diesem Jahr 9 Milliarden Euro mehr Geld aus. So viel Geld wie im nächsten Jahr hat der Bund noch niemals in der Geschichte der Republik ausgegeben. Von Jahr zu Jahr mehr Geld auszugeben, ist jedoch das Gegenteil von Sparen!
Sie erläutern: Ja, aber es seien viele Investitionen getätigt worden. Von diesen 270 Milliarden Euro - das Haushaltsbuch ist ja bekanntermaßen das Schicksalsbuch unserer Nation - fließen nach Ihren eigenen Angaben gerade einmal - auch das muss man unserer Bevölkerung, den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, sagen - 24 Milliarden Euro, wohlgemerkt: von 270 Milliarden Euro Gesamtausgaben, in Investitionen. Dann wundern sich viele Bürger darüber, dass es zum Beispiel beim Straßenausbau nicht vorangeht, dass die Straßenzustände schlechter werden. Das alles sind Auswirkungen dessen.
Die fleißigen Mitglieder des Haushaltsausschusses, die das viel besser beurteilen können, legen die entsprechenden Zahlen vor. Dann staunt man darüber, dass zum Beispiel der Etat für Investitionen in den Autobahnausbau zurückgeht. Das finde ich bemerkenswert vor dem Hintergrund dessen, was die Union in der Zeit, als sie noch in der Opposition war, immer über Infrastruktur gesagt hat. Mit Verlaub, ich hätte mir niemals vorstellen können, dass eine Regierung unter Beteiligung der Grünen mehr Geld für Autobahnen ausgibt als eine CDU-geführte Bundesregierung.
Neben dem niedrigen Investitionsanteil des Haushalts beläuft sich die Neuverschuldung auf fast 20 Milliarden Euro. Dafür wollen Sie dann auch noch gelobt werden. Das ist das Nächste. Sie wollen allen Ernstes dafür gelobt werden, dass Sie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Art. 115 einhalten möchten. Sie wollen allen Ernstes dafür gelobt werden, dass Sie den Maastrichter Vertrag einhalten.
Wenn die Regierung Recht und Gesetz einhält, will sie dafür gelobt werden! Wenn das so weitergeht, werden die Bürger demnächst nur, weil sie sich rechtstreu verhalten, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Das ist doch eine völlige Realitätsverdrängung.
Dann muss die Bundeskanzlerin allen Ernstes auch noch ihr gestriges Geburtstagserlebnis anführen, das wir gemeinsam gehabt haben. Es war auch sehr schön beim Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Sie haben gesagt, man habe den Reden, die gestern Abend auf dem Geburtstagsempfang des ZDH gehalten wurden, entnehmen können - im Unterschied zu den Berichten der Damen und Herren Journalisten -, wie die Menschen in diesem Land die Realität sehen. Ich persönlich finde diese Realitätsverdrängung bemerkenswert; ich fürchte nur, dass das immer so weitergehen wird. Welche Reaktion erwarten Sie eigentlich vom Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, wenn Sie als Bundeskanzlerin ihm zum 65. Geburtstag gratulieren? Dass er in seinen Dankesworten über Sie herzieht?
Das können Sie doch nicht ernsthaft als Realität wahrnehmen. Geburtstagsreden werden jetzt schon zu Kronzeugen Ihrer Politik! Meine Güte, wo seid ihr angekommen?
Ich habe das mitbekommen. Ich war dabei und habe das selbst gehört.
- Herr Kollege, Sie haben völlig Recht, das ist mein Problem. Es ist gut, dass Sie mir das noch einmal gesagt haben. Vielen Dank dafür.
Kommen wir von der Schönfärberei zur Realität zurück. Gesamtstaatlich kommen über 20 Milliarden Euro mehr in die Kassen. Auf den Bund entfallen 9 Milliarden Euro. Statt dass Sie dieses Geld, wie übrigens angekündigt, in den Schuldenabbau stecken,
verteilen Sie es auf die verschiedensten Bereiche. Nur mit einem kleinen Teil, nämlich mit 2,4 Milliarden Euro, gehen Sie an den Abbau der Neuverschuldung heran. Mit anderen Worten: Obwohl Sie eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte beschließen - übrigens weil die SPD gegenüber ihren Wählern einen Wortbruch begeht -, obwohl Sie die Bürgerinnen und Bürger an allen möglichen Stellen stärker belasten, obwohl sie den Bürgern immer tiefer in die Tasche greifen und obwohl die Konjunktur endlich etwas anspringt, tilgen Sie die Schulden immer noch nicht in ausreichendem Maße, gehen Sie immer noch nicht an das heran, was man das Eingemachte der Politik nennt. Und warum? Weil die Politik einer großen Koalition in Wahrheit nur die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners ist. Weil sie von widerstreitenden Interessen geprägt ist, kann daraus nichts Großes werden.
?Mehr Freiheit wagen!“ ist ein fabelhaftes Motto. Ich freue mich darüber, dass Sie nach den verschiedenen Mottiwechseln im Laufe des Jahres auf das zurückgreifen - back to the roots -, was Sie in der ersten Regierungserklärung gesagt haben. ?Mehr Freiheit wagen!“ ist ein gutes Motto. Schauen wir aber einmal dahinter. Die Fakten sehen so aus: Die Subventionen des Bundes liegen auf einem ähnlich hohen Niveau wie im Jahr 2000. Die Steinkohlesubventionen werden nicht etwa gesenkt, sondern steigen im Haushalt, und zwar um 260 Millionen Euro. Auch Ihre Werbekampagne kostet Millionen.
In diesem Haushalt sind übrigens auch Sachen zu finden, die man in der Öffentlichkeit gar nicht kennt. Wenn wir unsere 500 Streichungsvorschläge und Änderungsanträge im Bundestag präsentieren - gestern durften wir sie dankenswerterweise dem Herrn Finanzminister übergeben -,
dann heißt es jedes Mal - das ist der typische Regierungsreflex -, das sei unseriös. Wenn die Opposition etwas anderes will, ist das immer unseriös. Das geht nämlich gar nicht anders, als die Regierenden es den Menschen einreden wollen.
Wollen wir doch einmal in der Bevölkerung fragen, zum Beispiel, ob sie der Meinung ist, dass wir in diesem Jahr wieder 60 Millionen Euro Entwicklungshilfe an China zahlen sollen. Das ist das Land, das zur Jahreswende Schlagzeilen damit gemacht hat, dass es jetzt den Weltraum erobern will. 300 Millionen Euro deutsche Steuergelder sind in den letzten drei oder vier Jahren nach China geflossen.
Bezogen auf Weltwirtschaft und Globalisierung kann ich nur sagen - das adressiere ich auch an den Kollegen Kauder -: Wir sitzen längst nicht mehr auf dem hohen Ross der Zahler. Wir müssen begreifen, dass das konkurrierende Volkswirtschaften sind. China hat vor zwei Wochen mit den afrikanischen Ländern einen Entwicklungshilfegipfel durchgeführt und dort öffentlichkeitswirksam, mit Blick auf die afrikanische Öffentlichkeit, Gelder verteilt, nimmt aber von uns Entwicklungshilfegelder an. China macht uns beim Transrapid und bei den modernen Technologien in den Bereichen Weltraum und Luftfahrt Konkurrenz. Wir sind längst nicht mehr in der Situation, international Zahlemann und Söhne machen zu können. Wir müssen begreifen, dass das konkurrierende Volkswirtschaften sind.
Jetzt sind diese Länder billiger. Ich sage Ihnen voraus, dass es nicht lange dauern wird, bis sie auch den Wettbewerb um die Qualität aufnehmen. Und dann machen wir lange Gesichter. Wer sich heute vor dem Wettbewerb mit Tschechien fürchtet, dem kann ich nur sagen: Zieht euch warm an, denn China, Indien und andere Volkswirtschaften kommen erst noch. Deswegen ist die Verdrängung von Realität für uns auch aus historischer Sicht so gefährlich.
?Mehr Freiheit wagen“, sagen Sie und beschließen nicht nur die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Republik, sondern - das ist übrigens Unfreiheit für Bürger - erhöhen auch die Beiträge für die Renten- und die Krankenversicherung. Das wird bei der Gesundheitsreform noch so weitergehen.
Ich darf, an die Damen und Herren von der Koalition gerichtet, kurz zwei Bemerkungen zur Gesundheitsreform machen. Die erste richte ich an die Adresse der SPD, weil Sie immer meinen, dass es sich, wenn wir die Gesundheitsreform kritisieren, quasi nur um den Reflex der Opposition handelt.
Ihr ausgeschiedener Bundeskanzler hat den Gesundheitsfonds soeben als ?bürokratisches Monstrum“ bezeichnet. Muss ausgerechnet ich in diesem Raum jetzt schon Schröder zitieren?
Ich muss wirklich sagen: Das sind doch Kronzeugen, an denen Sie nicht vorbeikommen. Herr Struck, das war einmal Ihr Bundeskanzler. Das letzte Jahr ist aber wohl schon lange her.
Meine Damen und Herren von der Unionsfraktion, Sie tun immer so, als müssten Sie das jetzt tun, als sei das zwangsläufig. Entschuldigen Sie einmal, ich fürchte, dass viele von Ihnen gar nicht wissen, worüber sie abstimmen werden. Lesen Sie einmal nach, was die Bundesgesundheitsministerin dazu sagt. Das ist wirklich außerordentlich spannend. Die Gesundheitsministerin sagt jetzt - nicht vor Monaten, sondern in dieser Woche - über das, was Sie als Regierungskompromiss in der Gesundheitspolitik vereinbart haben, dass es nur der ?Zwischenschritt“ zur Bürgerversicherung sei. Sagen wir es doch gleich: Das ist der Weg in die Zwangskasse. Das ist das Gegenteil von Wettbewerb und von Freiheit. Höhere Abgaben und schlechtere Leistungen - das ist Ihre Gesundheitsreform.
Der Gesundheitsfonds ist doch eine absurde Erfindung. Jetzt sollen zwei Bürokratien Beiträge einziehen und verwalten. Der Gesundheitsfonds soll Einheitsbeiträge einziehen und verwalten und auch die Krankenkassen müssen Beiträge einziehen und verwalten. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass zwei Bürokratien preiswerter sind als eine.
Sie rühmen sich mit dem, was Sie für den Mittelstand getan haben. Von den großen Überschüssen bei der Bundesagentur ist die Rede. Dabei verschweigen Sie etwas, was in meinen Augen unbedingt erwähnt werden muss. Sie loben den Mittelstand und verschweigen dabei, dass Sie, die Regierungsparteien, in diesem Jahr den Mittelstand nicht zwölf Mal - so wäre es anständig -, sondern 13 Mal mit den Sozialversicherungsbeiträgen belastet haben. Das war ein unverschämtes Abkassieren des Staates. In Wahrheit fördern Sie nicht den Mittelstand, sondern nehmen den Mittelstand als Kreditgeber für Ihre verfehlte Politik. Das ist nicht anständig.
Kommen wir zu dem, wie Sie dem Mittelstand wirklich geholfen haben. Ich lasse einmal weg, was bisher nur Ankündigungen sind. Wenn die Unternehmensteuerreform kommt und gut wird, werden wir da mitmachen, das ist gar keine Frage.
Aber wir werden das Kleingedruckte, insbesondere zur Gegenfinanzierung, abwarten.
Wenn Sie die Erbschaftsteuer reformieren, werden wir mitmachen. Aber wir werden erst das Kleingedruckte lesen. Denn bisher sagt Ihr Regierungssprecher: Jedes Jahr muss man etwas weniger an Erbschaftsteuer zahlen und nach zehn Jahren ist man erbschaftsteuerfrei, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Arbeitsplätze fortbestehen. Ich kenne keinen Mittelständler, der in der Lage ist, eine Arbeitsplatzgarantie für seine Belegschaft für die nächsten zehn Jahre abzugeben. Das ist gar nicht denkbar.
