Verfassung für ein Europa der Bürger
Nein, die Verfassungsfrage hat ihn nicht losgelassen. Wolfgang Ullmann, Kirchenhistoriker in der ehemaligen DDR, ist geprägt von den Geschehnissen 1989/90. Er war Mitbegründer der Bürgerbewegung "Demokratie jetzt", Mitglied des Runden Tisches in Berlin, dann Mitglied der Volkskammer und des Deutschen Bundestages und schließlich Abgeordneter im Europäischen Parlament. 1990 galt sein Einsatz dem Ziel, eine Verfassung für ganz Deutschland über einen Volksentscheid zu etablieren. Daß dieses Ziel damals keine Mehrheit fand, bleibt nach ihm ein schwerwiegendes Demokratiedefizit des deutschen Eini-gungsprozesses, dessen Folge bis heute in der mangelnden Verankerung demokratischer Mentalität zu spüren ist. Dabei ging es ihm nicht um eine Ablehnung des Grundgesetzes – ganz im Gegenteil –, sondern um die richtige Art und Weise, wie der Impuls der Freiheitsrevolution 1989 aufgenommen und für die Deutschen zur Stärkung der Demokratie fruchtbar gemacht werden kann. Dieser Fehler darf sich auf europäischer Ebene nicht wiederholen. Deshalb engagiert sich Ullmann besonders für ein zivilgesellschaftliches Europa der Bürger auf dem Fundament einer gemeinsamen Verfassung (ein Entwurf dazu ist als Anhang beigefügt). In der Europäischen Union wird sich eine demokratische Identität erst dann einstellen, wenn Menschenwürde und Menschenrecht zur kodifizierten Grundlage gemacht sind. Die EU muß deshalb nach ihm eine eigenständige Rechtspersönlichkeit werden. In der Tat gibt es zu denken, daß erst 41 Jahre nach Gründung der ersten Europäischen Gemeinschaft eine Menschenrechtserklärung Eingang in das EU-Vertragswerk fand (Maastrichter und Amsterdamer Vertrag). Über diesen Bereich hinaus plädiert Ullmann vor allem für eine Einigung Europas, in der das traditionelle Schisma der unterschiedlichen westlichen und östlichen Kulturgemeinschaften überwunden werden kann.
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Ullmanns Buch, in Form von Briefen abgefaßt, ist ein Lehrbuch über die schwierigen Verständigungsprozesse im Europäischen Parlament. Seine gedanklich funkelnden Miniaturen historischer Bezüge und die Schilderung seiner Begegnungen machen dieses Buch überaus lebendig. Und man spürt, wie sehr Ullmann aus der Kenntnis europäischer Geschichte heraus das Einigungswerk Europas ernst nimmt und damit dieses Projekt gegen manche Moden des Zeitgeistes verteidigt.
Wolfgang Ullmann, Geduld, liebe Dimut! Brüsseler Briefe. Leipzig 1998, Forum Verlag, DM 26,80