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Wenn es sie nicht gäbe, müsste
man sie erfinden. Denn ohne die Parlamentarischen
Geschäftsführer läuft – fast – nichts im
Bundestag. Sie bereiten seine Sitzungen vor, planen die
Tagesordnung, sorgen für Präsenz und Geschlossenheit
ihrer Fraktionen.
Entsprechend lauten ihre Spitznamen: Manager des Parlaments,
heimliche Strippenzieher, graue Eminenzen.
Das Jahr 2004 hat ihnen besonders viel abgefordert: Ein Marathon an Reformen, von den Ausführungsgesetzen zu Hartz IV über die kleine Pflegereform zum neuen Energierecht, von der Gesundheitspolitik bis zur Zuwanderung. Dazu wichtige außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen. Und das alles bei knappen Mehrheiten. Wie haben die Parlamentarischen Geschäftsführer diese Last bewältigt? Wie halten sie sich fit?
Wenn es Nacht wird im Parlamentsviertel, brennt im Zimmer 4.308 des Jakob-Kaiser-Hauses mit Sicherheit noch Licht. Hier arbeitet Wilhelm Schmidt, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion und damit wichtigster Zuarbeiter von Fraktionschef Franz Müntefering. „Unter 14 Stunden am Tag geht es selten in Sitzungswochen ab“, sagt er. Und lächelt. Stress ist dem 60-jährigen Niedersachsen nicht anzumerken, obwohl er einräumt, dass „es noch nie so viel Arbeit gegeben hat wie jetzt“. Doch zehn Jahre Parlamentarischer Geschäftsführer, davon sechs als Erster, haben ihn abgehärtet, zum Profi gemacht, den so leicht nichts aus der Ruhe bringt. Einmal in der Woche allerdings muss er sich beim Laufen austoben. „Das brauche ich.“ Schmidt war früher als Wasserballer Spitzensportler.
Wilhelm Schmidt ist gleichsam der Idealtypus eines Parlamentarischen Geschäftsführers. Still, unaufgeregt, aber hocheffizient managt er für die SPD den Fraktions- und Parlamentsbetrieb, koordiniert die Gesetzesarbeit mit dem grünen Koalitionspartner, zieht vor und hinter den Kulissen die Fäden, ohne die auf der Bühne des Bundestages kaum etwas liefe. Wie seine Geschäftsführerkollegen von den anderen Fraktionen legt Schmidt dabei wenig Wert darauf, selbst im Rampenlicht zu stehen. Obwohl er mit den Medien gut umzugehen weiß: Jeden Mittwochvormittag lädt er ausgewählte Hauptstadtjournalisten zur „Wilhelm-Schmidt-Runde“ in den Bundestag ein. Und die kommen gern, denn sie wissen, dass sie Hintergrundinformationen vom Feinsten bekommen.
Als Erstem Parlamentarischen Geschäftsführer der größten Regierungsfraktion kommt Wilhelm Schmidt eine besondere Verantwortung zu: Er muss dem Bundeskanzler die Mehrheiten sichern. Keine leichte Aufgabe, besonders wenn es um die so genannte Kanzlermehrheit geht, denn da hat Rot-Grün nur einen hauchdünnen Vorsprung von drei Stimmen. Da steigt schon mal der Adrenalinspiegel, muss im eigenen Lager notfalls mit harten Bandagen auf Präsenz und Geschlossenheit gepocht werden. Wilhelm Schmidt: „Da darf man nichts schleifen lassen. Wenn dann auch noch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat gegen uns sind, muss der Prozess der Vorbeugung und sensiblen Wahrnehmung von Reaktionen schon sehr früh eingeleitet werden.“
So ist der Erste Parlamentarische Geschäftsführer auch mehr als nur Manager und Organisator von Abläufen und Mehrheiten. Wilhelm Schmidt etwa sitzt im wichtigen Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat sowie in der Föderalismuskommission, in der Bund und Länder ihr Verhältnis neu abzustecken suchen. Zwei politisch hochkarätige Aufgaben, die allein schon den ganzen Mann forderten. Und als engster politischer Vertrauter des Fraktionsvorsitzenden nimmt er in der Fraktion zugleich als Stimmungsbarometer Witterung dafür auf, was politisch „läuft“ und was nicht. So bewahrt er beide Seiten – Fraktionsführung wie Fraktion – vor unliebsamen Entwicklungen.
