50 Jahre Wirtschafts– und Sozialpolitik in Deutschland
VON CARL GRAF HOHENTHAL
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Ludwig Erhard, Bundeswirtschaftsminister und Begründer der sozialen Marktwirtschaft |
Es wird sich – außer Japan – kaum ein weiteres Land finden, das sich nach einem verlorenen Krieg derart wie Phoenix aus der Asche erhoben hat wie Deutschland. Der ungeheure und in der ganzen Welt bewunderte Aufschwung, den die Bundesrepublik Deutschland nach 1949 genommen hat, verdankt sich vor allem einer wegweisenden Wirtschaftspolitik, die mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden ist. Es lag nicht nur am Fleiß und Überlebenswillen der Deutschen, dass dieses Land so schnell auf die Beine kam. Das zeigt die ganz anders geartete Entwicklung in der DDR, wo es zwar gelang, im Rahmen der sozialistischen Staaten zu einem bescheidenen Wohlstand zu kommen, wo die Menschen aber doch nie das Lebensniveau der Vorkriegszeit erreichen konnten. Erst die Wiedervereinigung ermöglichte es, einen Prozess zu beginnen, an dessen Ende beide Hälften Deutschlands gemeinsam wieder einen Spitzenplatz in der Welt einnehmen sollen.
Erhard setzte auf eine marktwirtschaftliche Ordnung, die doch auch sozial sein sollte. Dabei vertraute er auf die Kräfte des freien Wettbewerbs; der Staat sollte nur für Rahmenbedingungen sorgen, innerhalb derer sich der Markt entfalten konnte. Diese soziale Marktwirtschaft, die zu einem deutschen Markenzeichen in der Welt geworden ist, war den Parteien des jungen Staates zunächst keineswegs geheuer. Erhard musste viel Überzeugungsarbeit leisten, ehe die CDU bereit war, seinem Konzept zu folgen. Und selbst 1952, als Erhards Politik längst große Erfolge gezeitigt hatte, konnten sich nach einer Umfrage 48 Prozent der Bevölkerung unter sozialer Marktwirtschaft überhaupt nichts vorstellen und 37 Prozent nur Falsches. Viele assoziierten sie mit der SPD, die den marktwirtschaftlichen Überlegungen noch skeptischer gegenüberstand als die Unionsparteien.
Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Programme, die der erste deutsche Bundestag beschloss, waren eng mit dem Wiederaufbau und der Wiedereingliederung von Millionen von Flüchtlingen und Kriegsheimkehrern verbunden. 1950 legte der Bundestag das erste Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf, dem Ende 1951 ein Sofortprogramm zur Arbeitsbeschaffung folgte. Dennoch handelte es sich damals nicht um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im heutigen Sinne. Der Staat hatte kein Geld, um Arbeitslose zu alimentieren; er konnte nur versuchen, Hilfestellung bei der Arbeitssuche zu leisten. Doch die aufblühende Wirtschaft brauchte alle verfügbaren Hände, sodass Arbeitslosigkeit bald kein Problem mehr war. Ein größeres Problem bildete die Unterbringung der vielen Menschen. Große Beachtung fand deshalb 1950 das erste Wohnungsbaugesetz, das 1952 durch das WohnungsbauPrämiengesetz ergänzt wurde, durch das Geringverdienende und kinderreiche Familien auf Bauspareinlagen Prämien erhielten. In der Wohnungspolitik setzte die Bundesrepublik von Anfang an auf den sozialen Wohnungsbau, der in späteren Jahren zu beachtlichen Fehlentwicklungen geführt hat. Mal gab es zu wenige Wohnungen, dann wieder zu viele, auch waren später viele Wohnungen durch Personen fehlbelegt, die längst der sozialen Bedürftigkeit entwachsen waren. Auch Erhard wagte es nicht, in der Wohnungswirtschaft ganz auf die freie Marktwirtschaft zu setzen. Der Gedanke, anstelle des sozialen Wohnungsbaus stärker auf die Vergabe von Wohngeld zu setzen, mit dessen Hilfe Bedürftige sich auf dem freien Wohnungsmarkt versorgen können, bricht sich erst jetzt zunehmend Bahn.
