Immer im Bilde
Das neue Präsidium des Deutschen Bundestages
Kräftig durchgewirbelt wurde das
Präsidium des Deutschen Bundestages. Fünf neue Mitglieder
hat das am 26. Oktober 1998 neu gewählte, sechsköpfige
Gremium. Erstmals steht mit Wolfgang Thierse ein Politiker aus dem
Osten Deutschlands an der Spitze und übt damit das
protokollarisch zweitwichtigste Amt der Bundesrepublik Deutschland
aus.
Sie sitzen erhöht hinter dem Rednerpult. Und meistens
schweigen sie, während es wenige Meter entfernt im Bundestag
hoch hergeht. Gelegentlich eine Mahnung oder ein kurzer Schwenk mit
der Glocke. Doch nur selten müssen die Präsidentinnen und
Präsidenten des Bundestages durchgreifen und vom Hausrecht
Gebrauch machen. Dennoch kein leichtes Amt, das der neue
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und seine fünf
Stellvertreter ausüben.
Das neue Präsidium verdient seinen Namen wahrlich. Nur Antje
Vollmer, die 1994 als erste grüne Politikerin in das
Führungsgremium des Parlamentes gewählt wurde, kann auf
vierjährige Erfahrungen zurückblicken. Thierse und die
Vizepräsidenten Anke Fuchs (SPD), Rudolf Seiters (CDU),
Hermann-Otto Solms (FDP) und Petra Bläss (PDS) sitzen erstmals
auf den erhöhten Posten im Plenum. Dabei haben die
Fernsehkameras sie immer im Bild - egal, welcher Abgeordnete gerade
am Rednerpult steht. Unterstützt von zwei Schriftführern
zu beiden Seiten sitzen Thierse und seine Vertreter unmittelbar
hinter dem Redner und leiten im zweistündigen Wechsel die
Sitzungen des Plenums. Selbst die Kleiderfrage rückt für
Millionen von Fernsehzuschauern in den Mittelpunkt.
Vom Parteipolitiker zum Diplomaten
Ins Präsidium des Bundestages gewählt zu werden,
bedeutet für Abgeordnete vor allem eines: Abschied nehmen.
Abschied von heftigen Rededuellen, Polemik und Angriffen auf den
politischen Gegner. Die Verwandlung vom Parteipolitiker zum
Diplomaten. Gerade der Kulturwissenschaftler und Germanist
Wolfgang Thierse, der selbst als
brillanter und überzeugender Redner gilt, hat sich in der SPD
vor allem durch seine ausgleichende Art profiliert. Auch als Anwalt
der Interessen der Menschen im Osten Deutschlands hat Thierse
versöhnliche Töne angeschlagen. Ein Wesenszug, der gerade
dem Bundestagspräsidenten ansteht. Mit Thierse, der 1943 in
Breslau geboren wurde und im thüringischen Eisland aufwuchs,
kommt ein Mann an die Spitze des Parlamentes, der das Leben in der
DDR, die Brüche und Zwänge und den Aufbruch 1989 selbst
miterlebte.
"Gesamtdeutscher Ossi"
Die politische Arbeit des Schriftsetzers und Germanisten begann
mit der Wende. In der DDR hatte er gegen die Ausbürgerung Wolf
Biermanns protestiert und deshalb seinen Arbeitsplatz im
Kulturministerium verloren. Im Oktober 1989 wurde er Mitglied des
Neuen Forums, Anfang 1990 trat er in die DDR-SPD ein und wurde ein
halbes Jahr später deren Vorsitzender. Seit acht Jahren sitzt
der 54jährige für die gesamtdeutsche SPD im Bundestag.
Thierse gilt als Einzelgänger, der sich keinem
Parteiflügel eindeutig zuordnen läßt. Als "Mundwerk
der Ossis" hat ihn der Schriftsteller Günter Grass bezeichnet.
Thierse selbst nennt sich lieber "gesamtdeutscher Ossi", hat sich
als Abgeordneter aber sehr wohl der Interessen der Ostdeutschen
angenommen. Mit Wolfgang Thierse wird zum ersten Mal ein
Ostdeutscher Bundestagspräsident. Der stellvertretende Partei-
und Fraktionsvorsitzende hatte allerdings keinen leichten Weg an
die Spitze des Bundestages und wurde von der SPD-Fraktion erst nach
einer Kampfabstimmung nominiert.
Rollenwechsel
Kein Blatt vor den Mund nahm bislang auch die stellvertretende
SPD-Fraktionsvorsitzende Anke Fuchs,
bekannt für ihre flotten Sprüche und ihre solide Arbeit.
Die 61jährige weiß, daß sie einen deutlichen
Rollenwechsel vollziehen muß: "Für mich wird es spannend,
weil ich keine Zwischenrufe mehr machen kann", schmunzelt die als
kämpferisch geltende SPD-Politikerin. "Wenn man lebendig sein
will, dann außerhalb des Plenums", weiß Fuchs, die ihr
Temperament als Vizepräsidentin zähmen will. Die in Bonn
wohnende Hamburgerin sieht in der Fortführung der
Parlamentsreform einen wichtigen Punkt der künftigen Arbeit.
"Wir hatten die lebendigsten Debatten immer dann, wenn sich der
Bundestag noch in der Meinungsbildung befand wie bei den Themen
Bonn-Berlin und dem Paragraphen 218", stellt Fuchs fest. Sie will
sich darum mühen, daß die Debatten auch für die
Abgeordneten selbst attraktiver werden und damit die Anwesenheit
der Parlamentarier steigt.