Jetzt kommen wir einmal zu dem, was Sie bereits beschlossen haben. Das andere sind ja Eckpunkte. Sie wollen für Eckpunkte gelobt werden. Bei der Unternehmensteuerreform rudert die SPD interessanterweise übrigens schon wieder zurück.
Zu dem, was schon in Kraft gesetzt wurde, ist in den Anzeigen nichts zu finden. Dabei ist das doch Ihre Erfolgsbilanz. Zum Beispiel auf das Antidiskriminierungsgesetz sind Sie doch stolz oder etwa nicht, meine Damen und Herren von der Unionsfraktion? Daran habe ich gar keinen Zweifel. Nur: Die, die geschützt werden sollen, werden in Wahrheit benachteiligt. Denn lassen Sie uns nun jenseits von Geburtstagen über die Realität reden.
- Ach, Herr Kauder, hören Sie doch auf. - Jetzt komme ich auf das zu sprechen, was von Ihnen beschlossen worden ist; denn das ist die Realität.
Frau Zypries kann stolz auf sich sein; denn sie hat Geschichte geschrieben. An deutschen Universitäten werden mittlerweile Seminararbeiten zum Thema ?Kann sich ein Student einen Seniorenteller einklagen?“ geschrieben.
Das ist wirklich spannend. Der Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Luftfahrtunternehmens hat neulich gesagt: Da möchte ich eine schöne Flugbegleitung einstellen und lande letztlich bei Herrn Glos.
- Dass Sie von den Grünen sich darüber freuen, ist mir klar. Dass das mit gesundem Menschenverstand aber nichts mehr zu tun hat, ist Ihnen leider nicht klar.
Falls Sie meinen, all das, was ich gerade gesagt habe, sei Realsatire, sage ich Ihnen: Das stimmt.
Da Herr Kauder vorhin von seinen Begegnungen mit jungen Frauen berichtet hat,
komme ich jetzt auf einen Brief zu sprechen, der mir von einem jungen Mann geschrieben worden ist.
- Auch das macht Freude. - In einer Anzeige, die in dieser Woche von zwei Anwälten für Arbeitsrecht im ?Harzkurier“ inseriert wurde,
heißt es: Seit dem 18. August 2006 ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft. Damit ergeben sich völlig neue Grundlagen im Hinblick auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld aufgrund von Diskriminierung. Denn egal, ob erfolglose Bewerbungen, abgelehnte Gehaltserhöhungen oder Beförderungen: Die Liste der Klagemöglichkeiten ist schier grenzenlos. - Die Folgen Ihrer Politik für den Mittelstand sind mehr Bürokratie und mehr Unfreiheit. Mit Ihrem Motto ?Mehr Freiheit wagen“ hat das aber nichts zu tun.
Um die Öffentlichkeit über den weiteren Ablauf zu informieren, weise ich darauf hin, dass wir heute Mittag eine ausführliche Debatte zur Außenpolitik führen werden. Herr Kollege Steinmeier ist im Augenblick noch nicht anwesend. Aber damit das klar ist, sage ich: Selbstverständlich werden wir in der Bilanz Ihrer Regierungszeit anerkennen, was Sie in Ihrer Außenpolitik Gutes getan haben. Das werden der Kollege Hoyer und andere, wenn wir diese Diskussion heute Mittag führen, tun. Daher kann ich mich nun auf die Innen- und Wirtschaftspolitik konzentrieren. Es wird also noch eine außenpolitische Debatte folgen, und zwar direkt im Anschluss an die Diskussion über diesen Einzelplan.
Zur Realität in Deutschland gehört, dass eine Diskussion über angeblich gefährliche Heuschrecken geführt wird, und dass Kollege Beck eine, wie ich finde, außerordentlich ernst zu nehmende und wichtige Debatte über die so genannte Unterschicht angestoßen hat. Das Ergebnis dieser Debatte ist erschreckend: Wir stecken immer mehr Geld in unseren Sozialstaat und in die Umverteilung, aber es kommt immer weniger bei den Bedürftigen an.
Die mangelnde Treffsicherheit unseres Sozialstaates muss unser Thema sein.
Allerdings sollten wir uns auch einem anderen Thema verstärkt zuwenden. Über Heuschrecken und die so genannte Unterschicht zu reden, ist das eine. Dabei vergessen Sie aber eines: die Mittelschicht. Gerade dazu müssten Sie sich in diesem Hohen Hause äußern. Die Regierung kümmert sich um alles Mögliche, aber um diejenigen, die morgens aufstehen, statt liegen zu bleiben, die hart arbeiten und all die Steuermittel erwirtschaften, über deren Verteilung wir im Deutschen Bundestag diskutieren, kümmert sie sich nicht mehr.
Frau Bundeskanzlerin, alles in allem haben Sie und Ihre Koalition heute nach dem Motto gehandelt: Wenn einen niemand lobt, muss man sich selbst loben. Das mag bei den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer Koalition für gute Stimmung sorgen.
Frau Bundeskanzlerin - ich habe gar keinen Zweifel daran, dass Sie Ihren Geburtstag feierlich begehen werden; Blumen haben Sie ja schon bekommen und auch Herr Kauder und Herr Struck werden noch ein Getränk zu sich nehmen -,
Sie mögen das erste Jahr Ihrer Koalition feiern.
Aber den Bürgern ist in Anbetracht von lauter Mehrbelastungen nicht zum Feiern zumute.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Carsten Schneider von der SPD-Fraktion.
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Westerwelle, wenn man Ihre Rede verfolgt hat, musste man den Eindruck gewinnen, wir befänden uns schon in der Hoch-Zeit des Karnevals - dabei stehen wir erst am Beginn.
Sie haben den Mut gehabt, auch auf ein paar Sachpunkte einzugehen. Dass allerdings wir als große Koalition Lob von Ihrer Seite bekommen, in dieser Erwartungshaltung bin ich heute Morgen nicht hierher gekommen und ich bin darin auch nicht enttäuscht worden.
Wir diskutieren hier nicht nur über ein Jahr große Koalition, sondern auch über ihre Grundlagen. Vorhin hat ein Redner gesagt, dass der Haushalt dafür das Schicksalsbuch ist. Ich glaube, dass diese große Koalition sich sehr viel vorgenommen hat. Gerade im Finanzbereich war es am schwersten, waren die Herausforderungen am größten. Allerdings haben sich dort auch die Erfolge am schnellsten eingestellt. Sehen Sie es mir nach, dass ich das auch in der Kontinuität der Zugehörigkeit der SPD zur Regierung begründet sehe und darin, dass der Bundesfinanzminister immer noch von der SPD gestellt wird und Peer Steinbrück heißt.
Es ist uns gelungen, das Ziel, das wir für 2009 hatten - das strukturelle Defizit zu halbieren -, bereits in diesem Jahr zu erreichen.
Das strukturelle Defizit des Bundes lag bei 60 Milliarden Euro. Wir haben nun eine Nettokreditaufnahme, die bei 19,5 Milliarden Euro liegt. Wenn man die Privatisierungserlöse hinzurechnet, liegen wir etwa bei 30 Milliarden Euro. Dies ist ein Erfolg, der so schnell nicht zu erwarten war und über den ich sehr froh bin. Ich bin der Meinung, dass wir insbesondere deswegen nicht in Sack und Asche gehen müssen, sondern stolz darauf sein können. Denn eine solide Finanzpolitik ist die Grundlage allen Handelns: für Vertrauen der Bevölkerung und der Wirtschaft und dafür, dass wir uns - was mir als Sozialdemokrat besonders wichtig ist - Chancengerechtigkeit und sozialen Ausgleich leisten können. Dies wird nur gehen, wenn wir die enormen Zinszahlungen - in diesem Jahr gut 38 Milliarden Euro - senken. Das wird nur gelingen, wenn wir tatsächlich einmal in eine Phase der Tilgung einsteigen.
Die Vorschläge, die von der Opposition gekommen sind, sind dafür nicht geeignet. Mir ist bis heute nicht klar, Herr Westerwelle: Sind Sie eigentlich gegen die Mehrwertsteuererhöhung als Ganzes - gegen alle drei Prozentpunkte - oder nur gegen einen? Gestimmt haben Sie gegen alle drei Prozentpunkte. Wofür sind Sie nun? Ein Prozent?
- Gut, null. Aber dann wäre der durchlaufende Posten, der 2007 zu einer Ausweitung der Ausgaben des Bundes führt, nämlich die 7 Milliarden Euro zur Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung, nicht möglich, wie Sie wissen.
Die vorgesehene Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 4,2 Prozent wäre dann nicht möglich. Sie ist nur möglich - die Bundeskanzlerin hat das vorhin vorgetragen - durch die Reformen der Agenda 2010, durch die bessere konjunkturelle Entwicklung und dadurch, dass wir die Arbeitslosenversicherung mit einem Zuschuss von 7 Milliarden Euro aus Steuermitteln unterstützen. Dies führt dazu, dass wir ein Ausgabenwachstum haben. Real, bereinigt um diesen Posten, beträgt das Ausgabenwachstum des Bundeshaushaltes 0,9 Prozent.
Die Inflationsrate liegt höher. Das heißt, Herr Westerwelle, real geben wir sogar weniger aus, trotz der Risiken, die wir zusätzlich abzusichern hatten und zu denen ich noch kommen werde.
Ich kann bei Ihnen keine Linie erkennen. Sie haben im Haushaltsausschuss Anträge gestellt mit einem Kürzungsvolumen von 8 Milliarden Euro. Doch wenn man sie genau betrachtet, muss man feststellen, dass diese Anträge keine Substanz haben. Sie haben nämlich zustimmt, dass wir die Kommunen bei den Kosten für die Unterkunft von ALG-II-Empfängern um 2,3 Milliarden Euro entlasten, um sie in die Lage zu versetzen, Kindertageseinrichtungen zu finanzieren; das ist mehr, als wir ursprünglich geplant haben. Sie haben auch dem geringeren Aussteuerungsbetrag - 1,1 Milliarden Euro weniger - zugestimmt. Das muss man von Ihren Vorschlägen schon wieder abziehen.
Dann noch zu einigen Ihrer Kürzungsvorschläge: Sie schlagen vor, die Steinkohlensubventionen um 600 Millionen Euro zu reduzieren - wohl wissend, dass es rechtskräftige Bescheide gibt, dass wir diese Summen zahlen müssen. Außerdem gibt es keine andere Subvention im Bundeshaushalt, die so stark degressiv angelegt ist, die sich in einem solchen Sinkflug befindet wie diese. Und, das finde ich besonders perfide, Sie wollen die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik - um 2,5 Milliarden Euro senken, also dort, wo insbesondere denjenigen geholfen werden soll, die es am nötigsten haben, dass wir sie nicht nur fordern, sondern auch fördern; Sie haben hier von ?Unterschicht“ gesprochen, was ich mir nicht zu Eigen machen will. Das ist übrigens fast die Hälfte der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik.
Ich kann für die Koalition und vor allem für die SPD sagen, dass wir eine solche Politik nicht mitmachen. Deshalb trägt dieser Haushalt auch nicht Ihre, sondern unsere Handschrift. Und das ist auch gut so.
Sie haben die Steuermehreinnahmen für den Bund in Höhe von 8 Milliarden Euro angesprochen. Man muss das aufklären und kann das nicht so stehen lassen: 2 Milliarden Euro davon waren im Bundeshaushalt bereits eingeplant, also vorweg etatisiert, weil absehbar war, dass die Steuerschätzung im November ein besseres Ergebnis als die Steuerschätzung im Mai - der Haushalt wurde erst im Juni beschlossen - bringen würde. Wir sind darin bestätigt worden. Von diesen 9 Milliarden Euro müssen Sie Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft und die Mittel des Eingliederungstitels abziehen. Somit bleiben genau 2,4 Milliarden Euro übrig. Sie haben wir genutzt, um die Nettokreditaufnahme auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung zu senken.