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Obwohl die Belastung mit Steuern und Abgaben in den Anfangsjahren gering war, kam es schon im Mai 1953 zu einer ersten so genannten Kleinen Steuerreform mit dem Ziel, Lohn und Einkommensteuern sowie Körperschaftssteuern zu senken. Weitere wichtige Steuerreformen folgten 1975 und in den späten achtziger Jahren. Nach den Belastungen durch die Wiedervereinigung wagt sich die Bundesregierung erst jetzt wieder an ein umfassendes Konzept einer großen Steuerreform. Verallgemeinernd kann man sagen, dass es der SPD in der Vergangenheit darum gegangen ist, durch Steuerreformen die Umverteilung zwischen Reich und Arm voranzutreiben und gleichzeitig die finanzielle Ausstattung eines sich erweiternden Staatssektors sicherzustellen. Die Union war in dieser Hinsicht stets etwas zurückhaltender, wenn auch festzustellen ist, dass der Staatsanteil unter ihrer Führung auf über 50 Prozent angestiegen ist. Heute ist es übereinstimmendes Ziel der Parteien mit Ausnahme der PDS, den Staatsanteil wieder drastisch auf etwa 40 Prozent zu senken und auch die Steuerbelastung der Bürger und Unternehmen zurückzuführen. Ob dies gelingen kann, bleibt abzuwarten. Fast allen Änderungen von Steuergesetzen, die als Steuerreform bezeichnet wurden, sind langwierige Entscheidungsprozesse vorausgegangen. Dabei nahmen die Auseinandersetzungen in den Parteien und in der jeweils regierenden Koalition bis zur Vorlage der Reformkonzeptionen mehr Zeit in Anspruch als die sich anschließenden Gesetzgebungsverfahren. Wenn es ums Geld geht, hören auch politische Freundschaften auf. Für den Bund ist stets vor allem die Auseinandersetzung mit den Ländern bedeutsam gewesen, denen das Grundgesetz in der Steuerpolitik weit gehende Mitspracherechte zubilligt. Die Länder pflegten Reformen nur dann zuzustimmen, wenn sie selbst dadurch finanziell nicht benachteiligt wurden. Dadurch haben die Länder ihre finanzpolitische Bedeutung seit Gründung der Bundesrepublik immer mehr ausweiten können. Auch die jetzt vorgelegten Sparpläne der Bundesregierung müssen sich in Auseinandersetzung mit den Ländern bewähren.
Besonders modern und etwas völlig Neues war in der jungen Bundesrepublik das Betriebsverfassungsgesetz, das 1952 in Kraft trat. Die Demokratie machte auch vor den Unternehmen nicht Halt. Zwei wichtige Gesetze, die auch heute noch Bestand haben, wurden 1956 und 1957 verabschiedet. Durch das Ladenschlussgesetz sollte in allen Handelsunternehmen für gleiche Bedingungen beim Verkauf gesorgt werden. Der Staat wollte nicht, dass sich kleine Ladenbesitzer durch endlose Ladenöffnungszeiten selbst ausbeuteten, um im Wettbewerb mit großen Kaufhäusern zu bestehen, die im Schichtbetrieb arbeiten konnten. Andere Staaten hielten weitaus weniger von einem solchen Gesetz, und manches spricht dafür, dass das Ladenschlussgesetz auch in Deutschland bald wieder abgeschafft werden dürfte. Das zweite wichtige Gesetz war das Kartellgesetz, das nach wie vor von großer Bedeutung ist und zum einen sicherstellt, dass sich Übernahmen in einem geregelten Rahmen vollziehen, zum anderen – und vielleicht noch wichtiger – die Bildung von Monopolen erschwert. Mit diesen Gesetzen waren wesentliche Grundsteine zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft gelegt.
