INTERVIEW MIT IPU-GENERALSEKRETÄR ANDERS B: JOHNSSON
Freilassung kurdischer Parlamentarier gefordert
Blickpunkt Bundestag: Herr Generalsekretär: die Konferenz in Berlin wird die erste große Interparlamentarische Konferenz in Deutschland seit der Vereinigung des Landes vor neun Jahren sein. Welche Erwartungen haben Sie und welche Botschaft möchten Sie den Deutschen und den Berlinern übermitteln?
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Anders B. Johnsson: Ich bin der Auffassung, dass die Konferenz in Berlin zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt stattfindet. Es sind jetzt zehn Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen. Wenn Sie die Auswirkungen dieses Ereignisses betrachten, werden Sie feststellen, dass die Demokratie nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch im gesamten Europa und in vielen Ländern in anderen Teilen der Welt verwirklicht wurde. Wenn man bedenkt, dass das Symbol der Demokratie überall das Parlament ist, dann ist jetzt – zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer – die Zusammenkunft aller Parlamente in Berlin in der Tat von sehr großer Bedeutung.
Sie haben beschlossen, dass eines der Hauptthemen der Konferenz "Der Beitrag der Parlamente anlässlich des 50. Jahrestages der Genfer Übereinkommen zur Gewährleistung der Beachtung und Förderung des humanitären Völkerrechts" sein wird. Welche Absicht steht dahinter?
Die Genfer Übereinkommen wurden vor fast 50 Jahren verabschiedet. Diese Übereinkommen beschäftigen sich, wie Sie wissen, mit Regelungen, die im Krieg zum Schutze der Kriegsgefangenen, der Verwundeten und der Seeleute zu beachten sind und – was besonders wichtig ist – zum Schutz der Zivilbevölkerung. Obwohl fast alle Länder der Welt diese Konventionen ratifiziert haben, verletzen leider in Kriegszeiten die meisten Länder diese Übereinkommen. Beispiele hierfür haben wir erst kürzlich in Afrika und auf dem europäischen Kontinent erlebt; ich glaube, das ist der Grund, weshalb die Mitglieder der IPU beschlossen haben, dass es wirklich notwendig ist, unsere Aufmerksamkeit erneut diesen von uns vor 50 Jahren vereinbarten Übereinkommen zu widmen und der Notwendigkeit, dass sie von jedem beachtet werden müssen. Ich glaube, dass dies der Konferenz gelingen wird.
"Ein Parlamentarier, dem das freie Rederecht oder das Recht auf Bewegungsfreiheit verwehrt wird, kann nicht als Vertreter der Menschen, die ihn gewählt haben, arbeiten."
Das zweite Thema, das Sie vereinbart haben, beschäftigt sich mit der Notwendigkeit, die globalen finanziellen und wirtschaftlichen Strukturen zu überprüfen. Können Sie hierzu einige Erläuterungen geben?
Ja, das ist eine Debatte, die mit dem Ausbruch der Finanzkrisen in Asien begann, die sich dann auf einige Teile Lateinamerikas und andere Teile der Welt wie Russland, Europa usw. ausgeweitet haben. Dies hat auch eine Debatte eingeleitet über die Notwendigkeit einer Überprüfung der derzeitigen Strukturen und Institutionen, damit mehr Stabilität und Gleichheit für dieses System herbeigeführt und garantiert werden kann. Diese Debatte ist bislang in mehreren internationalen Gremien geführt worden: bei den Vereinten Nationen ebenso wie in der Weltbank und im IWF und an anderer Stelle, und auch die Politiker und Parlamentarier sind für diese Debatte. Der Vorschlag, diesen Punkt auf die Tagesordnung der Konferenz in Berlin zu setzen, kommt von den südostasiatischen Staaten und ganz besonders von Malaysia. Ich denke, dies zeigt ein gewisses Missbehagen oder eine Unzufriedenheit bei ihnen in Bezug auf das bislang Erfolgte zur Bewältigung dieses Problems. Viele andere Mitglieder der IPU sind offensichtlich ebenfalls dieser Auffassung. Daher steht diese Frage auf der Tagesordnung unserer Erörterungen.
