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Freie Volkskammerwahl vor zehn Jahren
Aufbruch nach 40 Jahren Diktatur
Am 18. März 1990, vor genau zehn Jahren, endete eine Epoche: Zum ersten Mal nach 40 Jahren konnten die DDR-Bürger in freien, gleichen und geheimen Wahlen ihr Parlament wählen, die Volkskammer. Zum ersten Mal gingen sie nicht mehr "falten", sondern stimmten wirklich über verschiedene Parteien ab. "Falten" – so nannten die DDR-Bürger es, wenn sie den Wahlzettel mit dem Vorschlag der Nationalen Front in die Urnen steckten: eine Wahlliste, schön austariert zwischen der führenden SED und den Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und Bauernpartei sowie den Massenorganisationen. Zu bestimmen hatten die Wähler nichts, sie sollten nur durch massenhafte Wahlbeteiligung zur Bestätigung der Regierung und den sprichwörtlich gewordenen "sozialistischen Ergebnissen" von meist über 98 Prozent beitragen. Die frei gewählte Volkskammer entschied nur wenige Monate nach ihrer Wahl den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und löste sich dann selbst auf. Bereits im Dezember folgte die erste gesamtdeutsche Wahl: Am 2. Dezember 1990 konnten alle Deutschen einen gemeinsamen Bundestag bestimmen.
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Die kleine, alte Frau ist mit dem Fahrrad gekommen, quer durch den ganzen Ort, an der mächtigen Kirche aus Feldstein vorbei, über das holprige Straßenpflaster. Dabei ist sie schon über 80 und gebrechlich in letzter Zeit. Doch diesen Tag will sie sich nicht entgehen lassen. Vorsichtig stellt sie ihr Rad am sandigen Straßenrand vor dem Speiselokal der DDR-Handelsorganisation HO ab. Vorsichtig späht sie durch die Tür, hält sich unsicher am Türrahmen fest, blickt suchend von einem zum anderen. Dann lächelt sie erleichtert. "Tante Käthe, hier geht's lang", sagt Wahlleiterin Christel Wilke und führt die alte Dame in die Wahlkabine. Als Tante Käthe wieder hervorkommt, will sie nichts wie weg. Im Hinausgehen sagt sie noch: "Ist schon besser, wenn man nicht nur eine Partei wählen kann." Dann kraxelt sie in ihrem hellblauen Frühjahrskostüm wieder aufs Fahrrad.
Gut 900 Wahlberechtigte gab es an diesem 18. März 1990 in dem Örtchen Schönwalde, 30 Kilometer nördlich von Berlin. Und wie Tante Käthe waren sie bewegt und gleichzeitig nervös. Bei den ersten freien Wahlen in der DDR vor jetzt genau zehn Jahren trieb es die Menschen in Scharen zu den Wahlurnen. 93,38 Prozent der Bürger gingen zur Wahl, eine heute unvorstellbar hohe Wahlbeteiligung. Eine Wahl war das, die ihnen so bedeutend, so schicksalsträchtig, so zukunftsweisend erschien und in die sie doch zutiefst verunsichert gingen. "Die erste Wahl nach einer gestürzten Diktatur", sagt Markus Meckel, der Mitbegründer der Ost-SPD. "Damit ist doch alles gesagt."
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Verwirrende Vielfalt: 23 Parteien, Listenverbindungen und Gruppierungen waren zur Wahl zugelassen. |
Alles, was 40 Jahre unverrückbar feststand, galt nicht mehr. Wie aus dem Boden geschossen bemühten sich 33 Parteien, Gruppierungen und Listenverbindungen um Aufnahme auf die Stimmzettel, von der Biertrinkerpartei bis zur Deutschen Sozialen Union (DSU). 23 von ihnen wurden schließlich zur Wahl zugelassen.
Doch auch die alten Parteien, die SED-Nachfolgepartei PDS, die LDP, die Bauernpartei gab es noch. Und die Groß-Politiker aus dem Westen schmiedeten bereits Wahlbündnisse auf dem Boden der DDR, wie die Allianz für Deutschland aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch. Wahlplakate überschwemmten das Land, Wahlkämpfer kamen in Scharen aus dem Westen.
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Stimmabgabe erstmals geheim: Wahllokal in Ostberlin. |
Reporter, die damals über Land zogen, um über diesen demokratischen Aufbruch zu berichten, erlebten Menschen wie Tante Käthe und Christel Wilke, eine resolute Mittvierzigerin. All diese Menschen wussten nicht wirklich, woran sie waren. "Ob wir das Richtige wählen, können wir überhaupt nicht beurteilen", sagte damals die Schönwalder Wahlleiterin Wilke. "Wir haben nichts, auf das wir zurückgreifen können. Auch keine Erfahrung mit den neuen Parteien, an der wir sie messen können."
