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"Ganz nah sieht man nichts"
Als Annemarie Renger am 13. Dezember 1972 ihre Antrittsrede als Präsidentin des Deutschen Bundestages hielt, sass Jupp Darchinger oben auf der PresseTribüne und hatte die erste Frau an der Spitze des Parlamentes mit seiner Kamera fest im Blick. Beide – die Grande Dame der SPD und der bekannteste Politikfotograf in Bonn – kennen das Parlament von Beginn an. Im Gespräch mit Axel Mörer beschreiben Renger und Darchinger, wie sich der Bundestag und die Menschen, die in ihm arbeiten, in 50 Jahren verändert haben.
Blickpunkt Bundestag: Sie haben beide 50 Jahre Parlament in Bonn miterlebt, aktiv auf verschiedenen Posten. Der Bundestag zieht gerade nach Berlin, das Kabinett hat zum letzten Mal in Bonn getagt. Was hat sich verändert, seit der Bundestag 1949 zum ersten Mal in Bonn zusammengekommen ist?
Darchinger: Vor allem der Respekt gegenüber den Politikern und dem Parlament. Wie über 40 Jahre lang habe ich mir heute Morgen einen dunklen Anzug mit Krawatte angezogen und bin zur Kabinettssitzung gefahren. Zugegen waren heute Morgen etwa 40 Kollegen. Ich habe sie mir noch einmal angeguckt. Ich würde sagen: Der eine kam direkt vom Rasen mähen, ein anderer vom Fußballplatz, der dritte vom Tennis spielen und der letzte hatte gerade gefegt... Vielleicht muss das heute so sein. Ich jedenfalls kam mir in meinem Anzug so deplatziert vor, dass ich noch einmal an mir heruntergeguckt habe.
Renger: Die haben sich bestimmt alle gedacht: ein alter Herr, lasst den mal...
Darchinger: Genau.
Renger: Das erinnert mich an den Einzug der Grünen in den Bundestag. Auch durch ihre Gewandung zeigten sie ihre absolute Opposition gegen das vom Volk gewählte Parlament. Ich war als Vizepräsidentin offenbar strenger als die anderen. Rainer Barzel, der 1983 und 1984 Bundestagspräsident war, sagte mir damals: "Nun lass sie doch, die laufen sich tot." Aber ich bestand auf eine Mindestachtung des Parlamentes. Es wäre zuvor undenkbar gewesen, dass jemand in Strickjacke ins Parlament gegangen ist...
Darchinger: Das war ein bewusster Affront...
Renger: Als Thomas Ebermann von den Grünen, der sonst immer nur alte Pullover trug, im offenen Hemd ans Rednerpult ging, habe ich ihm gesagt, er soll sich das Hemd zumachen. Das hat er dann auch getan. Als Frau Iotto, die italienische Parlamentspräsidentin zu Gast war, habe ich sie mal gefragt, wie sie solche Dinge regelt. Da sagte sie: "Wenn ein Abgeordneter im Parlament ohne Krawatte erscheint, dann rufe ich den zu mir und gebe ihm aus einem Karton, den ich unter dem Pult habe, eine Krawatte. Noch nie hat sich einer geweigert."
Frau Renger, wenn der Bundestag in diesen Tagen seinen 50. Geburtstag feiert, denken viele Menschen an Kanzler wie Adenauer und Brandt, an wichtige Minister wie Schiller und Genscher. Hat der Bundestag in der Öffentlichkeit den Rang, der ihm gebührt?
Renger: Die Menschen haben ein falsches Bild vom Bundestag. Sie denken, wenn das Kabinett etwas beschlossen und der Kanzler verkündet hat, dann ist das Gesetz. Dass dann bei großen Reformen noch einmal mitunter zwei Jahre vergehen, bis das Gesetz beschlossen wird, dass das Parlament ein Gesetz nach intensiven Diskussionen in Ausschüssen und im Bundestag noch verändert, dass die Fraktionen Einfluss nehmen, wird kaum zur Kenntnis genommen. Oder die Menschen fragen abfällig: Was machen die da eigentlich?
Konzentriert sich die Berichterstattung vielleicht zu stark auf die Regierungsarbeit?
Renger: Natürlich steht der Kanzler und seine Regierung im Mittelpunkt. Hinzu kommt, dass viele Journalisten nicht einmal mehr in den Bundestag gehen, seit die Debatten im Fernsehen übertragen werden. Das wiederum schlägt sich bei den Abgeordneten nieder. Die abweichende Meinung hat nicht mehr den Stellenwert, wie dies früher der Fall war. Man äußert seine Meinung zwar noch, aber es wird nicht zur Kenntnis genommen. Mein Eindruck ist: Früher gab es deutlich mehr spontane Diskussionen und Meinungsäußerungen im Bundestag, inhaltliche Zwischenrufe, die die Debatte weiterbrachten. Heute sind Zwischenrufe manchmal albern und verletzender Art. Herbert Wehner zum Beispiel haben Zwischenrufe mitunter zu einem ganzen Referat angeregt.