Lassen Sie mich auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Arbeit der IPU kommen: Voraussichtlich am 16. Oktober 1999 wird sich der Interparlamentarische Rat mit einem Bericht des Ausschusses zur Überprüfung der Verletzungen von Menschenrechten von Parlamentariern beschäftigen. Was haben wir zu erwarten, insbesondere in Bezug auf die Situation der kurdischen Parlamentarier in der Türkei?
Dies ist ein Ausschuss, der vor mehr als 20 Jahren geschaffen wurde. Seine Aufgabe ist es, sich mit dem Schutz der Menschenrechte von Parlamentariern zu befassen. Er tut dies, weil ein Parlamentarier, dem das freie Rederecht oder das Recht auf Bewegungsfreiheit verwehrt wird, ganz einfach nicht als Vertreter der Menschen, die ihn als Abgeordneten gewählt haben, arbeiten kann. Dies ist der Grund, weshalb dieser Ausschuss eingesetzt wurde. Er arbeitet auf der Grundlage des Dialogs mit Staaten und mit Behörden. Dem Ausschuss werden Einzelfälle vorgelegt, der diese dann prüft und den Kontakt mit den Behörden des zuständigen Landes sucht. Es beginnt also mit einem Dialog. Sehr oft werden diese Fälle nie in der großen Öffentlichkeit bekannt, weil sie durch diesen Dialog gelöst werden können. Wenn sie jedoch nicht gelöst werden und es keine Fortschritte gibt, dann wird dieser Fall eben öffentlich bekannt gemacht und es gibt einen öffentlichen Bericht. Das werden Sie am 16. Oktober 1999 bei der Sitzung des Rates am letzten Tag der Konferenz erleben. Dort wird es einen offiziellen Bericht der Ausschüsse über öffentliche Fälle geben, mit denen sich die Ausschussmitglieder befassen. Zu den bekanntesten Fällen zählen leider bis heute die der türkischen Parlamentsmitglieder kurdischer Abstammung, die inhaftiert wurden aufgrund der Ansichten, die sie vertreten. So sieht es unser Ausschuss und er hat immer wieder die Freilassung dieser Parlamentarier gefordert. Es gibt aber viele andere Staaten, in denen eine ganze Reihe von Parlamentsmitgliedern Probleme haben bezüglich ihrer Menschenrechte. Es sind Parlamentarier, die inhaftiert wurden oder denen die Redefreiheit verwehrt wird. Leider nimmt ihre Zahl immer weiter zu.
Kommen wir zu einer allgemeineren Frage: Wie sind die Beziehungen der IPU – als dem Parlament der Parlamente – zu den Vereinten Nationen?