Drei Kilometer von Schönwalde entfernt gingen die DDR-Bürger ins "Strand-Idyll Gorinsee" zum Wählen. Am Wasser des kleinen Sees blühen blaue Buschwindröschen, auf dem Parkplatz stehen ein paar West-Berliner Ausflugswagen in der Sonne, am Haus bieten Schilder "Alkoholfreie Getränke, Brühe, Bockwurst". Schon mittags um 12 Uhr liegt hier die Wahlbeteiligung bei 70 Prozent. Alle, alle kommen sie. Sie kommen, aber sie diskutieren bis knapp vor die Wahlurnen. "Dreimal hab ich mir's überlegt, wen ich wählen soll", seufzt die ehemalige Besitzerin des "Strand-Idylls", Edith Schaefer. "Jetzt hab ich gewählt, aber überzeugt davon? Das kann ich nicht sagen." Wahlleiter Ulrich Korn, der Revierförster aus dem Ort, nickt. Eigentlich wollte er eine der großen Parteien wählen. Doch jetzt ist er schwankend geworden. "Kohl, Brandt, Vogel, Genscher – die haben doch ihren Wahlkampf zu uns verlegt. Das gefällt mir nicht. Das geb ich ganz ehrlich zu."
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Die wenigsten DDR-Bürger wussten in diesem Vor-Frühling vor dem 18. März 1990, wie ihnen eigentlich geschah. Am 29. Januar kurz vor Mitternacht entschied DDR-Minis-terpräsident Hans Modrow gemeinsam mit dem Runden Tisch, nur vorgezogene Neuwahlen könnten das Chaos in der DDR aufhalten. Noch immer gingen die Menschen in Massen in den Westen. Die Marktwirtschaft drängte ungestüm nach Osten, die DDR-Gesetze, die DDR-Ministerien, die DDR-Wirtschaft konnten nicht mithalten. Das Land war in Auflösung. Es brauchte Entscheidungen. Doch die Regierung hat keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Sie gilt als Überbleibsel des alten Machtapparats. Modrow befürchtet, dass ohne demokratisch legitimierte Regierung in kurzer Zeit Anarchie herrschen wird. Der Vorsitzende der PDS, Gregor Gysi, bringt es auf den Punkt: "Was wir jetzt bräuchten, wäre ein basisdemokratisch gewählter Diktator." Weil sich so einer auch in jenen wilden Zeiten nicht einstellen wollte, sollten vorgezogene Wahlen eine handlungsfähige Regierung bringen. So schnell wie möglich. Der Wahlkampf dauerte keine acht Wochen.
Im Raum 205a des Hauses der Demokratie in der Friedrichstraße im damaligen Ost-Berlin sitzt einen Tag nach der Verkündung des Wahltermins die "Vereinigte Linke – Geschäftsführung". So steht es auf der Tür. Dahinter ein Schreibtisch – leer, ein Regal – leer. Die einzige Schreibmaschine der "Vereinigten Linken" ist geliehen – von der "Ini-tiative für Frieden und Menschenrechte" nebenan. Im Presseraum sitzt Hans Schwenke, ein Mann mit Igelfrisur und Lachfalten. Er verzieht die Lippen zu einem Grinsen. "Ehe wir in den Wahlkampf eingestiegen sind, ist der gelaufen", sagt Schwenke. "Das, was jetzt passiert, haut uns alle in die Pfanne. Das hilft nur denen, die logistische Hilfe haben."
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Schwenke sollte Recht behalten. Die kleinen Parteien wie die Vereinigte Linke, der Unabhängige Frauenverband, die Initiative für Frieden und Menschenrechte und die anderen zarten Demokratie-Pflänzchen waren dem Turbo-Wahlkampf, der jetzt einsetzte, nicht gewachsen. "Bitte klopfen, Türklinke wird demnächst angebracht", steht auf der Tür zum Geschäftszimmer der Initiative "Demokratie jetzt". Während die Bürgerbewegten noch auf den Schlosser warten, dirigiert Andreas Appelt beim konservativen "Demokratischen Aufbruch" bereits die Möbel-packer, die Computer im Dutzend bringen. Über Nacht ist die Hilfe aus dem Westen angelaufen. Am Morgen trafen bei der Partei 20 Schreibmaschinen ein, fünf Kopierer, Diktiergeräte, Anrufbeantworter, Büromöbel und eine Million Blatt Papier. Die CDU-West liefert. An die befreundeten Parteien CDU und den Demokratischen Aufbruch des später als Stasi-Spitzel enttarnten Anwalts Wolfgang Schnur und des Pfarrers Rainer Eppelmann. Auch die SPD-West unterstützt die Genossen im Osten, die SPD von Ibrahim Böhme. Auch er stellt sich später als Altlast des DDR-Systems heraus: Seit Jahren arbeitet er für die Stasi.
Wahlkampfhelfer werden nach Berlin geschickt, das Land Nordrhein-Westfalen eröffnet ein Büro, um den Wahlkampf der Ost-SPD zu unterstützen. Damals wusste noch keiner, dass zehn Jahre später eine Sachverständigenkommission die Wahlkampfhilfe untersuchen würde. Markus Meckel, Mitbegründer der Ost-SPD und heute im Bundestag, nennt das "Demokratiehilfe", einen Ausgleich gegen die Übermacht der Blockparteien. Für ihn ist die Kritik zehn Jahre danach schlicht "weltfremd".