Kommt die Schwäche in der Wahrnehmung des Bundestages daher, dass sich nicht die Gesamtheit des Parlamentes als Kontrollinstanz der Regierung versteht, wie es die Gewaltenteilung vorsieht, sondern nur die Opposition? Jede Regierung kann sich ja der Mehrheit im Bundestag weitgehend sicher sein.
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Renger: Sie sprechen das nächste Problem an. Als ich 1953 in den Bundestag kam, hatte ich noch die Vorstellung, das Parlament stehe der Regierung gegenüber. Doch das ist in Wahrheit schon lange nicht mehr der Fall. Es steht allein die Opposition gegen die Regierung, während sich die Mehrheit wenig darum kümmert, was die Opposition für Vorschläge macht. Das gilt für jede Regierung, egal welcher Couleur. Dazu kommt, dass jeder Fraktionsvorsitzende versucht, seine Leute hinter sich zu scharen. Das ist einerseits gut, wenn man etwas durchbringen will. Andererseits ist dies das Ende des freien Abgeordneten, der sich mit seinen Vorschlägen zu Wort meldet. Das kommt nur noch ganz selten vor.
Herr Darchinger, sie haben 50 Jahre die Politiker in Bonn fotografiert: Wie nah durften sie ran?
Darchinger: Wenn ich gewollt hätte, oft sehr nah. Ich wollte aber nicht.
Man spricht ja oft von der großen Nähe, mitunter von der Symbiose der Journalisten und Politiker...
Darchinger: Ich kann da nur für mich sprechen. Wenn man zu nahe an eine Sache herangeht, sieht man um so weniger. Halten Sie Abstand, haben Sie einen größeren Blickwinkel und erfassen mehr. Ich wollte nie nur die Nasenspitze, sondern auch die Umgebung und besonders den Hintergrund mit zusätzlicher Information. Ein gutes Pressefoto ist eine verdichtete Nachricht.
Wie nah durften die Journalisten und Fotografen an Sie heran, Frau Renger?
Renger: Ich war da eher unkompliziert, zumal auch keiner ein Ansinnen gestellt hat, das ich nicht erfüllen konnte. Das Weitestgehende war ein Bild beim Frisör.
Heute im Fernsehzeitalter hat man den Eindruck, dass sich die Grenze weg vom Politischen weit ins Private verschoben hat. Tun Politiker nicht inzwischen fast alles, um ins Fernsehen zu kommen?
Renger: Es hat sich die Vorstellung aus den USA durchgesetzt, dass der Politiker eine öffentliche Einrichtung ist, der keine Privatsphäre mehr hat und von dem man alles wissen muss: Wo er seine Kleidung gekauft hat, wie teuer sie ist, ob er eine Freundin hat. Es gab Zeiten, da wurde die Privatsphäre akzeptiert. Das habe ich auch ganz persönlich erlebt. Heute erzielt man eine große Öffentlichkeit nur noch, wenn man im Fernsehen präsent ist. Sind Sie nicht im Fernsehen, erreichen Sie nicht annähernd die nötige Popularität. Umgekehrt sagen die Journalisten, sie hätten einen Anspruch auf private Informationen. Es ist ja heute so, dass nicht mal mehr für die Lokalpresse die Wahlkreisarbeit der Abgeordneten von Interesse ist.
Hat sich die Arbeit im Parlament verändert im Laufe der Jahre?
Renger: Auf jeden Fall die Bewertung der Arbeit. Heute wird nur geschaut, ob das Plenum voll ist. Es werden Statistiken bewertet, wie oft man wo war, wie lange der Bundestag getagt hat, wie viele Gesetze beschlossen wurden. Dabei ist es von viel größerer Bedeutung, dass die Abgeordneten frei und im Diskurs nach Lösungen suchen, wie die Probleme und Herausforderungen des nächsten Jahrtausends angegangen werden können. Die Abgeordneten müssen diese Probleme ja erst einmal selber aufnehmen und verstehen. Aber über solche Fragen wird ja im Plenum gar nicht mehr geredet.
Ist der Bundestag demnach nicht mehr der Raum für den öffentlichen Diskurs?
Renger: Ist er nicht, und dies seit langem.