Die IPU ist der Ansicht, dass die Parlamente ihrer Arbeit nicht richtig nachkommen können, wenn sie nicht ganz eng mit den Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Es gibt einen einfachen Grund hierfür: Eine Reihe von Fragen wird heutzutage angesichts der Globalisierung tatsächlich nicht mehr in einem Parlament oder in einer Regierung allein behandelt, sondern an mehreren Stellen. Wenn ein Problem heute in einem Parlament zur Behandlung ansteht, so kann es sein, dass an anderer Stelle bereits eine Entscheidung hierzu gefällt wurde. Daher ist es für die Parlamente wichtig, eine enge Verbindung zu halten zu den Fragen, die auf der Tagesordnung der Vereinten Nationen stehen, und sich aktiv daran zu beteiligen. Andererseits erkennen die Vereinten Nationen, dass auch sie ihre Arbeit nicht richtig ausführen können, wenn sie nicht enger mit den nationalen Parlamenten zusammenarbeiten, und zwar aus ganz einfachen Gründen. Bei vielen Beschlüssen, die von den Vereinten Nationen in Form von Übereinkommen oder Resolutionen des Sicherheitsrates oder in anderer Form getroffen werden, müssen – damit sie auf nationaler Ebene umgesetzt werden können – die notwendigen Ressourcen vorhanden sein, also ein Haushalt. Dafür muss es einen Rahmen geben, das bedeutet Gesetze. Wenn es ein Übereinkommen ist, muss es ratifiziert werden. Daher brauchen die Vereinten Nationen in jedem Fall die Parlamente. Sie brauchen sie, weil die Parlamente Haushalte festlegen, Gesetze verabschieden und internationale Übereinkommen ratifizieren. Sie brauchen sie auch als einen Vermittler zum Volk, denn es gibt eine wachsende Kluft zwischen den Vereinten Nationen und uns, den Völkern, die die Vereinten Nationen zu vertreten beanspruchen. Es besteht die Notwendigkeit, die Menschen wieder zu den Vereinten Nationen zurückzuführen, und hierbei ist der Parlamentarier der Hauptakteur . Daher vertritt die IPU die Ansicht, dass wir viel enger zusammenarbeiten müssen. Die Vereinten Nationen sehen das ganz genauso, und wir bemühen uns jetzt, dies in die Tat umzusetzen. Das bedeutet, dass wir die Parlamente dazu drängen, sich im verstärkten Maße auf nationaler Ebene mit Themen der Vereinten Nationen auseinander zu setzen und sich auch international dafür einzusetzen, dass die IPU, ich würde nicht sagen als ein Teil des Systems der Vereinten Nationen, sondern als ein Counterpart – ein parlamentarischer Counterpart – zu den Vereinten Nationen angesehen wird.
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"Es gibt eine wachsende Kluft zwischen den Vereinten Nationen und uns, den Völkern, die die Vereinten Nationen zu vertreten beanspruchen." |
Es wird heute viel von der "parlamentarischen Diplomatie" gesprochen. Wie stehen Sie dazu?
Wenn ein Regierungsmitglied an einem internationalen Gremium teilnimmt, vertritt er oder sie seine bzw. ihre Regierung und kommt daher mit Anweisungen in Bezug auf Positionen, die zu verhandeln sind. Bei Parlamentariern ist das anders. Sie vertreten in aller erster Linie ihre eigenen politischen Ansichten und die ihrer politischen Parteien; manchmal haben sie sogar ein weiterreichendes Mandat. Aber sie müssen nicht aus einer bestimmten Ecke heraus argumentieren oder stehen unter einem bestimmten Zwang, wie z.B. ein Diplomat. Daher haben sie also viel mehr Freiheit zu reden und zu verhandeln. Und das tun sie. Die Bedeutung unserer Konferenz liegt natürlich in dem, was auf der Tagesordnung zu erörtern sein wird. Aber der noch wichtigere Teil ist das, was nicht auf der Tagesordnung steht, und damit meine ich die zahlreichen bilateralen Treffen, die zwischen Parlamentsmitgliedern aus Delegationen verschiedener Staaten stattfinden. Hier werden bilaterale Fragen erörtert, z.B. über die Freilassung von Gefangenen, und sogar Fragen, die Krieg und Frieden betreffen. Es gibt eine Reihe von Beispielen, wo auf IPU-Konferenzen für schwierige Fragen, über welche es zwischen den Ländern zu Konfrontationen gekommen war, ein Lösungsansatz gefunden wurde. So wurden z.B. die Strukturen der IPU genutzt, als es darum ging, einen Waffenstillstand zwischen dem Iran und dem Irak zu erreichen. Auf der letzten Konferenz gab es einen Vertreter, der mit der Delegation aus Jugoslawien über die mögliche Freilassung von Bürgern seines Landes, die in Jugoslawien inhaftiert waren, verhandelte. Fälle dieser Art gibt es immer wieder auf IPU-Konferenzen.
Ich danke Ihnen, Herr Generalsekretär.