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Die Helfer aus dem Westen sagen auch, wo es inhaltlich langgeht. Olaf Irmscher, ein junger Physiker von der Ost-F.D.P., sitzt an einem eisigen Abend in einer heruntergekommenen Villa der Russen in Karlshorst, dem F.D.P.-Parteibüro. Otto Graf Lambsdorff ist da, nimmt genau unter dem Bild von Felix Dzer-szinski, dem Begründer des sowjetischen Geheimdienstes, Platz. Die Position der Bundes-F.D.P.-West will Lambsdorff den Freunden mitteilen. Doch gleichzeitig macht er den Jung-Politikern von drüben schnell klar, was Sache ist und was er unter liberal versteht. "Der hat klipp und klar gesagt, entweder wir machen da halt in diesem Bund freier Bürger mit oder man würde mit allen Kanonen gegen die Ost-F.D.P. Wahlkampf machen." Mit der verhassten Blockpartei LDP sollen sie sich zusammentun, damit alle Liberalen oder die, die sich so nennen, unter einem Parteinamen marschieren. Irmscher, der die Liberalität der FDP damals mit Freiheit übersetzte, wehrt sich. Mit den alten Blockflöten in einem Boot – niemals. "Es gab einen Mordsaufschrei in dieser ohnehin schon unterkühlten Villa. Aber es war ein ganz klarer Druck da: entweder zusammen, oder wir machen euch platt." Schnell lernte Irmscher, dass noch vor der Liberalität die Machtfrage steht.
Auch Bundeskanzler Helmut Kohl schmiedete die konservativen Parteien aus der alten Blockflöte CDU, dem Demokratischen Aufbruch und der DSU zusammen. Bürgerrechtler und SED-Knechte in einem Boot, Hauptsache, die Wahlchancen stiegen. Die Herren aus dem Westen zogen durch die ostdeutschen Städte, Hans-Dietrich Genscher suchte seine Heimatstadt Halle auf, Kohl fuhr umjubelt nach Dresden. CSU-Chef Theo Waigel ließ sich von der DSU zum Ehrenvorsitzenden wählen. Und die PDS hatte den Besitz und den Apparat der alten SED und das Zentralorgan, die Zeitung "Neues Deutschland". Nur die kleinen Parteien sahen ohnmächtig zu.
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Am 22. Februar wird die Wahlleitung für die ersten demokratischen Wahlen in der DDR bestimmt. Statt Egon Krenz, der jahrelang als oberster Wahlleiter der DDR fungiert hatte, steht da plötzlich eine junge Frau an der Spitze des Wahlbüros, Petra Bläss vom Unabhängigen Frauenverband. "Die Macht war noch nicht festgezurrt", erinnert sich die heutige Vizepräsidentin des Bundestages. Alles war möglich. Zumindest schien es so. Wenn sie sich an diese Zeit erinnert, steht ihr alles wieder lebendig vor Augen. Wie sie am Wahltag durch mehr als 30 Wahllokale zieht, wie sie in den Palast der Republik zurückkehrt, die ersten Wahlergebnisse zu sehen bekommt. 70 Prozent für die von der CDU dominierte "Allianz für Deutschland" wurden aus Erfurt gemeldet. "Das war wie ein Schlag ins Gesicht, hammerhart", sagt Bläss.
Ein Erdrutschsieg zeichnet sich ab. Lothar de Maizière, der noch einige Tage vorher gesagt hatte, ob es die CDU denn überhaupt schaffen würde, gewinnt 40,9 Prozent. Die CDU wird stärkste Partei. Um 2.17 Uhr morgens verkündet Petra Bläss das vorläufige amtliche Wahlergebnis: Die SPD, die noch im Januar mit einer absoluten Mehrheit geliebäugelt hatte, bekommt nur 21,8 Prozent der Stimmen. Die Bürgerrechtler vom Bündnis 90 fallen völlig ab. Gerade mal 2,9 Prozent der Stimmen gewinnen die Kämpfer für die Freiheit. Und die größte Überraschung: Die aus der SED hervorgegangene PDS kann immerhin 16,3 Prozent der Stimmen verbuchen.
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Am Wahlabend luden die DDR-Parteien wie im Westen üblich zu Wahlpartys. Die PDS feierte im Kasino des ehemaligen Zentralkomitees der SED. Über der Essensausgabe hing ein Transparent mit einem Spruch des alten Karl Marx: "Der Mensch sollte nicht mit Kohl vorlieb nehmen, wenn er edleres Gemüse erhalten kann." Die DDR-Bürger aber bevorzugten bei ihrer ersten freien Wahl Hausmannskost. Eine von der CDU angeführte Große Koalition löste die DDR in den kommenden Monaten auf. Am 3. Oktober 1990 trat das Land der Bundesrepublik Deutschland bei.
Annette Ramelsberger