Ich glaube, das ist ein sehr großer und sehr schöner Erfolg, auf den wir stolz sein können. Nachdem ein Großteil der Verschuldung in Ihrer Regierungszeit entstanden ist - wir alle sind nicht frei davon, aber Sie haben den größten Teil zu verantworten -, hätte es Ihnen gut angestanden, wenn Sie von der FDP das einmal anerkannt hätten. Aber gut, das war nicht zu erwarten.
Ich glaube, die große Koalition ist sowohl in der Wirtschafts- als auch in der Finanzpolitik auf dem richtigen Weg.
Angesichts der guten konjunkturellen Situation sehe ich die Herausforderung, dass wir im Jahre 2008 nicht bei einer Neuverschuldung von 19,5 Milliarden Euro verbleiben können.
Die mittelfristige Finanzplanung, die diesem Haushalt zugrunde liegt, muss deutlich nach unten korrigiert werden. Das heißt, dass wir gerade die Zeiten eines guten wirtschaftlichen Wachstums, in denen wir uns gerade befinden - die Zahl der Arbeitslosen ist um 500 000 zurückgegangen, eine viertel Million Menschen mehr sind in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen -, nutzen müssen, um stärker zu konsolidieren. Das ist nicht nur eine Aufgabe für 2007, sondern das ist eine Aufgabe für die gesamte Regierungsperiode bis 2009. Das ist auch nicht nur eine Aufgabe des Bundesfinanzministers, sondern das ist eine Aufgabe des gesamten Kabinetts.
Die Koalition muss sich im Frühjahr damit noch einmal befassen; denn mit dem, was der Planung bisher zugrunde liegt, werden wir dem nicht gerecht. Bei den Kosten der Unterkunft gibt es Mehrausgaben. Das setzt sich bis 2010 fort.
Daneben gibt es unbeantwortete Fragen in der Gesundheitspolitik. Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte natürlich, dass es eine saubere Gegenfinanzierung für die Mehrausgaben im Gesundheitsbereich geben wird. Das Geld darf nicht einfach nur verteilt werden, sodass der Bundesfinanzminister am Ende schauen muss, wo es herkommt. Ich glaube, dieses Spiel kann man sich in der Koalition nicht leisten.
Ich bin mir sicher, dass uns dies gemeinsam gelingen wird.
Das alles findet natürlich nicht im luftleeren Raum statt. Man muss sich auch einmal genau anschauen, wo die durch die Konjunktur bedingten Steuermehreinnahmen, die wir in diesem Jahr haben, herkommen. Es geht vor allem um die Körperschaftsteuer, über die Herr Gysi vorhin hergezogen ist, indem er gesagt hat, sie sei ja so niedrig. Er ist jetzt nicht mehr da, vielleicht können Sie ihm das mitteilen: Im Jahre 2005 war der Ertrag höher als im Jahre 2000, also in der Boomphase, obwohl wir die Nominalsätze in vielen Bereichen gesenkt haben. Von daher bin ich sehr zuversichtlich, dass uns bei der Unternehmensteuerreform das Gleiche gelingen wird, nämlich ein wettbewerbsfähiges Steuersystem zu schaffen, das dazu führt, dass gerechterweise alle Unternehmen Steuern zahlen.
Neben der Entlastung für die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen, die von der Senkung des Eingangsteuersatzes besonders profitiert haben, sehe ich insbesondere auch bei den Unternehmen des Mittelstandes, die hier heute ebenfalls angesprochen wurden - auch von Ihnen, Herr Westerwelle -, eine besondere Entlastung. Die Besteuerung ist von durchschnittlich 25 Prozent auf 19 Prozent heruntergegangen. Das ist ein Erfolg dieser Regierung.
Schauen Sie sich die Körperschaftsteuerentwicklung in diesem Jahr an und stellen Sie sich die Frage, wo der Aufschwung und die Steuermehreinnahmen eigentlich herkommen. Man muss dabei wissen, dass die Isteingänge im Jahre 2006 auf den Steuerbescheiden von 2004 und 2005 beruhen. Zum einen gab es große Nachzahlungen und zum anderen fanden Anpassungen der Vorauszahlungen statt.
Von daher kann man durchaus zu Recht feststellen: Es ist ein Verdienst der rot-grünen Regierung Schröder, dass uns heute diese Steuereinnahmen zur Verfügung stehen.
Ich hoffe, dass die konjunkturbedingten Einnahmen von Dauer sind. Ich bin mir da nicht so sicher, aber ich hoffe, dass es in diesem Land wirtschaftlich weiter bergauf geht.
Sie haben in einem Punkt Recht, Herr Westerwelle: Wir sind nicht allein für diesen Aufschwung verantwortlich. Wir sind aber auch nicht ganz schuldlos daran. Trotzdem sind wir auch von der weltwirtschaftlichen Entwicklung abhängig.
Wir bewegen uns derzeit in einem sehr guten Umfeld: Der Haushalt 2007 geht von einem Wachstum von 1,4 Prozent aus. Die Auguren meinen, dass es wahrscheinlich noch höher ausfallen wird; sie gehen von 1,8 Prozent oder sogar etwas mehr aus. Ich hoffe, dass sich das bewahrheitet und dass die Entwicklung der Rohölpreise dem nicht entgegensteht, dass die amerikanische Wirtschaft eine sanfte Landung schafft und dass die Europäische Zentralbank und die amerikanische Notenbank neben der Geldwertstabilität noch andere Punkte im Blick behalten und somit diesen Kurs unterstützen.
Wenn ich das alles Revue passieren lasse, dann meine ich, dass wir sehr gut mit dem leben können, was die Koalition im ersten Jahr erreicht hat. In dem Etat sind das Elterngeld und die Ost-West-Angleichung der Regelsätze beim ALG II abgebildet. Beides hat die SPD durchgesetzt. Daneben gibt es auch viele Punkte, die die Union durchgesetzt hat. Alles in allem ergibt das einen bunten Strauß, der Klarheit und Farbe aufweist und einen Blick auf die Zukunft dieses Landes gestattet. Ich bin zuversichtlich, dass uns auch im nächsten Jahr ein erfolgreicher Haushalt gelingen wird und wir Ihnen weiter zu Ihrer Amtszeit gratulieren können, Frau Bundeskanzlerin.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen von der Fraktion Die Linke.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Da ich nur drei Minuten Redezeit habe,
spare ich mir das Lob für den Kulturstaatsminister zur Aufstockung seines Etats und auch die Details unserer Forderungen. Wir wollen nämlich 10 Millionen Euro mehr für die Produktionsförderung des nationalen Films und 480 000 Euro mehr für die Stiftung für das sorbische Volk.
Ich gehe stattdessen gleich grundsätzlich auf den Stellenwert der Kultur nach einem Jahr der neuen Regierung ein. Dabei fällt nämlich ein Widerspruch auf. Wir hören immer wieder, dass die Kultur ein wichtiges Anliegen darstellt. Aber wie kommt es dann, dass Kinder und Jugendliche immer weniger Zugang zu Sprache, Musik, Malerei, kurz: den Gestaltungsmöglichkeiten in allen musischen Feldern und vorhandenen Medien, haben, unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern? Sehen Sie denn nicht die zunehmende kulturelle Verarmung und Verrohung unserer Kinder und Jugendlichen? Bedenken Sie nicht den schrecklich hohen Preis, den wir alle dafür zahlen?
Um dem Anliegen Kultur gerecht zu werden, müsste es Kinderkulturhäuser als Anlaufstätten gerade für die vernachlässigten Heranwachsenden geben. Wir fordern deshalb 1 Milliarde Euro für ein Programm ?Kultur für Kinder“. Ein solches Programm ist dringend notwendig. Nach der Föderalismusreform muss neu überlegt werden, wie das Anliegen kultureller Bildung im Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen gefördert werden kann. Das kann nicht unmöglich sein.
Wenn Kultur wirklich ein Anliegen der Regierung ist, dann muss sie unseren Kindern endlich wieder vermittelt werden, zum Beispiel wie in den armen Zeiten nach Kriegsende, als es um den Aufbau unserer Demokratie ging. Heute geht es um den Erhalt unserer Demokratie. Bitte denken Sie in diesem Zusammenhang daran.
Nun weg vom Geld. Das Anliegen Kultur wirft auch die Frage nach dem Staatsziel Kultur als Signal, Verpflichtung und Appell an unser kulturelles Bewusstsein in dem Sinne auf, in dem die Bundeskanzlerin davon sprach, dass wir eine Kulturnation seien.
2005 hat die Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“ die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in das Grundgesetz empfohlen. Seit Anfang 2006 hängt ein entsprechender Antrag im parlamentarischen Räderwerk dieses Hauses fest. Nun sollen auf einmal Kultur und Sport als Staatsziele in der Verfassung verankert werden. Die Erpressung macht die Runde, das eine komme nur zusammen mit dem anderen. Sieht so das wichtige Anliegen Kultur der Bundesregierung, die ?Kulturnation Deutschland“ aus: Sport und Kultur als gefälliger, populärer Mix, das heißt, einen Bestandteil der Kultur, der wichtig und spannend sowie kommerziell erfolgreich ist, mit dem Unikat einfach zusammenzukoppeln, als ginge dies, als wäre das nicht prinzipiell zweierlei?
Anliegen Kultur der Regierung nach einem Jahr: Ich bitte Sie! Lassen Sie sich beim Wort nehmen! Staatsziel Kultur als Unikat in die Verfassung und ein großes Kulturprogramm für Kinder, das wäre etwas.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin Göring-Eckardt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir die heutige Debatte anschaue, dann drängt es mich, etwas zu einem Punkt zu sagen, der im weiteren Sinne mit Kultur zu tun hat, nämlich zur demokratischen Kultur. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie haben gesagt, wir seien gar nicht so schlecht, wie immer behauptet werde. Das sehen Sie so. Aber wir sehen es anders. Das eigentliche Problem ist - das muss man Ihnen am allermeisten vorwerfen -, dass Sie keine Ideen und Visionen haben, aus denen hervorgeht, wie dieses Land in zehn, 15 oder 20 Jahren aussehen soll, und für die Sie die Menschen begeistern wollen. Ich glaube, das ist das eigentliche Versäumnis, über das geredet werden muss. Es zeigt sich in den Umfragen betreffend die Zustimmung zur Demokratie. Nicht nur die Umfragewerte für die beiden großen Volksparteien sind gesunken, sondern auch die Zustimmung zur Demokratie an sich hat drastisch abgenommen. Das macht mich mindestens genauso unsicher und besorgt im Hinblick auf die Zukunft wie die hohen Arbeitslosenzahlen. Sie müssen das ernster nehmen. Gerade wenn wir über den Rechtsradikalismus reden, dürfen wir nicht vergessen, dass Programme wie Civitas und Entimon wichtig sind. Aber ob wir in der Lage sind, die Menschen für die Demokratie zu begeistern, ist mindestens genauso entscheidend.
Sie müssen an einer Stelle besonders darauf achten, worum es geht. Es ist sicherlich richtig, eine Politik zu machen, bei der man alles im Blick hat und beispielsweise solche Gruppen wie die über 50-Jährigen und die unter 25-Jährigen besonders herausstellt. Die entscheidende Frage ist aber, ob man sich um diejenigen am meisten kümmert, denen es in unserer Gesellschaft am schlechtesten geht und die es am schwersten haben. Das ist ein Maßstab für eine gute Politik in unserem Land.
Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie sich mehr um die Langzeitarbeitslosen und die Kinder kümmern, die in Deutschland dauerhaft in Armut leben, und zwar nicht erst seit gestern. Hier geht es um den Zugang zu Bildung. Damit bin ich wieder bei der Kultur; denn es geht um die Möglichkeit, die eigenen Talente zu entdecken, und zwar unabhängig vom Geldbeutel der Eltern und von ihren Fähigkeiten, die eigenen Kinder zu fördern.
Dem steht ein massiver Kulturabbau an ganz vielen Stellen entgegen - Thüringen ist hierfür ein Beispiel -, genauso wie ein Laisser-faire-Umgang mit Kultur, wie wir ihn gerade in unserer Bundeshauptstadt erleben. Denken Sie nur daran, wie in Berlin mit den Opernhäusern umgegangen wurde! Ich bin überzeugt, dass der Rücktritt von Herrn Schindhelm ein Alarmsignal ist. Aber darum geht es nicht allein. Das ist nur das, was wir in den bundesweiten Medien sehen. Wenn wir uns im Land umschauen, sehen wir, dass sehr viele Kulturinstitutionen nur noch deswegen überleben, weil sie mindestens die Hälfte der regulären Jobs, die sie zu vergeben haben, beispielsweise durch 1-Euro-Jobs ersetzen. Dadurch verbauen wir unseren Kindern und Jugendlichen Zugänge und dadurch geraten wir in eine ganz schwierige gesellschaftliche Situation, was auch mit der Kultur der Demokratie zu tun hat. Es geht nicht allein um das kulturelle Erbe, sondern es geht um die Zukunft unserer Kinder.
Wenn wir darüber sprechen, müssen wir die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler in unserem Land im Blick haben. Das will ich heute nur als Stichwort sagen. Ich hoffe sehr, dass wir in dieser Hinsicht mit den Koalitionsfraktionen gemeinsam vorankommen; denn ich habe den Eindruck, dass sich im letzten halben Jahr bzw. dreiviertel Jahr etwas getan hat, was das Wahrnehmen der sozialen Situation von Künstlerinnen und Künstlern angeht. Es dürfen aber nicht immer nur die Großen sein, sondern es muss um die Kleinen gehen, um diejenigen, die in den Regionen unseres Landes ganz besonders kreativ sind.
Ein Punkt, der mich verunsichert, auch wenn es um demokratische Kultur geht, muss heute angesprochen werden. Sie haben ganz am Ende der Haushaltsberatungen 750 000 Euro für das ?sichtbare Zeichen“ eingestellt, das Sie auch im Koalitionsvertrag verankert haben. Ich habe das Gefühl, dass das nicht ein sichtbares Zeichen ist, sondern eher ein seltsames Ding mit sehr verschwommenen Konturen.
Wir wüssten schon sehr gerne, was Sie eigentlich vorhaben und was Sie damit meinen. Ist das jetzt das sichtbare Zeichen, das sich Frau Steinbach wünscht? Ist es irgendeine Ausstellung? Ist es etwas ganz anderes? Wenn Sie, Herr Kulturstaatsminister, die Summe tatsächlich in diesem Haushalt einstellen, dann verlangen wir von Ihnen, dass Sie uns mitteilen, worum es dabei eigentlich geht.
Ich glaube, dass wir nicht die Einzigen sind, die das verlangen. Wir haben viele Diskussionen mit unseren polnischen Nachbarn und mit anderen Nachbarn über dieses Thema gehabt. Ich finde, auch sie haben verdammt noch einmal das Recht, zu wissen, was Deutschland in dieser Hinsicht eigentlich will. Das müssen Sie auf den Tisch legen. Das müssen Sie sagen, schon allein um die Verunsicherung, die es international gegeben hat, nicht noch weiter zu erhöhen. Sie tun uns allen damit keinen Gefallen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Eduard Oswald von der CDU/CSU-Fraktion.
Eduard Oswald (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wahr: Richtiges und Wahres muss man immer wiederholen. Man kann es nicht oft genug sagen: Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel und die von ihr geführte Bundesregierung haben in diesem Jahr eine ausgezeichnete Arbeit geleistet.
Angela Merkel hat heute eine überzeugende Bilanz mit guten Daten für Deutschland vorgelegt. Volker Kauder und Peter Struck haben in ihren Reden unterstrichen: Die Koalition wird diesen Weg weitergehen und das Notwendige und Richtige für unser Land tun. Die Arbeit war erfolgreich. Die Arbeitslosenzahl hat sich im Vergleich zum Vorjahr um nahezu eine halbe Million reduziert. Wenn der Einzelne beobachtet, dass sich die Situation in seinem Umfeld verändert, dass sein Nachbar eine Arbeitsstelle findet oder sein Sohn bei der Lehrstellensuche erfolgreich war, dann wird die Stimmung schon bald die viel bessere Lage widerspiegeln.
Die Koalition ist angetreten, um die großen Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen: Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, demografischer Wandel und Veränderungsdruck der Globalisierung. Es ist die Chance dieser Koalition, dies auch zu tun. Wir wissen, dass man auf dem Weg durch das politische Leben nicht immer den Wind im Rücken haben kann. Trotzdem müssen wir Kurs halten und im Interesse unseres Landes das Notwendige tun.
Wir haben die richtigen Weichenstellungen vorgenommen: Wir stärken Familien durch das Elterngeld. Wir machen die sozialen Systeme stabil. Wir haben die Bedingungen verbessert, um in Sicherheit zu leben. Wir bauen die Infrastruktur in Deutschland aus. Wir sorgen für neuen Schwung bei Forschung und Technologie. Horst Seehofer ordnet die Agrarpolitik neu und gibt den ländlichen Räumen Perspektive.
Sie werden doch verstehen, dass ich als CSU-Politiker die CSU-Minister in besonderer Weise lobe und würdige.
Sanieren, investieren und reformieren - die Kanzlerin hat es angesprochen -: Mit diesem mutigen Dreischritt wurden gesetzgeberische Maßnahmen verabschiedet. Mit der Föderalismusreform, der Haushaltssanierung und der Gesundheitsreform hat diese Koalition schwergewichtige Themen angepackt und zu Lösungen geführt. Die ersten Erfolge sind für jedermann sichtbar und weitere werden folgen.
Wenn ich als ersten Erfolg das Wirtschaftswachstum nenne, dann gilt natürlich das, was Ludwig Erhard gesagt hat: Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts.
Die Konjunkturprognosen sind für das laufende und auch für das kommende Jahr sehr erfreulich. Auch im nächsten Jahr bleiben die Wachstumskräfte trotz der notwendigen Mehrwertsteuererhöhung intakt. Investoren und Verbraucher blicken wieder optimistisch in die Zukunft. Die kräftige Zunahme der Investitionen ist doch Ausdruck des Vertrauens in den Kurs der Koalition, auch wenn die Opposition das bestreitet.
Der zweite Erfolg zeigt sich auf dem Arbeitsmarkt. Der konjunkturelle Aufschwung hat auch die Binnenwirtschaft, also die privaten Investitionen und den Arbeitsmarkt, erfasst. Die Arbeitslosenquote sinkt auf den tiefsten Stand seit vier Jahren und wir liegen endlich wieder unter 10 Prozent. Natürlich wissen wir: Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Wir wollen jedem dabei helfen, dass er wieder Arbeit findet.
Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen nimmt werktäglich um über 1 000 zu. Darum geht es doch. Das ist eine echte Wende und wir werden auch im kommenden Jahr einen weiteren Aufwärtstrend haben. Der Aufschwung besitzt mittlerweile - das ist für uns das Wichtige - ein breites Fundament.
Wir werden den Beitrag für die Arbeitslosenversicherung noch stärker senken, als wir geplant hatten. Damit sinkt die Abgabenbelastung. Den Arbeitnehmern und Arbeitgebern stehen im kommenden Jahr 17 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Die Chancen der Menschen auf Arbeit werden erhöht. An dieser Stelle danke ich auch den Tarifpartnern für ihr verantwortungsvolles Handeln.
Der dritte Erfolg ist der Bundeshaushalt. Ich sage noch einmal - was gut ist, muss man immer wieder sagen -: Mit einer Nettokreditaufnahme von 19,5 Milliarden Euro werden wir den Haushalt 2007 beschließen. Dies ist die niedrigste Neuverschuldung seit der Wiedervereinigung. Dennoch muss uns allen bewusst sein, dass dies erst der Einstieg in die Sanierung ist. Weitere Schritte müssen folgen;
denn ein konsolidierter Haushalt ist und bleibt eine wichtige Voraussetzung für einen handlungsfähigen Staat und ist eine moralische Verpflichtung für die Handlungsfreiheit kommender Generationen.
Also soll niemand glauben, wir seien bereits über den Berg. Deutschland hat noch 1 500 Milliarden Euro Schulden und wir haben noch nicht einmal mit dem Abtragen dieses Berges begonnen. Er wird jetzt aber langsamer höher als bisher. Es muss klar sein: Nur wohlgeordnete öffentliche Finanzen ermöglichen eine gute wirtschaftliche Entwicklung.
Wir wissen - ich sage das nachdenklich -, dass die Erwartungen an den Staat in unserem Land enorm sind. Er soll auf der einen Seite nicht nur Garant für Sicherheit und Freiheit sein, sondern auch materiellen Wohlstand ermöglichen, für Nachhaltigkeit und sozialen Ausgleich sorgen und insgesamt Gerechtigkeit schaffen. In dieser zunehmend globalisierten Welt - Volker Kauder hat in seiner Rede sehr intensiv darauf hingewiesen -, in der Grenzen unschärfer werden und internationale Herausforderungen zunehmen, wird es aber für den Staat immer schwieriger, einem umfassenden Steuerungsanspruch gerecht zu werden. Voraussetzung dafür sind also wirksame Ordnungsstrukturen und ein kluger Einsatz der knappen finanziellen Mittel. Das ist unser Auftrag.
Deswegen haben wir vier wichtige Richtungsentscheidungen für einen handlungsfähigen Staat getroffen: Das ist erstens die Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, zweitens die Konsolidierung des Bundeshaushalts, drittens der Abbau von Bürokratie als Daueraufgabe und viertens eine bessere Zusammenarbeit von Regierung und Parlament im Bereich der europäischen Integration.
So wie wir die Föderalismusreform erfolgreich durchgeführt haben, so müssen wir die Finanzbeziehungen von Bund und Ländern neu ordnen. Das wird nicht einfach werden. Aber wir müssen dies entschlossen angehen. Es wäre gut, wenn sich alle Fraktionen auch hieran beteiligten.
Noch machen manche internationale Unternehmen einen Bogen um Deutschland, wenn es um Neuinvestitionen geht. Vor allem die hohen Steuersätze schrecken ab. Der Abstand zu Ländern mit niedrigen Steuersätzen ist noch zu groß, als dass unser Land mit seiner hervorragenden Infrastruktur manchen Steuernachteil ausgleichen könnte. Deswegen ist die Unternehmensteuerreform so wichtig. Es handelt sich - darum geht es - um einen wichtigen Baustein für mehr Arbeitsplätze und Investitionen in unserem Land. Durch die Unternehmensteuerreform wird die Steuerbelastung auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau gesenkt. Gleichzeitig werden Maßnahmen getroffen, durch die die Besteuerung in Deutschland erwirtschafteter Gewinne in unserem Land sichergestellt wird.
Wir brauchen auch eine Abgeltungsteuer. Kontrollverfahren könnten somit entfallen. Die Ämter würden entlastet. Bürokratieabbau fände statt und damit würden den Anlegern attraktive ertragsteuerliche Rahmenbedingungen geboten.