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"Mit Annemarie Renger verbinde ich auch die Sorge um ein leeres Plenum" |
Darchinger: Meist sind die Talkshows im Fernsehen aktueller. Außerdem passiert natürlich vieles, von der Öffentlichkeit unbemerkt, in den Ausschüssen. Aber der Bundestag hat noch ein anderes Problem: Das ist der Einfluss der Lobbyisten. Die Auftraggeber sind mächtiger und einflussreicher geworden.
Renger: Lobbyisten gibt es schon immer. Früher haben große Unternehmen ihre Leute direkt ins Parlament entsandt. Die brauchten nicht hinten herum Einfluss zu nehmen, sondern haben dies direkt im Bundestag getan. Und dabei auch noch doppelt kassiert. Neben den Diäten floss ja das Gehalt des Arbeitgebers weiter. Dabei waren die Abgeordnetendiäten für diese Leute Peanuts, wie man heute sagt.
Herr Darchinger, es gibt Bilder von Ihnen, die einen Politiker unmittelbar als Menschen zeigen und große Sympathie ausdrücken. Zum Beispiel die Aufnahme von Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition. Unmittelbar vor dem Bundespresseball 1967 lässt er sich die Fliege von seiner Frau Ruth gerade rücken. Wie gelangen solche sehr intimen Bilder?
Darchinger: Solche Bilder sind kein Zufallsprodukt, sondern Ergebnis von jahrelanger, vertrauensvoller Zusammenarbeit. Brandts kannten mich. Sein persönlicher Referent rief mich also vor dem Bundespresseball zu sich und bot mir an, Brandts bei der Vorbereitung zu fotografieren. Ich hatte den Eindruck, dass dies mit ihrem Einverständnis geschah. Und so stand die Tür offen, ich konnte die Bilder mit dem gebührenden Abstand machen und verschwand wieder. Solche Bilder haben sehr viel mit der Souveränität und dem inneren Gleichgewicht dieser Leute zu tun.
Es gibt Ereignisse, die erst durch ein Foto historisch wurden. Ich denke da zum Beispiel an die Aufnahme von Ihnen 1981 im Bahnhof von Güstrow, als Erich Honecker Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Abschied ein Bonbon in die Hand drückt.
Darchinger: Davon gibt es übrigens mehrere Aufnahmen, allerdings aus anderen Perspektiven. Während die anderen Fotografen mit Honecker und Schmidt zum Bahnhof kamen, war ich schon da und hatte mir den besten Standort ausgesucht. Solche Bilder gelingen nur, wenn man sich entsprechend vorbereitet.
Haben Sie sich auch auf den Amtsantritt von Annemarie Renger vorbereitet?
Darchinger: Natürlich, denn sie war die weltweit erste Frau an der Spitze eines Parlamentes. Man muss wissen, dass es nur eine einzige Gelegenheit im Leben eines Parlamentspräsidenten gibt, ihn stehend beim Vortrag an seinem Platz zu fotografieren. Und das ist bei der Antrittsrede. Darauf habe ich mich eingestellt. Aber mit Annemarie Renger verbinde ich auch die Sorge um ein leeres Plenum. Sie hat einmal den später nicht realisierten Vorschlag gemacht, das Parlament durch einen Vorhang oder eine mobile Wand verkleinern zu können, wenn nicht alle Abgeordneten da sind. Es gab Sitzungen mit hunderten Zuschauern auf der Tribüne, und im Plenum verloren sich acht Leute. Jetzt habe ich den neuen Plenarsaal im Reichstag gesehen und wieder sofort daran zurückgedacht. Denn der neue Saal ist derart groß und hallig, dass der Eindruck eines leeren Plenums noch sehr viel schlimmer sein wird.
Renger: Auch mir ist das aufgefallen. Der Eindruck wird noch viel verheerender sein als in Bonn. Dabei bedeutet ja ein leeres Plenum nicht, dass die Abgeordneten nicht arbeiten. Sie lesen Akten, beantworten Briefe, nehmen wichtige Termine wahr. Nur: Das sieht man nicht.
Darchinger: Frau Renger, was mich einmal interessieren würde. Sie waren ja 18 Jahre lang Präsidentin und Vizepräsidentin des Bundestages. Wie haben Sie die ganze Bande eigentlich unter Kontrolle gehalten?
Renger: Was heißt hier unter Kontrolle halten?
Darchinger: "Herr Abgeordneter, ich erteile ihnen einen Ordnungsruf!" So was stelle ich mir gar nicht so einfach vor.
Renger: Das ist nicht so das Problem. Man braucht natürlich Einfühlungsvermögen, wie man eine Sitzung leitet und wann man einschreitet. Aber die Sitzungsleitung im Bundestag ist noch das Einfachste am Amt der Parlamentspräsidentin.