Immer schneller, hektischer und komplexer geht es zu im Bundestag – so lautet der Befund aller Geschäftsführer. Hinzu kommt eine veränderte Medienlandschaft, die Druck und Tempo noch einmal erhöht. Geheim ist in Berlin schon lange kaum noch etwas. „Jede Woche wird eine neue Sau durchs Dorf gejagt“, klagt einer. Petra Ernstberger, Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, hat sich trotzdem Gelassenheit verordnet. Ihr Arbeitsmotto lautet: „Gemeinsam geht’s besser.“
Vermutlich bleibt der Stress bis zur Weihnachtspause. Bis zum 17. Dezember, dem voraussichtlich letzten Sitzungstag in diesem Jahr, stehen noch zahlreiche Gesetze und Gesetzesnovellen auf der Tagesordnung. „Das wird ein heftiger Schlussgalopp“, stöhnt Wilhelm Schmidt. Und freut sich schon jetzt auf die Weihnachtsferien, in denen er sich „den steifen Nordseewind um die Ohren wehen lassen“ will: „Das macht den Kopf frei.“
Genau ein Stockwerk über Wilhelm Schmidt residiert Volker Kauder, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Viel Muße, aus seinem Büro den Blick auf Spree und Reichstagsgebäude zu genießen, hat er nicht. Auch er ist ein „Workaholic“, dessen Arbeitstage lang und die Nächte kurz sind. 15 Stunden „und mehr“ bringt er täglich in Sitzungswochen in Büro und Parlamentsviertel zu. Doch ähnlich wie Schmidt sieht der 55-jährige Badener, der seit zwei Jahren als rechte Hand der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Angela Merkel großen Einfluss hat, seinen Job sportlich: „Meine Aufgabe ist es, die Regierungsmehrheit ständig unter Druck zu setzen und durch eigene Geschlossenheit unsere Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.“
Keine leichte Aufgabe, die Volker Kauder „viel Zeit und Schweiß“ abfordert. Denn nicht immer ist allen CDU/CSU-Abgeordneten einsichtig, warum sie vollständig bei wichtigen Abstimmungen an Deck sein sollen, wenn die Mehrheit am Ende doch im Regierungslager bleibt. Als mindestens ebenso wichtig wie die Geschlossenheit im Bundestag stuft Volker Kauder die enge Koordination mit den unionsgeführten Bundesländern im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss ein, die ihm obliegt.
Dreimal in der Woche gibt es die obligatorische Schaltkonferenz mit der CSU-Führung in München, hinzu kommen viele Telefonate mit den CDU-Ländern. „Das kostet viel Zeit, ist aber zwingend notwendig, um unsere Interessen optimal zu gewichten und ein möglichst einheitliches Abstimmungsverhalten des CDU/CSU-Lagers zu gewährleisten.“
Kauders Wochenkalender ist mit festen Terminen gespickt: „Morgenlage“ mit der Fraktionsvorsitzenden, Sitzung von Geschäftsführendem und erweitertem Fraktionsvorstand, Fraktionsvollversammlung, Presserunde, zweimal in der Woche „PGF-Runde“ mit den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführern der anderen Fraktionen, Abstimmung mit den Obleuten und Arbeitsgruppenvorsitzenden der eigenen Fraktion, Ältestenrat und immer wieder Ad-hoc-Gespräche über die Fraktionsarbeit. Denn Kauder ist zugleich auch oberster Chef der 300 Mitarbeiter der CDU/CSU-Fraktion, also fast eines mittelständischen Betriebes.