Unternehmensteuer und Abgeltungsteuer sind geeignet, das vorhandene Potenzial des Finanzplatzes Deutschland auszubauen und seine Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Wir müssen mehr über den Finanzplatz Deutschland reden. Die Gestaltungskraft dieser Koalition ist auch beim Ausbau privater Beteiligungs- und Risikokapitalfinanzierung gefragt. Wir müssen mit einem Private-Equity-Gesetz die Voraussetzungen in den deutschen Unternehmen verbessern, innovative Produkte und Dienstleistungen schneller zur Marktreife zu bringen. Ziel muss es sein, Deutschland in einer globalisierten Welt besser zu positionieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Das steht über allem, was wir wollen.
Abgerundet werden die Eckpunkte zur Unternehmensteuerreform durch die erbschaftsteuerliche Begünstigung der Unternehmensnachfolge. Die Zahlen sprechen für sich: In Deutschland werden Jahr für Jahr mehr als 46 000 Unternehmen mit rund 444 000 Beschäftigten aus Altersgründen vererbt, Tendenz steigend. Die dabei derzeit fällige Erbschaftsteuer kann häufig nicht aus den vorhandenen liquiden Mitteln gezahlt werden. Die Folge: Die Erbschaftsteuer ist aus der Substanz zu entrichten, sie kann so große Teile des Vermögens vernichten und das Unternehmen samt seinen Arbeitsplätzen in seiner Existenz bedrohen. Das kann doch nicht in unserem Interesse sein.
Der Mittelstand - wir haben das heute schon gehört - ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Die rund 3,5 Millionen kleineren und mittleren Unternehmen sind eine treibende Kraft für Wachstum und Beschäftigung. Wir müssen alles tun, um dabei zu helfen. Die von uns beschlossene Mittelstandsinitiative verbessert daher die Rahmenbedingungen für diese Unternehmen. Dank an Bundeswirtschaftsminister Michael Glos für seinen Einsatz und seine Arbeit für die Wirtschaft in unserem Lande!
Wir waren auch im Hinblick auf die kommunalen Belange erfolgreich. Die Unternehmensteuerreform sichert die Steuerkraft und die Finanzierungsbasis der Kommunen.
Die kommunale Finanzkraft ist auch deswegen für den Aufschwung so wichtig, weil 60 Prozent aller öffentlichen Investitionen von Kommunen erbracht werden.
Wir werden den Weg für strukturelle Reformen in unserem Land konsequent weitergehen. Gleichzeitig wollen wir Mut zu Anstrengungen machen und das Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes stärken. Wir preisen nicht Wundermittel und schüren keine Illusionen, sondern beraten gründlich und entscheiden vernünftig. Was ist daran schädlich, dass die Willensbildung in einer großen Koalition mit so großen Partnern etwas zäh verläuft?
Nach mittlerweile einem Jahr der Zusammenarbeit haben wir uns auch eingespielt.
Die freundschaftlichen Bekundungen der Fraktionsvorsitzenden sind das eine. Jetzt müssen wir auch auf den verschiedenen Arbeitsebenen noch mehr dafür sorgen, dass manches stärker verzahnt wird und dass die menschlichen Kontakte intensiver werden.
Dann soll es an Ergebnissen natürlich nicht mangeln.
Nicht wer zwischendurch bei Meinungsumfragen gut abschneidet, lieber Herr Westerwelle, sondern wer am Schluss das Vertrauen der Menschen als Ergebnis einer soliden, zukunftsorientierten Politik erhält, hat den Erfolg.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Eduard Oswald (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss und zitiere Saint-Exupéry, der so wunderschön gesagt hat:
Man kann nicht in die Zukunft schauen, aber man kann den Grund für etwas Zukünftiges legen - denn Zukunft kann man bauen.
Genau das wollen wir weiter tun.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto von der FDP-Fraktion.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
In großer Finsternis freut man sich bereits über eine kleine Kerze. In der Finsternis dieser Bundesregierung ist das Wirken des Kulturstaatsministers immerhin ein Lichtblick. Was Herr Neumann bei den Haushaltsberatungen erreicht hat, insbesondere bei der Filmförderung, nötigt uns Respekt ab.
3,5 Prozent Steigerung ist mehr, als seine drei Vorgänger erreicht haben. Das sollte man auch als Angehöriger einer Oppositionspartei hier betonen.
Gerade weil die Haushaltsberatungen für die Kultur durchaus ein Erfolg waren, verstehe ich nicht, Herr Kollege Kampeter, dass man sich mit kleinen Mätzchen an vermeintlichen Kritikern schadlos hält. Das Faxverbot für den Deutschen Kulturrat ist ein Späßchen gewesen. Mit Späßchen sollte man aber in einem sensiblen Bereich wie diesem, bei dem es um die Autonomie von Institutionen geht, vorsichtig sein. Deswegen bitte ich ausdrücklich darum, das Faxverbot, über das sich hier schon manche Männerwitze ranken, zurückzunehmen und die erfolgreiche Arbeit des Deutschen Kulturrats nicht mit solchen Maßnahmen zu schwächen.
Die geringe Redezeit, die mir zur Verfügung steht, erlaubt es mir nicht, hier längere Ausführungen zur Vergangenheit und Gegenwart zu machen; vielmehr möchte ich mich einer Zukunftsaufgabe zuwenden. Der Regierende Bürgermeister und künftige Kultursenator von Berlin, Klaus Wowereit, hat uns in seiner grenzenlosen Güte eine der drei Berliner Opern, und zwar die Staatsoper Unter den Linden, sozusagen als Weihnachtspräsent mit der Begründung vor die Füße gelegt, Berlin habe nur noch das Geld, zwei Opern zu finanzieren. Man muss Klaus Wowereit daran erinnern, dass es glasklare Zusagen von ihm selbst und von dem von ihm geführten Senat aus der Zeit, als der Hauptstadtkulturvertrag abgeschlossen wurde, gibt. Klaus Wowereit wird wortbrüchig, wenn er sich jetzt nicht an diese Zusagen hält.
Es ist aber wohl auch so, dass wir alle hier gesündigt haben, indem wir dem Hauptstadtkulturvertrag damals nicht lebhaft widersprochen haben. Es war nämlich absehbar, dass Berlin mit den vorhandenen Mitteln die Staatsoper Unter den Linden nicht sanieren kann. Es war auch absehbar, dass das Konzept nicht tragfähig ist. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Auch wenn sich Berlin seiner Verantwortung zu entziehen droht, können wir uns hier nicht einfach zurücklehnen und sagen, das sei das Problem Berlins. Die Kultur in Berlin, insbesondere die Staatsoper Unter den Linden, die dringend saniert werden muss, würde dann unter die Räder kommen.
Was müssen wir tun? Es müssen sich alle Beteiligten - dazu gehören nicht nur der Senat und der Kulturstaatsminister, sondern auch die beiden Parlamente - an einen Tisch setzen und darüber nachdenken, wie die Hauptstadtkulturförderung endlich auf eine solide Grundlage gestellt werden kann. Es muss Schluss sein mit einer Kulturpolitik nach Haushaltslage. Es muss Schluss damit sein, dass Institutionen nach zufälligen Gesichtspunkten verteilt werden: Hauptstadtkulturfonds hierhin, Akademie der Künste dahin usw. Es muss nach nachvollziehbaren sachlichen Kriterien entschieden werden, wer in Berlin was fördert, also was Berlin zu tun hat und was der Bund zu tun hat.
Letzte Bemerkung von mir: Es hat sich gerächt, dass wir es zugelassen haben, dass damals die beiden Regierungen ohne Beteiligung der Parlamente einen Hauptstadtkulturvertrag abgeschlossen haben, dessen Wortlaut wir übrigens immer noch nicht kennen. Wir brauchen einen Staatsvertrag zwischen dem Land Berlin und der Bundesrepublik Deutschland unter Beteiligung der Abgeordneten. So würde alles auf eine solide Grundlage gestellt. Meine Forderung an Herrn Neumann lautet: Tun Sie es jetzt, bevor der Schaden in Berlin noch größer wird! Meine Aufforderung an Herrn Wowereit lautet: Stecken Sie den Kopf nicht weiter in den Sand! Sie werden sich Ihrer Verantwortung noch stellen müssen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Steffen Kampeter das Wort.
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Herr Kollege Otto, ich möchte ausdrücklich hervorheben, dass ich es für eine noble Geste halte, dass Sie als Oppositionsvertreter die hervorragende Arbeit von Bernd Neumann als Kulturstaatsminister zu Beginn Ihrer Rede erwähnt und insbesondere sein Wirken im Zusammenhang mit der materiellen Ausstattung der Kultur positiv bewertet haben. Dies ist angesichts anderer Redebeiträge vonseiten der FDP-Fraktion bezüglich Noblesse, Großzügigkeit und Geste eine positive Veränderung der Debattenbeiträge.
Sie haben in einem Punkt Kritik geübt, Herr Kollege Otto. Ich möchte der guten Ordnung halber feststellen: Alle von Ihnen kritisierten Beschlüsse sind mit Zustimmung der FDP im Haushaltsausschuss erfolgt.
Es ist schon einigermaßen verwunderlich, dass Sie - bei allen noblen Gesten - jetzt hier als Sprecher Ihrer Fraktion bestimmte Beschlüsse, die Sie im Übrigen auch falsch interpretieren, in dieser Art und Weise kritisieren. Es sollte kein falscher Eindruck bestehen bleiben: Alle Beschlüsse, auch die von Ihnen kritisierten, sind mit Zustimmung der FDP-Bundestagsfraktion im Haushaltsausschuss erfolgt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zur Erwiderung Kollege Otto.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
Herr Kollege Kampeter, für die Blumen zum Eingang Ihrer Kurzintervention bedanke ich mich. Ich sehe mich aber trotzdem veranlasst, die Dinge hier richtig zu stellen.
Sie haben gesagt, ich hätte Beschlüsse falsch interpretiert. Natürlich bin ich darauf vorbereitet. Ich lese einmal vor, was auf Ihre persönliche Initiative hin als Haushaltsvermerk aufgenommen worden ist:
Aus dem Ansatz zu ...
- gemeint ist der Deutsche Kulturrat -
dürfen vom Zuwendungsempfänger keine Ausgaben für den Versand von Faxen geleistet werden.
Das ist Pillepalle, kleinliches Gezänk. Weil Ihnen Herr Zimmermann und der Deutsche Kulturrat nicht gefallen, wollen Sie dort das Versenden von Faxen verbieten.
Für den Deutschen Kulturrat ist das ein Problem, weil er keine freien Mittel hat, mit denen er das finanzieren könnte. Ich sage Ihnen: Wenn wir so anfangen - wenn Herr Staeck von der Akademie der Künste uns nicht gefällt, dann verbieten wir ihm zu telefonieren, und wenn uns der Herr Knabe in Hohenschönhausen nicht gefällt, dann verbieten wir ihm den Kauf von Briefmarken -, dann ist das kein guter Umgang. Nach meiner Kenntnis hat es einen solchen Vorgang in der Geschichte des deutschen Haushaltes noch nicht gegeben. Das ist ein kleinliches Gezänk. Ich fordere Sie auf, das zu unterlassen.
Sie haben eben von Noblesse gesprochen. Lieber Herr Kampeter, haben Sie die Noblesse und nehmen Sie diesen Scherz, der im Grunde auf eine Zäsur hinausläuft, zurück! Dann sind wir beide in dieser Sache quitt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelica Schwall-Düren von der SPD-Fraktion.
Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Kommen wir von dem kleinlichen Gezänk wieder zu den wichtigen und großen Fragen zurück. Viele meiner Kollegen und Kolleginnen haben schon darauf hingewiesen, dass wir nach einem Jahr großer Koalition eine positive Bilanz ziehen können. Sie werden verstehen, dass auch ich noch einmal betone, dass die Grundlagen für den Aufbruch in die Zukunft schon unter der letzten Regierung mit der Agenda 2010 geschaffen worden sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das DIW hat in den letzten Tagen festgestellt, dass das positive Wachstum keineswegs auf einem Vorzieheffekt aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung beruht, sondern auch eine Auswirkung der gestiegenen Binnennachfrage und der weltwirtschaftlichen Konjunktur unter positiven Rahmenbedingungen in diesem Land ist. Daran ändern auch Miesmacher wie Herr Brüderle und Herr Westerwelle nichts; denn die Menschen in unserem Land schauen wieder mit mehr Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft. Das ist das Wichtigste.
Das positive Wachstum in Deutschland ist auch ein wichtiger Impuls für Europa.
Aber auch Europa hat über Jahrzehnte unser Land reicher gemacht. Wir verdanken unseren Wohlstand und unsere Arbeitsplätze ganz wesentlich der Tatsache, dass wir unsere Waren in 25 - bald 27 - Mitgliedstaaten ohne Zölle und Grenzbarrieren ausführen können. Der Exportweltmeister Deutschland liefert fast zwei Drittel seiner Exporte in Länder der EU. Nach Angaben des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sichern die freien Grenzen für Waren und Produkte in der EU circa 5,5 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland.
Deutschland und die EU stehen aber im harten internationalen Wettbewerb globalisierter Ökonomie. Die vielen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, machen den Menschen auch Angst. Junge wie Ältere machen sich zu Recht Sorgen über die Auswirkungen komplexer Fragestellungen auf ihr persönliches Leben: Globalisierung, Klimawandel, Altern der Gesellschaften, Bedrohung der Sicherheit durch Terrorismus, nicht immer gelungene Integration von Migranten sowie sozialer Druck durch erbarmungslosen Wettbewerb. Dies trifft insbesondere einfache Arbeitnehmer in Fertigungsbranchen und Menschen mit geringer Qualifizierung.
Wir können und wollen aber nicht auf Basis von niedrigen Kosten konkurrieren. Wollten wir dies versuchen, müssten wir die Strukturen der sozialen Sicherheit, auf denen Europas Gesellschaften aufbauen, dramatisch reduzieren oder abschaffen. Das kommt für uns überhaupt nicht infrage.
Es wäre ein Weg in den politischen und ökonomischen Untergang der EU.
Ich darf an dieser Stelle aus einem Interview mit Jean-Claude Juncker Anfang dieser Woche in der ?Frankfurter Rundschau“ zitieren:
Es wird der Zeitpunkt kommen, dass sich große Teile der Arbeitnehmer gegen die systematische Verunsicherung wehren werden, weil sie sich in diesem Europa und in ihren nationalen Staaten nicht mehr aufgehoben fühlen.
Deshalb schlussfolgert Juncker:
Die Europäische Union muss auch eine Sozialunion werden.
Recht hat er.
Dabei haben viele Menschen längst akzeptiert, dass gegen Mikrochips und Internet keine künstlichen Schutzzäune helfen. Egal ob diese von links oder gar von rechts gezogen werden: Beides endet im Kreis. Eine Politik der Insel der Glückseligen entbehrt jeder rationalen Analyse. Sie muss scheitern; denn letztlich verzichtet sie auf aktive und nachhaltige politische Gestaltung. Sie nimmt die Menschen mit ihren Sorgen nicht wirklich ernst und verstärkt populistische Grundströmungen.
Es ist klar, dass die Globalisierung den weltweiten Wohlstand vergrößert hat. Um an dieser Entwicklung aber auf Dauer teilhaben zu können, müssen die richtigen Weichen gestellt werden. Die Menschen wissen: Es braucht Mut zur Veränderung und Mut, die Chancen dieser neuen Entwicklung gezielt zu ergreifen. Aufgabe der Politik ist es, mit diesem Mut und mit voller Schaffenskraft voranzugehen, dabei die Menschen zu überzeugen und mitzunehmen.
Deutschland übernimmt mit der EU-Ratspräsidentschaft und der Präsidentschaft in der G 8 im kommenden Jahr besondere Verantwortung für die EU und für die politische Gestaltung der Globalisierung. Unsere gemeinsame Politik ist von dem Willen geprägt, die Vertiefung und Erweiterung des europäischen Einigungsprozesses mit Entschlossenheit und Augenmaß voranzutreiben. Wir sind bereit, uns für eine gerechtere Welt einzusetzen. Ich nenne hier zwei Stichworte: WTO und Afrika-Strategie.
Spürbar sind die großen Erwartungen, die unsere Partner mit der deutschen Präsidentschaft verbinden. Dabei beziehe ich mich nicht ausschließlich auf die Erwartungen hinsichtlich des Verfassungsvertrages, auf den wir in der Europäischen Union so dringend angewiesen sind. Ich will hier auch einen Aspekt ansprechen, der mit Innovation zu tun hat, nämlich die europäische Energiestrategie. Es kommt hier nicht darauf an - darin unterscheide ich mich sicher von Herrn Kauder -,
dass es in der Europäischen Union eine Festlegung der Nationalstaaten auf einen Energiemix gibt; denn die in Deutschland durch Atomkraftwerke erzeugte Energie könnte mittelfristig durch technologische Innovationen ersetzt werden. Wir brauchen nur die Energieerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung zu verdoppeln und schon hätten wir einen Ersatz geschaffen.
Es kommt aber sehr wohl darauf an, dass wir uns in der Europäischen Union auf Innovationsstrategien verständigen und dafür sorgen, dass unsere Energielieferanten in langfristige, sichere Beziehungen zu uns treten. Deswegen ist der Gipfel am Freitag dieser Woche so wichtig. Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, dafür einzutreten, dass die Sorgen Polens so ausgeräumt werden, dass das Veto für das Verhandlungsmandat aufgehoben wird.
Da wir in nächster Zeit, im Dezember, ausführlich über die EU-Ratspräsidentschaft beraten, möchte ich mich heute auf einige wenige Aspekte beschränken, die mit unserer innerstaatlichen Agenda verknüpft sind. Hiermit meine ich ganz besonders das europäische Gesellschaftsmodell, das wir praktizieren, um einen sozialen Ausgleich in unserer Wettbewerbsgesellschaft zu erzielen. Dieses Modell umfasst solidarisch finanzierte Systeme der sozialen Sicherung gegen die persönlichen Lebensrisiken. Es hat Elemente der Wirtschaftsdemokratie durch Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung. Es garantiert den Zugang für alle Bürger zu bezahlbaren Dienstleistungen von hoher Qualität und die Bereitstellung öffentlicher Güter.
Den Herausforderungen, vor denen unser Gesellschaftsmodell steht, müssen wir mit konkreter innovativer und nachhaltiger Politikgestaltung begegnen. Dazu brauchen wir einerseits wirtschaftliche Dynamik und Wachstum und andererseits eine Ausweitung unseres Begriffs und unserer Praxis von sozialer Gerechtigkeit. Beides geht nicht ohne oder gegen die EU; beides geht nur mit der EU. Wir werden deshalb den nationalen, europäischen und internationalen Herausforderungen auch weiterhin durch kohärentes politisches Handeln auf den unterschiedlichen Ebenen begegnen. Dabei sind die Lissabonstrategie der Europäischen Union und das nationale Reformprogramm die europäische bzw. deutsche Antwort.
Heute ist schon von unserer Politik für den Mittelstand und die Familien, von unserer Politik für Forschung und Innovationen sowie von unserer koordinierten Wachstumspolitik mit sozialem Gesicht gesprochen worden. Für die EU als globalen Akteur dürfen dabei die Menschen nicht zum Objekt des Geschehens werden, sondern müssen durch Befähigung zur Teilhabe und Teilnahme zum Subjekt werden. Bildung ist die Grundvoraussetzung und muss stets auf der Höhe der Zeit sein. Die Bildungsinhalte selbst müssen die Bürger zu einer aufgeschlossenen und mutigen Haltung gegenüber Innovationen anspornen. Das Wissen unserer Bürger ist entscheidend für unseren Erfolg. Aber von ebenso großer Bedeutung ist eine Haltung, die von Aktivität und Selbstbewusstsein geprägt ist; das sage ich gerade vor dem Hintergrund des Gewaltaktes in Emsdetten. Bildung muss ganzheitlich verstanden werden. Wir müssen für Wissen, soziale und kulturelle Kompetenz sowie psychische Gesundheit eintreten.
Wirtschaft braucht gute Rahmenbedingungen für Innovationen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, uns mit weiteren eigenen Deregulierungsvorschlägen und Beiträgen in die Arbeit an einer besseren EU-Rechtsetzung einzubringen.
Unsere Leitlinie ist, bei überflüssiger Bürokratie einzugreifen. Wir gehen nicht nach dem neoliberalen Motto ?Der Markt wird alles regeln“ vor, vielmehr wollen wir den gesellschaftlich gebotenen ordnungspolitischen Bedarf als Ausgangspunkt nehmen. Der Markt regelt viel, aber nicht die sozialen Beziehungen von Menschen.
Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten auch deshalb so erfolgreich gewesen, weil der soziale Zusammenhalt als entscheidender Produktionsfaktor akzeptiert wurde. Sozialer Zusammenhalt und ökonomische Stärke sind zwei Seiten einer Medaille. Nicht allein wirtschaftliche Interessen bestimmen, wo es lang geht; sie müssen gegen soziale, umweltpolitische und kulturelle Interessen abgewogen werden.
Wir unterstützen das Europäische Parlament und Kommissar Günter Verheugen in der Forderung, hier besser und schneller voranzukommen. Für uns Sozialdemokraten ist besonders wichtig, schon im Vorgriff auf die Gesetzgebung ihre sozialen Folgen sichtbar zu machen. Eine entsprechende Regelung könnte auch helfen, den sozialen Akzent eines Verfassungsvertrags sichtbarer zu machen.
Die weitere Öffnung der europäischen Märkte hat logischerweise Folgen für den europäischen Arbeitsmarkt. Es reicht uns nicht, mithilfe der Lissabonstrategie in erster Linie den Unternehmen besser zu helfen; denn wir haben berechtigte Zweifel an der Grundidee, dass es den Arbeitnehmern gut geht, sobald es den Unternehmen gut geht.
Arbeitnehmer sind keine frei verfügbare Masse. Wer solchen Ideen das Wort redet, untergräbt europäische Grundwerte
und riskiert die Destabilisierung der Gesellschaften.
Dieser Ansatz, der von Teilen der Kommission und einigen Mitgliedstaaten verfolgt wird, orientiert sich wohl eher am neoliberalen Wirtschaftsverständnis. Als Parlamentarier halten wir auch hier am Primat der Politik fest.
Politik muss Mechanismen schaffen und Instrumente entwickeln, damit die Gestaltungskraft der Politik die Globalisierung in die richtigen Bahnen lenkt.
Auf der europäischen Ebene wird es im kommenden Jahr eine Reihe von legislativen Initiativen geben, die ganz konkret in das Leben der Menschen eingreifen und Sicherheit mit Wandel - bekannt unter dem Stichwort ?Flexicurity“ - verbinden wollen. Darum müssen wir uns intensiv kümmern, wie wir das bereits im vergangenen Jahr getan haben.
Ich will, um ein Beispiel zu nennen, noch einmal auf die Dienstleistungsrichtlinie zu sprechen kommen. In entwickelten Volkswirtschaften erlangt der Dienstleistungsbereich ein immer stärkeres Gewicht. Die Europäische Union wird ihr Wachstumspotenzial nur dann ausschöpfen können und dauerhaft ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten, wenn sie dieses Potenzial nutzt. Gleichzeitig darf dies aber nicht dazu führen, dass Europa sein soziales Gesellschaftsmodell und damit seinen strategischen Vorteil gegenüber anderen Volkswirtschaften aufgibt.
Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das politisch gestaltet werden muss. Die breite öffentliche Diskussion zur Dienstleistungsrichtlinie ist deshalb nicht, wie von einigen behauptet, ein Zeichen der mangelnden Reformbereitschaft in der Europäischen Union, sondern ein Zeichen der Vertiefung und Demokratisierung der EU.
Dem Europäischen Parlament ist es gelungen, die Dienstleistungsrichtlinie vom Kopf auf die Füße zu stellen und einen Rahmen für den Interessenausgleich zwischen dem notwendigen Wettbewerb und einem angemessenen sozialen Schutz zu schaffen.
Dieser Rahmen muss nun von den nationalen Entscheidungsträgern ausgefüllt werden. So bleibt es den Mitgliedstaaten aufgegeben, Lohndumping durch Mindestlöhne, die für inländische und ausländische Arbeitnehmer gleichermaßen gelten, zu verhindern. Kurz gesagt: Wenn wir zum Beispiel die Löhne der von ausländischen Dienstleistungserbringern entsandten Arbeitnehmer in deutschen Schlachthöfen kritisieren, liegt es an uns, dies zu ändern, indem wir über Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen, die Umsetzung der Entsenderichtlinie oder über gesetzliche Mindestlöhne für ein faires Miteinander der europäischen Arbeitnehmer sorgen.
Wir haben damit angefangen, indem wir für den Gebäudereinigerbereich die Entsenderichtlinie endlich in nationales Recht umgesetzt haben. Auf europäischer Ebene müssen wir dafür sorgen, dass die nicht gewollte und unsoziale Deregulierung nicht wieder durch die Hintertür auf die Tagesordnung kommt, zum Beispiel zur Verhinderung von Kontrollen im Entsenderecht.
Die Tatsache, dass sich die Europäische Union mit den Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen beschäftigen wird, deutet darauf hin, dass durch die wirtschaftliche Integration in der Europäischen Union der Bereich der Daseinsvorsorge immer stärker europäischen Einflüssen unterliegt. Wir müssen diesen Prozess in Europa politisch gestalten. Nur so können zum einen die Wachstumspotenziale des Binnenmarktes bei den Dienstleistungen erschlossen werden, nur so kann zum anderen der Zugang aller Bürger und Unternehmen zu hochwertigen Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge in hoher Qualität und zu angemessenen Preisen auch künftig gewährleistet werden. Der Diskussionsprozess in Europa hierzu muss fortgesetzt werden. Wir müssen ihn politisch gestalten und dürfen uns nicht auf reine Abwehrschlachten unter dem lauten Ruf nach Subsidiarität zurückziehen.
Sonst besteht die Gefahr einer schleichenden Deregulierung.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich die Arbeiten im Europäischen Parlament zur künftigen Gestaltung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ausdrücklich.
Diese Debatte müssen wir auch auf der nationalen Ebene führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wodurch sind wir motiviert? Menschen brauchen Arbeit - in Deutschland, Europa und anderswo. Nur sie sichert langfristig den Lebensunterhalt. Wir brauchen mehr Arbeit und qualifizierte Arbeit zu fairen Bedingungen und zu fairen Löhnen.
Jeder funktionierende Markt braucht freie und verantwortliche Akteure. Das sichert Effizienz und Dynamik.
Mitbestimmung und Rechte für Arbeitnehmer sind Teil hoch moderner Politik.
Es ist gelungen, den Mitbestimmungsgedanken in Europa zu festigen. Die Regelung zur Europäischen Gesellschaft zeigt das. Der dort gefundene Kompromiss sollte bei weiteren Gesetzesvorhaben wie der anstehenden Revision der Richtlinie über Europäische Betriebsräte und der Regelung über die grenzüberschreitende Fusion von Unternehmen berücksichtigt werden.
Unsere gemeinsame Politik hält fest am Ziel des Wohlstandes für alle. Wir wollen, dass Menschen sicher und gut leben können. Deshalb organisieren wir Solidarität und Sozialstaat.
Wir Sozialdemokraten arbeiten in der großen Koalition mit Energie und Leidenschaft an den nötigen Voraussetzungen in Deutschland und in der Europäischen Union.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach Europa noch ein kurzer Blick auf die Kultur.
Wer fair und unvoreingenommen urteilt, der stellt auch für die Kulturpolitik der Bundesrepublik fest: Es geht voran in unserem Land.
Die großen Kulturverbände und Kulturinstitutionen zollen dem Wirken des Staatsministers bereits nach einem Jahr nicht nur Wohlwollen, sondern auch Anerkennung und Respekt. Und diese Honorigkeit gilt einem Schwarzen, einem Profi der Politik, einem Parlamentarier aus Überzeugung: Bernd Neumann, unserem Kollegen.
Viele der Kulturschaffenden, die heute applaudieren, haben noch vor einem Jahr vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen:
Wie kann ein ausgewiesener Parteipolitiker die blaue Blume Kultur überhaupt schützen, stärken und in ihrer Einmaligkeit sichern? Er kann es!
Erfolgreiche Kulturpolitik setzt einen Koordinator voraus, der in einem Klima der Freiheit für belastbare Rahmenbedingungen sorgt und der die Kulturschaffenden wie die Kulturerlebenden begeistern kann. Auch das kann er!
Bereits zum zweiten Mal ist es dem Staatsminister gelungen, die Haushaltsmittel für die Kultur aufzustocken. In Zeiten verantwortungsbewusster Sparpolitik ist das wahrlich ein besonderer Erfolg. Das gilt auch für die Beibehaltung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes von 7 Prozent in 2007.
In diesem und in anderen Kulturfeldern erfährt der Staatsminister der Union die Zustimmung der Opposition. Das ist nicht selbstverständlich. Herr Kollege Otto, dafür möchte ich Ihnen und den anderen ausdrücklich danken.
Der von Bernd Neumann praktizierte kollegiale Politikstil schafft einen breiten Konsens, der der Kultur insgesamt gut tut. Kultur ist das Fundament unserer Gesellschaft. Kultur ist das Kapital unseres Landes. Kultur ist ein exzellenter Standortfaktor. Kultur schließlich gibt den Menschen in unserem Land Orientierung, Lebensinhalt und Sinnerfüllung. Kultur ist der Bodensatz der Identitätsbildung, ist Voraussetzung, um sich als selbstbewusste Nation begreifen zu können.
Der Schlüsselsatz für die Kulturpolitik der Bundesregierung ist in der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel enthalten: Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft. Daran orientiert, wurde konsequent und konkret gehandelt.
Erstens. Der Kunststandort Deutschland wurde gestärkt.
Durch das Folgerecht im Kunsthandel wurden für Künstler in der Bundesrepublik endlich EU-weit vergleichbare Bedingungen geschaffen.
Mit der Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens zum Kulturgüterschutz wurde für den Kunsthandel bei uns und international eine verlässliche Grundlage geschaffen. 36 Jahre lang hatte man sich dieser Regelung verweigert. Die große Koalition brauchte vier Monate, um den Schutz von Kulturgütern zu sichern. Das nenne ich eine Politik der Entschlossenheit.
Zweitens. Der Filmstandort Deutschland wurde gestärkt. Ab 2007 stehen den Filmschaffenden neben den FFA- und Ländermitteln jährlich weitere 60 Millionen Euro zur Verfügung. Das stärkt den Aufwärtstrend des deutschen Films nachhaltig, das stabilisiert ihn, das macht ihn in einem Jahr großer Rekorde noch stärker. Fast 30 Prozent aller Kinoproduktionen kommen aus dem eigenen Land. Das ist ein Rekord. In diesem Jahr gibt es fast 150 Premieren von Filmen aus Deutschland. Das ist eine noch nie da gewesene Leistung der Filmschaffenden in unserem Land. Herzlichen Dank dafür!
Drittens. Der Musikstandort Deutschland wurde durch zusätzliche Mittel für ?Initiative Musik“ gestärkt. Unser Land kennzeichnet eine in der Vielzahl einmalige und in der Qualität erstklassige lebendige Musikkultur mit fast 50 000 Chören, 1,3 Millionen Sängerinnen und Sängern, 30 000 Orchestern und über 700 000 Instrumentalisten. An dieser Stelle möchte ich stellvertretend für alle Aktiven in der Breitenkultur den ehren- und hauptamtlichen Chorleitern, den Vorständen, Musikerziehern und Lehrern danken; denn ohne deren Elan und Enthusiasmus, ohne deren Inspiration und Initiative gäbe es diese blühende Musiklandschaft Deutschland nicht.
Dass auch der renommierte Bach-Chor in meiner Heimatstadt Flensburg dazugehört,
dem ich an dieser Stelle zu seinem 100-jährigen Jubiläum gratulieren möchte, darf ich am Rande bemerken.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Börnsen, das musste unbedingt noch gesagt werden. Ich bitte Sie aber, jetzt zum Schluss zu kommen.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Gut. - Ich möchte noch darauf aufmerksam machen - auch das gehört zum breiten Erfolg des Kulturstaatsministers dieser Bundesregierung -, dass wir mit dem Bode-Museum, mit dem Deutschen Historischen Museum und vielen weiteren Einrichtungen eine exzellente neue und ausgebaute Museumslandschaft in Deutschland bekommen haben. Insgesamt haben wir nicht nur eine vitale, engagierte, aktive und kreative Hauptstadt Berlin mit viel Kultur, sondern wir haben auch viele andere blühende Kulturstandorte in Deutschland, in unserem föderalen System. Ich glaube, darauf sollten wir stolz sein und das sollte uns mutig machen für die Zukunft. Die Kulturpolitik ist auf einem Erfolgskurs.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das war ein wunderbarer Schlusssatz.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Sie braucht Verbündete, nämlich Sie, die Abgeordneten.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich der Kollegin Petra Merkel für die SPD-Fraktion das Wort gebe, bitte ich Sie darum, auch ihr noch die angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Es ist schön, dass Sie schon so zahlreich zur Abstimmung erschienen sind. Ich denke, Ihre Gespräche können bis zur Abstimmung aufgeschoben werden.
Das Wort hat die Kollegin Merkel.
Petra Merkel (Berlin) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mir wurde empfohlen, meine Rede vorzusingen.
Das will ich Ihnen lieber ersparen. Herr Otto, ich glaube, das wäre nicht gut.
Ich habe den Eindruck, dass unser Kulturstaatsminister Neumann in einer guten Kontinuität steht. Vieles, was Herr Börnsen gerade gesagt hat, war sorgfältig vorbereitet. Ich will die Verdienste von Herrn Neumann überhaupt nicht schmälern. Ich glaube, Sie haben sich wirklich wacker geschlagen und viel für den Kulturbereich herausgeholt. Schon im Regierungsentwurf war eine erhebliche Steigerung der Mittel zu verzeichnen. Ich will auch darauf hinweisen, dass Herr Kampeter und ich als Vertreter der großen Koalition für diesen Bereich noch einiges dazugelegt haben. Insofern sind wir im Bereich Kultur alle sehr erfolgreich.
Herr Gysi, zu Ihnen: Es ist das zweite Mal gelungen, den Kulturetat zu steigern. Sowohl im Jahr 2006 als auch für das Haushaltsjahr 2007 gibt es Steigerungen, die Sie nicht wahrgenommen haben.
Wir haben dem Kulturhaushalt im Rahmen des Haushalts des Sanierens, Reformierens und Investierens allerdings nichts schenken können. Im Kulturhaushalt war für das Jahr 2007 eine pauschale Minderausgabe in Höhe von 17 Millionen Euro veranschlagt, die auf Wunsch der Haushälter der großen Koalition reduziert wurde, nämlich um 7 Millionen Euro. 10 Millionen Euro sind also im Laufe des Haushaltsjahres zu erwirtschaften. Das ist realistischerweise zu schaffen.