Auch "regierungsferne" Themen aufgreifen
Bei ihren weiteren Schwerpunkten will sich Fuchs, die
Präsidentin des Deutschen Mieterbundes bleiben wird, vor allem
um "regierungsferne" Themen kümmern. Ihr Privatleben als
zweimalige Mutter und Oma eines einjährigen Enkelkindes will
die seit 35 Jahren verheiratete Anke Fuchs weiter im Griff
behalten. "Auch als stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD
habe ich Privattermine eingeplant, die tabu waren. Das wird auch
weiterhin so sein." Dennoch wird ihr Enkelkind die Oma
häufiger im Fernsehen sehen als zu Hause. Einige
Veränderungen erwartet Fuchs durch den Umzug nach Berlin. Hier
sieht sie vor allem eine fürsorgende Pflicht auf das
Präsidium zukommen: "Die Abgeordneten werden in Berlin doch
erst einmal herumlaufen, ohne sich auszukennen", glaubt Fuchs. Auch
die Repräsentation und die Darstellung des Staates werde sich
ändern: "Das Reichstagsgebäude in Berlin ist eine ganz
andere Kulisse als der Bundestag in Bonn." Schon einmal war Anke
Fuchs, die seit 1980 Mitglied des Bundestages ist, auf dem Sprung
ins Präsidium. 1990 bewarb sie sich für die Nachfolge von
Annemarie Renger, unterlag jedoch der bayerischen Abgeordneten
Renate Schmidt.
Viele Stationen zum neuen Amt
Für die CDU ist der ehemalige Bundesinnenminister
Rudolf Seiters in das Präsidium eingezogen.
Der 61jährige Jurist wurde 1958 Mitglied der CDU und kletterte
seitdem in der Partei die Leiter hoch. Seit 1969 ist er
Bundestagsabgeordneter und ist damit neben Anton Pfeifer der
dienstälteste Parlamentarier. Der gebürtige
Osnabrücker war dreimal für insgesamt zwölf Jahre
Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Partei. Von
April 1989 bis November 1991 war Seiters Bundesminister für
besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes,
anschließend wurde der Vater dreier Töchter
Bundesinnenminister und blieb es bis Juli 1993. Zu seinem
Amtsverständnis als Vizepräsident gibt sich Seiters noch
zurückhaltend. Ein Mann, der schon als Minister eher die
stillen Töne bevorzugte.
Zum zweiten Mal im Bundestagspräsidium
Für die Bündnis-Grünen schaffte
Antje Vollmer erneut den Sprung in das hohe
Staatsamt. Sie ist das einzige Präsidiumsmitglied, das auch im
alten Präsidium vertreten war. Durch die Absprache mit der
Union, daß jede Fraktion einen Vizepräsidenten stellen
soll, erhielten die Grünen 1994 die Chance, eine eigene
Kandidatin durchzusetzen - erstmals in der Parlamentsgeschichte.
Gegenüber dem Blickpunkt Bundestag sagte Frau Vollmers: "Diese
Regelung ist nicht auf unserem Mist gewachsen." Ausdrücklich
auf Wunsch der Union war 1994 die Geschäftsordnung so
geändert worden, daß jede Bundestagsfraktion mit einem
Vertreter im Präsidium vertreten ist. Damals sei dies gegen
die SPD gerichtet gewesen, die aufgrund der Regelung nur einen
Vizepräsidenten durchsetzen konnte. Mit der Theologin und
Publizistin stellten die Grünen eine Politikerin, die sich
durch ihre ausgleichende Rolle hohes Ansehen erwarb. Ihr Amt nutzte
Vollmer unter anderem, um die deutsch-tschechische
Aussöhnungserklärung zustande zu bringen. Eine schwierige
Aufgabe, die sie gelöst hat. Ein Talent, das auch im neuen
Bundestag gefragt ist.
Vizepräsident und Schatzmeister
Ganz nah dran am Amt des Vizepräsidenten war auch schon
Hermann-Otto Solms, der in den
vergangenen sieben Jahren die FDP-Bundestagsfraktion führte.
Solms war von 1973 bis 1976 persönlicher Referent der
damaligen Bundestagsvizepräsidentin Liselotte Funcke. Auf
seine Erfahrungen aus der zweiten Reihe könne er heute jedoch
nicht mehr zurückgreifen, sagt er dem Blickpunkt Bundestag.
Der 57jährige Familienvater wird in diesem Amt der Nachfolger
von Burkhard Hirsch, der nicht wieder für den Bundestag
kandidierte. Solms will neben diesem Amt auch weiterhin
finanzpolitischer Sprecher der FDP bleiben. In der
finanzpolitischen Arbeit sieht Solms nach wie vor seine Zukunft.
Wie weit er sein Amt als Bundestagsvizepräsident außerdem
mit politischen Inhalten füllen will, dazu mochte Solms sich
noch nicht äußern. "Das muß erst mit den Kollegen
abgestimmt werden." Hermann-Otto Solms hat Agrar- und
Wirtschaftswissenschaften studiert und ist 1971 in die FDP
eingetreten. Seit 1987 ist er Schatzmeisterder Partei.
Zum ersten Mal im Präsidium: Die PDS
Zum ersten Mal wird in Zukunft eine Abgeordnete der PDS ihre
Kollegen ermahnen, sich kurz zu fassen und darauf dringen, daß
die Tagesordnung eingehalten wird. Die 34jährige
Petra Bläss setzte sich in einer
Kampf-abstimmung gegen die CSU-Kandidatin Michaela Geiger durch.
Doch will sich die junge PDS-Abgeordnete den Schuh, eine