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Seit den Bismarkschen Sozialreformen des neunzehnten Jahrhunderts gehört Deutschland in der sozialen Sicherung zur Weltspitze. |
Doch es ging nicht nur um Marktwirtschaft, es ging auch um das Soziale. Damit sind Stichworte wie Rentenreform, Gesundheitsreform, Lohnfortzahlungsgesetz und Mitbestimmung verbunden. Seit den Bismarckschen Sozialreformen des neunzehnten Jahrhunderts gehört Deutschland in der sozialen Sicherung zur Weltspitze. Der Bundestag hat nach Gründung der Bundesrepublik im Wesentlichen am Bismarckschen Modell festgehalten. Das Konzept der Solidarität und des Generationenvertrages wurde nicht in Frage gestellt. Das machte schon die erste Rentenreform 1957 deutlich, bei der es um die Verfestigung des Prinzips der GenerationenSolidarität und die Dynamisierung der Renten ging. Alle späteren Rentenreformen erfolgten mit dem Ziel, das deutsche Modell unter sich verändernden demografischen Bedingungen zu erhalten. Die Zahl der Alten hat im Verhältnis zu den Jungen in den vergangenen 50 Jahren erheblich zugenommen; die Menschen leben länger und sie arbeiten kürzer. Das führt dazu, dass die Belastung der Rentenkassen enorm angestiegen ist, was wiederum steigende Beitragssätze mit sich gebracht hat. Alle Politik war bisher darauf gerichtet, durch Tricks und Kniffe, die Beitragsbelastung stabil zu halten, ohne gleichzeitig das Rentenniveau ernsthaft zu gefährden. Bisher hat sich – nicht zuletzt wegen der enormen Übergangsfristen von mehr als 30 Jahren – keine Partei dazu bereit gefunden, von dem umlagefinanzierten Rentenmodell auf ein kapitalfinanziertes umzuwechseln. Die demografische Entwicklung hat in Verbindung mit neuen medizinischen Entdeckungen und Techniken auch in der Gesundheitspolitik zu immer neuen Problemen geführt. Der Bundestag war stets bemüht, für alle Bürger eine medizinische RundumVersorgung bei freier Arztwahl sicherzustellen. Eine Explosion der Kosten konnte damit aber nicht vermieden werden. Seit Jahren debattiert der Bundestag deshalb über neue gesundheitspolitische Modelle, ohne sich zu radikalen Reformen bereit zu finden. Diese würden bedeuten, dass die Patienten neben den Krankenversicherungen verstärkt zur Leistung von Eigenbeiträgen herangezogen werden müssten, um ihnen das Gefühl zu nehmen, dass ein Arztbesuch nichts koste. Doch die Parteien lehnen solche Schritte ab und versuchen, durch Verhandlungen mit Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern sowie durch die Einführung von Ausgabebudgets die Kostenentwicklung zu kontrollieren. Von besonderer gesundheitspolitischer Bedeutung war 1996 allerdings die Einführung einer Pflegeversicherung. Damit sollte sichergestellt werden, dass in einem veränderten gesellschaftlichen Umfeld, die wachsende Zahl Gebrechlicher anständig versorgt wird.
Einen weiten Weg ist der Bundestag in der Energiepolitik gegangen. In der jungen Bundesrepublik kam es vor allem auf die Leistungen des deutschen Bergbaus an. In Anerkennung dieser Leistungen hat der Bund alles getan, den SteinkohleBergbau zu sichern, als er zunehmend teurer wurde, weil die AbbauBedingungen schwieriger wurden. Schon 1965 wurden Kohlekraftwerke steuerlich begünstigt. Durch vielfältige und sehr hohe Subventionen ist der SteinkohleBergbau bis heute unterstützt worden. In den sechziger Jahren folgte die Hinwendung zur Atomkraft. Vor allem die SPD drang auf den Bau von Kernkraftwerken, wobei das Interesse an dieser Energieform infolge des Ölpreisschocks der siebziger Jahre noch zunahm.
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Den Ausstieg aus der Kernenergie hat sich die rotgrüne Bundesregierung im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt. |
Erst mit dem Aufkommen der Umweltbewegung in den späten siebziger Jahren wuchsen die Zweifel am Nutzen der Kernenergie. Die junge grüne Partei profilierte sich über die AntiAtomInitiativen und fand in ihrer Ablehnung der Kernkraft zunehmend Anhänger bei den Sozialdemokraten. Es war nur folgerichtig, dass die derzeitige rotgrüne Koalition nach ihrem Wahlsieg im vergangenen Herbst das Ziel des Ausstiegs aus der Kernkraft im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat. Ein wichtiges Politikfeld hatte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik kaum eine Rolle gespielt: die Umweltpolitik. Erst nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 wurde das Amt des Bundesumweltministers geschaffen. Seither hat die Umweltpolitik ständig an Gewicht gewonnen und ist aus dem Bundestag gar nicht mehr wegzudenken. Hauptaufgabe der Bundespolitik nach 50 Jahren ist es nun, die zahlreichen Errungenschaften nicht nur zu verteidigen, sondern sie auch bezahlbar zu halten. Das kann nur dadurch geschehen, dass der Staat sich wieder stärker auf seine Kernaufgaben besinnt und dem Bürger mehr Initiativen abfordert. Anders sind die weit gesteckten Reformziele der Bundestagsparteien nicht zu erreichen. Ludwig Erhards Konzepte können dabei heute immer noch Anregung bieten.