Gott sei Dank habe er eine „gute Konstitution“, die ihn das „arbeitsintensive Jahr 2004“ einigermaßen fit habe überstehen lassen, freut sich Kauder. Zeit für Ausgleichssport findet er kaum. So begnügt er sich damit, morgens den Weg ins Büro zu Fuß zurückzulegen, „damit ich jedenfalls einmal am Tag frische Luft schnappe“.
Unterstützt wird Volker Kauder vom Parlamentarischen Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe Peter Ramsauer, der zugleich sein erster Stellvertreter ist – insgesamt hat die CDU/CSU-Fraktion fünf Parlamentarische Geschäftsführer. Der sportliche Oberbayer – mindestens dreimal pro Woche läuft er zwischen sechs und sieben Kilometer – ist seit sechs Jahren „im Geschäft“, kennt alle parlamentarischen Tricks und Raffinessen.
Auch wenn er zuvörderst die Interessen der CSU im Auge hat, fühlt er sich doch auch als Geschäftsführer der gesamten CDU/CSU-Fraktion. Als besondere Herausforderung des Jahres 2004 nennt Ramsauer die „Verantwortungsgemeinschaft“, die die CDU/CSU in einigen Bereichen mit der Regierung eingegangen sei, zum Beispiel bei bestimmten Hartz-Ausführungsgesetzen. Ramsauer: „Die eigenen Truppen hier mitzunehmen und ihnen zu erklären, warum sie Vermittlungsergebnisse mittragen sollen, war eine schwierige Überzeugungsarbeit. Denn die Abgeordneten müssen dies ja möglicherweise gegen ihre eigene Überzeugung auch im Wahlkreis vertreten.“
Die Reihen geschlossen zu halten, sei also gar nicht so einfach. Bei wichtigen Abstimmungen müssten die Parlamentarischen Geschäftsführer wie Hirtenhunde die Herde umkreisen. „Wenn es wirklich hart auf hart ging, habe ich sogar rigoros wichtige Dienstreisen untersagt“, berichtet Peter Ramsauer. Von der rot-grünen Gegenseite ist Ähnliches zu hören. Geschlossenheit ist nun einmal oberstes Gebot jedes Geschäftsführers. Nicht umsonst werden sie gern mit den englischen „whips“ verglichen, den „Einpeitschern“ im britischen Unterhaus, der „Mutter aller Parlamente“.
Klagen über die viele Arbeit mag Peter Ramsauer nicht. Der 50-Jährige gibt sich cool: „Wem das zu viel ist, ist falsch am Platz.“ Immerhin gibt er zu, bisweilen am Ende einer Sitzungswoche „stehend k. o.“ zu sein. Dann freut er sich auf seinen Wahlkreis im Chiemgau, den er voller Stolz „den schönsten in Deutschland“ nennt.
Auch Volker Beck, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, ächzt unter der Arbeitsbelastung dieses Jahres. Vieles sei da zusammengekommen, „weil wir mehrere große Reformen auf einmal gemacht haben“. Das gelte für die „Herkulesaufgabe“ Agenda 2010, aber auch für neue Anstöße bei Bildung und Forschung und vor allem bei der Zuwanderung, bei der Beck für seine Fraktion Verhandlungsführer war. In diesem Reformmarathon trotz aller Kritik Kurs zu halten, sich nicht entmutigen zu lassen, sei schwer gewesen. Zumal der große Koalitionspartner SPD von den Wählern kräftig durchgeschüttelt worden sei. Dennoch hätten SPD wie Grüne „gestanden“. Darauf ist Volker Beck, man merkt es ihm an, stolz. Und darauf, dass „man jetzt die Ernte für unsere Gradlinigkeit einfahren kann“.