Erfreulich ist, wie gesagt, dass der Kulturetat steigt, sowohl 2006 als auch 2007. Wir setzen mit diesem Etat sowohl im Bereich Film als auch im Bereich Musik neue Impulse. Die Film- und die Musikbranche sind eng mit der Wirtschaft verbunden. Insofern sind die eingestellten Mittel auch eine Spritze für die Wirtschaft.
Wir fördern die Filmproduktion im kommenden Jahr mit insgesamt 60 Millionen Euro zusätzlich. Das bietet eine gute Chance zur Stärkung des Produktionsstandortes Deutschland und zur Sicherung von Arbeitsplätzen in einer Branche, die häufig ein Bild von Deutschland exportiert.
Auch die ?Initiative Musik“ soll einen Impuls setzen. Im Haushalt 2007 wird sie mit 1 Millionen Euro ausgestattet. Sie soll die Rahmenbedingungen für Musik und Musikwirtschaft verbessern. Diese Initiative soll mindestens drei Säulen umfassen: Nachwuchsförderung, Migration und Pädagogik sowie - auch hier wieder - Export, nämlich Export von Musik. Die Mittel sind gesperrt, damit das Konzept entwickelt und beraten werden kann. Dazu wird Gelegenheit sein.
Gestern war Welttag des Fernsehens. Ich komme zum Thema Deutsche Welle. Sie ist im Haushalt 2007 nicht von Kürzungen betroffen. In den vergangenen Jahren wurden von Intendanten Bettermann mit erheblichen Anstrengungen neue Strukturen geschaffen, die Wirkung zeigen. Ich möchte eine neue Perspektive hervorheben: die Kooperation von ARD und ZDF mit der Deutschen Welle. Die Deutsche Welle kann sich dadurch zu einem Auslandsfernsehen mit frischen Programmplanungen ausbauen. Neben den bewährten Produktionen der Deutschen Welle können dadurch mehr Informationen über Deutschland in alle Welt gesendet werden.
Das nützt dem Bild unseres Landes und der Vermittlung unserer Kultur.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Merkel, ich habe Ihre Redezeit angehalten. Ich hatte die Kolleginnen und Kollegen schon vor Beginn Ihrer Rede darum gebeten, ihre Gespräche entweder draußen zu führen oder sie einzustellen. Ich finde, wir sollten uns, bevor wir zu dieser wichtigen Abstimmung kommen, auch noch die Argumente der letzten Rednerin in dieser Debatte anhören.
Petra Merkel (Berlin) (SPD):
Da ich weiß, wie schwer das ist, wenn man zur Abstimmung in den Plenarsaal kommt, versuche ich, gegen die Unruhe anzureden.
Im Haushalt 2007 konnten wir die Mittel für die Deutsche Welle nicht aufstocken. Aber immerhin sind keine Kürzungen erfolgt. Die Kooperation zwischen ARD, ZDF und Deutscher Welle kann schrittweise aufgebaut und in verschiedenen Sendegebieten aufgenommen werden.
Die Deutsche Welle ist ein wichtiger Bestandteil des gesamten deutschen Engagements in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Ebenso wichtig sind aber auch die Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut. Auch wenn diese im Haushalt des Auswärtigen Amtes angesiedelt sind, möchte ich die große kulturelle Bedeutung ihrer Arbeit deutlich machen.
Für ihre Arbeit stellen wir im Jahr 2007 13,5 Millionen Euro mehr zur Verfügung.
Die Bereiche Film und Musik, die Deutsche Welle und das Goethe-Institut sind nur wenige Beispiele, die verdeutlichen, welche Schwerpunkte wir im Rahmen der Beratungen des Haushalts für das Jahr 2007 gesetzt haben. Diese Schwerpunkte werden ausstrahlen. Auch aufgrund der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird unser Land im Jahre 2007 ganz besonders im Mittelpunkt stehen.
Die vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien geförderten Institutionen und Projekte geben einen Überblick über die deutsche Geschichte. Denkmäler und symbolträchtige Orte ermöglichen Erinnerung, indem sie Geschichte erlebbar und spürbar machen. Viele solcher Orte sind in Deutschland zu finden. Eine besonders hohe Dichte gibt es in Berlin, der Hauptstadt der Bundesrepublik.
Die Mauer war ein Symbol dieser Stadt. Sie war das Symbol für die Teilung Deutschlands. Ich freue mich über das Ergebnis der Haushaltsberatungen, dass für die Gedenkstätte an der Bernauer Straße im Jahre 2008 3 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt werden.
Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass die Konzeption des Mauergedenkens, die vom Berliner Senat in Abstimmung mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Kulturausschuss des Bundestages und dem BKM erarbeitet worden ist, nun auch auf der Bundesebene in Angriff genommen werden kann.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas steht für die schlimmste deutsche Vergangenheit. Damit die Stiftung ihre gute Arbeit fortführen kann, haben wir die Mittel, die wir für die Stiftung zur Verfügung stellen, um 355 000 Euro erhöht. So können wir sicherstellen, dass die auch aufgrund der hohen Besucherzahlen wachsenden Anforderungen an die Stiftung bewerkstelligt werden können.
Daran, dass viele Menschen dieses Denkmal besuchen, wird deutlich, dass die Entscheidung für ein solches Denkmal richtig war. In Anbetracht der vielen internationalen Besucher zeigt dieses Denkmal die europäische Aufgabe, aus der Vergangenheit für eine gemeinsame Zukunft zu lernen.
Nun komme ich auf das sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung zu sprechen. Flucht und Vertreibung sind Teil der deutschen Geschichte. Auch dieser Teil unserer Vergangenheit ist im europäischen Zusammenhang zu sehen. Für dieses Zeichen haben wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens für das Jahr 2007 750 000 Euro zusätzlich in den Haushalt eingestellt, Frau Göring-Eckardt.
Im Koalitionsvertrag heißt es:
Wir wollen im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um - in Verbindung mit dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität über die bisher beteiligten Länder Polen, Ungarn und Slowakei hinaus - an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten.
Die Umsetzung dieses im Koalitionsvertrag gefundenen Kompromisses soll durch die Bereitstellung der zusätzlichen Mittel ermöglicht werden.
Kern dieses sichtbaren Zeichens soll die Ausstellung ?Flucht, Vertreibung, Integration“ des Hauses der Geschichte in Bonn sein, wie Kulturstaatsminister Bernd Neumann bei der Eröffnung der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin angekündigt hat. Das ist die Grundlage dieser Initiative.
Im Haushaltsausschuss haben wir beschlossen, dass sich der Bund an der Sanierung der Staatsoper Unter den Linden beteiligen wird;
das ist richtig. Die Sanierung der Staatsoper Berlin wird vom Bund mit 50 Millionen Euro unterstützt. Durch den Beschluss des Haushaltsausschusses tritt der Bund in Vorleistung. Damit zeigt er seine Bereitschaft - ich zitiere -,
für die Erhaltung eines national bedeutenden, einzigartigen Kulturdenkmals Verantwortung zu übernehmen.
Dieses Zitat stammt aus der Presseerklärung von Steffen Kampeter, der an dieser Stelle ins Schwärmen geraten ist.
Die Finanzierung soll aufgeteilt werden: 50 Millionen Euro soll der Bund übernehmen, 50 Millionen Euro das Land Berlin und 30 Millionen Euro sollen von privaten Sponsoren aufgebracht werden. Wie es im Moment aussieht, wird darüber mit dem Berliner Senat verhandelt werden müssen. Herr Otto, im Hauptstadtkulturvertrag ist allerdings keine Festlegung in Bezug auf die Sanierung des Gebäudes erfolgt. So viel steht fest.
Ich komme zur Museumsinsel. Ich freue mich besonders, dass es gelungen ist, den Beginn der Arbeiten im Zuge der Errichtung des Eingangsgebäudes für die Museumsinsel auf 2009 vorzuziehen.
Es soll dazu dienen, die schon jetzt anwachsenden Besucherströme ab 2015 auf der Insel zu verteilen. Die Museumsinsel entwickelt sich zu einem Magneten für Besucherinnen und Besucher aus allen deutschen Bundesländern und aus dem Ausland; Sie haben miterlebt, was sich seit der Eröffnung des Bode-Museums dort abspielt. Der Bund unterstützt den Bau des Eingangsgebäudes mit insgesamt 73 Millionen Euro, die ab 2009 fließen. Bis 2015 soll die Umsetzung erfolgen.
Mir sei noch eine Bemerkung gestattet: Ich hoffe sehr, dass über die Form des Eingangsgebäudes noch diskutiert wird. Ich bin sicher, dass durch die Einstellung der entsprechenden Mittel ab 2009 jetzt die Auseinandersetzung darüber im Kulturausschuss beginnen kann. Über Geschmack lässt sich streiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen im Kulturausschuss, bitte tun Sie es!
Der Bund investiert viel in Berlin, wenn auch nicht über die Haushaltskasse des Landes. Ich nenne die Sanierungsmaßnahmen auf der Museumsinsel, das Eingangsgebäude, das sind Bundesmittel für die Stiftung ?Preußischer Kulturbesitz“, an der Bundesländer und der Bund beteiligt sind. Vieles, was in Berlin zu sehen ist, ist eben von nationaler Bedeutung. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Rahmen der Föderalismusreform im Sommer dieses Jahres neben anderen, umfangreichen Grundgesetzänderungen einen Art. 22 aufgenommen haben:
Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.
Ich plädiere dafür, dass ein solches Berlin-Gesetz unter anderem den Hauptstadtkulturvertrag und den Hauptstadtkulturfonds ablösen sollte. Als Auftraggeber, als diejenigen, die das Grundgesetz geändert haben, müssen wir die Diskussion darüber führen, was der Bund für die Hauptstadt tun muss. Als Berlinerinnen und Berliner müssen wir die Diskussion führen, was die Hauptstadt den Bundesländern bietet. Als Bürger der Bundesrepublik müssen wir schließlich darüber diskutieren, welche Erwartungen an die Hauptstadt es gibt.
Während der Fußballweltmeisterschaft in diesem Sommer haben viele Menschen erlebt, was diese weltoffene Hauptstadt Berlin unbezahlbar, selbstverständlich leisten kann - und das mit Freude tut.
Zum Schluss möchte ich darauf verweisen, dass das Bundespresseamt, dessen Etat zum Einzelplan des Bundeskanzleramts gehört, eine hervorragende Broschüre herausgegeben hat, die den Besucherinnen und Besuchern, die wir aus den Wahlkreisen nach Berlin einladen, überreicht wird: ?Das politische Berlin - ein Stadtrundgang“. Das ist die gelungene Umsetzung einer Idee, die ich an das Bundespresseamt herangetragen habe. Ich glaube, dies dient genau dazu, zu diskutieren, was die Hauptstadt ermöglicht und was wir erwarten. Diesen Diskussionsprozess brauchen wir.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, bei dem Herrn Staatsminister und den Vertretern der Ministerien.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04, Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt, in der Ausschussfassung. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/3464? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Änderungsantrag der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/3465? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Union und der SPD bei Enthaltung der Fraktionen der FDP und der Grünen.
Wir nehmen zwei Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll, nämlich der Kollegin Maria Michalk und des Kollegen Dr. Ilja Seifert, und kommen damit zur namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an ihrem Platz? - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Die unterbrochene Sitzung ist wiedereröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre Plätze wieder einzunehmen. - Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04, Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt, in der Ausschussfassung bekannt - das betraf die Drucksachen 16/3104 und 16/3123 -: Abgegebene Stimmen 569. Mit Ja haben 419 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein haben 150 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Es gab keine Enthaltung. Damit ist der Einzelplan 04 angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 66. Sitzung - wird morgen,
Donnerstag, den 23. November 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]