Becks Arbeitstag ist ähnlich lang wie der seiner Kollegen: mindestens von acht bis 22 Uhr von Montag bis Freitag. Macht in der Woche 70 Stunden. Mindestens. Krank werden ist nicht vorgesehen. Becks trockener Kommentar: „Entschuldigt bist du nur, wenn du auf der Intensivstation liegst.“ Parlamentarische Geschäftsführer gelten nun einmal als unentbehrlich, da bleiben tarifliche Arbeitszeiten ein unerfüllbarer Traum. Kein Wunder, dass sich Becks Kollegin Ekin Deligöz (Bündnis 90/Die Grünen) in einer Sitzungswoche manchmal „wie auf Montage“ vorkommt: morgens früh rein in den Bau, im Dunkeln wieder raus. Immerhin hat sich die Mutter eines dreijährigen Sohnes einen Trick ausgedacht, um die Aktenberge auf ihrem Schreibtisch zu bewältigen: „Wenn ich alles abgearbeitet habe, kommt zum Lohn das Foto von meinem Sinan zum Vorschein.“
Für die FDP organisiert seit zehn Jahren Jörg van Essen die Fraktionsarbeit. Der frühere Oberstaatsanwalt und begeisterte Reserveoffizier im Rang eines Obersten bestätigt den Eindruck seiner Kollegen: So intensiv wie in diesem Jahr war das Geschäft noch nie. Besonders für den Parlamentarischen Geschäftsführer einer kleineren Fraktion, der zugleich noch die Sacharbeit in einem Fachausschuss leisten müsse. Zwei Faktoren sind es, die nach Meinung van Essens die Arbeit kompliziert und schwierig gemacht haben: die Verlagerung vieler Entscheidungen in den Vermittlungsausschuss sowie die Präsentation von umfangreichen Regierungsvorlagen „in letzter Minute“. Jörg van Essen: „Manchmal bekommen wir am Montag ganz dicke Pakete, die wir dann am Dienstag durchziehen sollen.“ Da die Arbeit ihn ohnehin den ganzen Tag ans Plenum und ans Büro fesselt, hat van Essen aus der Not eine Tugend gemacht und sein Büro gleich wie das Wohnzimmer zu Hause mit schönen Corbusier-Möbeln und einem Bild des Künstlers Günther Uecker eingerichtet: „Das ist wie ein Stück Heimat.“
Zweimal in der Woche – Dienstag um 11.30 Uhr und Mittwoch um 17 Uhr – treffen sich die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer in einem Sitzungsraum im Paul-Löbe-Haus zu ihrer vertraulichen Geschäftsführerrunde. Sie ist das wichtigste Instrument der interfraktionellen Koordination der Parlamentsarbeit. Denn hier wird die Tagesordnung des Plenums geplant, der Sitzungsablauf festgelegt.
Dabei ist nicht Muskelrollen, sondern sachliche Verständigung gefragt. Und meistens funktioniert das auch. Trotz des enormen Arbeitsdrucks und der knappen Mehrheiten im Hohen Haus. Nüchtern werden die Vorhaben auf das substanzielle Skelett reduziert. Peter Ramsauer: „Jeder kennt den anderen durch und durch. Wir brauchen uns gegenseitig nichts vorzumachen. Schaugehabe und Aufgeregtheiten sind fehl am Platze.“ Gegenseitige Verlässlichkeit und Vertrauen sind auch für Wilhelm Schmidt Voraussetzung für die interfraktionelle Zusammenarbeit. Freilich hat Schmidt gut lachen: Kracht es doch einmal zwischen den Geschäftsführern, entscheidet im Plenum die Mehrheit, also Rot-Grün. Für den SPD-Geschäftsführer ein beruhigendes Gefühl.
Sie zählen zwar nicht die Tage bis zur letzten Sitzung des Bundestages vor Weihnachten. Aber froh sind doch alle Parlamentarischen Geschäftsführer, wenn der Endspurt Mitte Dezember vorbei und die Weihnachtspause in Sicht ist. Nicht nur, weil sie endlich wieder einmal durchatmen können, sondern auch, weil dann noch Zeit für die Weihnachtseinkäufe bleibt. Volker Beck: „Hoffentlich bin ich nicht wieder auf dem letzten Drücker dran.“
Text: Sönke Petersen
Fotos: Photothek
Erschienen am 15. Dezember 2004
Info: Sehen Sie sich auch
auf Web-TV die Gesprächsrunde „Was macht eigentlich ein
Parlamentarischer Geschäftsführer?“ an.
www.bundestag.de (Plenum/Web-TV)