TAGESLÄUFE Das Auf und Ab eines ganz normalen ArbeitstagesFür eine dreieinhalbstündige Ausschuss-Sitzung ist tagelange Vorarbeit notwendig. Die PDS-Abgeordnete Christine Ostrowski weiß, dass trotzdem am Ende oft Niederlagen stehen. Dann beginnt sie eben wieder von vorn.
Das muss sie nun eigentlich wirklich nicht mehr tun. Morgens um vier aufstehen, an einem Mittwoch in Berlin. Es ist dunkel draußen und kalt. Minus acht Grad. Das hat sie eigentlich nicht mehr nötig. Nach so einem langen Arbeitstag, an dem sie spät abends im Büro den letzten Hefter zugeklappt und das Licht ausgemacht hat. Vier Uhr ist wirklich verdammt früh. Christine Ostrowski ist auch noch nicht richtig wach. Um wach zu werden, braucht sie eine Unmenge Kaffee, das Geräusch des spielenden Radios und das langsame Ordnen der Gedanken. Um fünf ist sie da schon ein Stück weiter. Der Kaffee hat gewirkt. Mittwoch also. Ausschuss, Arbeitsgespräche, Akten, Angriff. So vielleicht wird sich dieser Tag darstellen. Na bitte. Alles bekommt Struktur und Gesicht. Kurz nach sieben Uhr ist die Abgeordnete Ostrowski im Büro in der Jägerstraße 67. Sie trägt sich unten im Foyer in die Anwesenheitskladde ein. Ziemlich leer noch die Seite für den neuen Sitzungstag. Sie fährt mit dem Fahrstuhl hoch in die vierte Etage. Die gläserne Kabine gibt den Blick auf den Innenhof frei. Christine Ostrowski kann sehen, wie sie abhebt. Im Büro wartet ihr zweigeteiltes Arbeitsleben. Die Sachen aus dem Wahlkreis und der Heimatstadt Dresden, wo sie im Stadtparlament sitzt, und all die Dinge, die in dieser Woche im Bundestag anstehen. Das Wichtigste für sie an diesem Tag wird die Sitzung des Ausschusses für Verkehr, Bauen und Wohnen sein. Die beginnt um 9.30 Uhr. Es ist also noch ein bisschen Zeit bis dahin. Trotzdem macht sich eine leichte Aufgeregtheit bemerkbar. Sie hat für diese Sitzung viel vorbereitet, Anträge und Vorschläge, die ihr, der wohnungspolitischen Sprecherin der PDS-Fraktion, am Herzen liegen. Sehr sogar. Später am Tag wird sie zugeben, dass sie auch mit 55 Jahren noch an diesem kleinen Lampenfieber leidet. "Das ist doch albern, oder?", wird sie rhetorisch fragen und zugleich signalisieren, dass es anders betrachtet auch völlig normal ist, aufgeregt zu sein.
Um 8.30 Uhr kommen die vom Blickpunkt Bundestag. Denen erklärt Christine Ostrowski kurz, wie der Tag ablaufen wird. Sie beweist schon in den ersten drei Minuten, dass der sächsische Dialekt ein unglaubliches Sprechtempo verträgt. Zwanzig Minuten später beginnt die Abgeordnete zu drängeln. Der Shuttlebus wartet, der sie zum Reichstag bringen wird. Wenn sie drängelt. Gut. Obwohl die Ausschusssitzung erst in einer Dreiviertelstunde beginnt. Im Kopf aber hat die Abgeordnete den Termin eine halbe Stunde vorverlegt. Das wissen die Anwesenden allerdings nicht. Also zwei große Taschen mit Akten und Ordnern gepackt. Das Handy spielt zum ersten Mal an diesem Morgen und ziemlich laut Bach. "Mensch", sagt Christine Ostrowski und schnappt sich den Quälgeist, "wer hat das bloß so laut programmiert?" Der Shuttle wartet unten. Rein, Tür zu und los bis zur nächsten Ecke. Da stehen zwei Herren und eine Frau. "Kommen Sie rein, Herr Blüm", ruft die Abgeordnete Ostrowski nach draußen. Es wird eng. So eng, dass der Abgeordnete Blüm einen Kollegen auf den Schoß nehmen muss. Und so wird es eine fröhliche Tour zum Reichstag. Dort stellt die Abgeordnete Ostrowski dann fest, dass der Ausschuss erst um halb zehn beginnt. Na gut – sie hat sich vertan. Aber die Zeit kann sie nutzen, um noch mal die Unterlagen durchzugehen. Unendlich viele Tagesordnungspunkte für diese Sitzung, alle auf gelbem Papier vermerkt. Um 9.34 Uhr geht's los. Der Abgeordnete Eduard Oswald von der CSU leitet die Sitzung mit Witz und Verve. Den Anfang machen Abstimmungen zu Änderungen der Straßenverkehrsordnung. Nach kurzer Debatte der drei wesentlichen Punkte werden die abzustimmenden Inhalte aufgerufen: Artikel 1, Nummer 1, in der Fassung des Entwurfs der Bundesregierung, Artikel 1, Nummer zwei ...
Christine Ostrowski hebt die Hand oder hebt sie nicht. Sie hat erst zu Beginn der Sitzung erfahren, dass sie heute noch ihren Fraktionskollegen vertreten muss, der der Verkehrsexperte ist. Sie zappelt und trampelt mit den Füßen. So viele Tagesordnungspunkte, und ihre Anträge stehen fast am Ende auf dem Programm. Ob das zu schaffen ist? Manchmal, wenn sie ihre Ungeduld nicht mehr im Zaum halten kann, ruft sie "Kommt zum Inhalt zurück!" in den Raum, dreht sich zu ihrer Mitarbeiterin um, die hinter ihr sitzt und ihr zulächelt. "Ruhig bleiben", signalisiert sie der Abgeordneten. Aber das ist leicht gesagt. Um 10.15 Uhr beginnt im Ausschuss die Debatte über den Bericht der Bundesregierung zur Sicherheit des Bahnbetriebs. Experten sind geladen. Es geht hoch her in der Diskussion. Um halb zwölf wenden sich die Abgeordneten dem Altersvermögensgesetz zu. Soll Wohneigentum künftig Bestandteil der Altersvorsorge sein? Die Abgeordnete Ostrowski hält eine kurze Rede. "Über die Rolle des selbst genutzten Wohneigentums zur Altersvorsorge zu reden, hieße ja, Eulen nach Athen tragen", sagt sie und polemisiert gegen die ihrer Ansicht nach noch fehlenden Durchführungsbestimmungen. Das Problem sei doch, sagt sie, dass man Wohneigentum bereits bei Entwicklung der Rentenreform hätte im Kopf haben müssen. Die inhaltliche Arbeit an diesem Vorschlag kann an diesem Tag nicht abgeschlossen werden. Aber man kommt ein Stück weiter. Christine Ostrowski ist jetzt so ungeduldig, dass auch das beruhigende Lächeln der Mitarbeiterin nicht mehr hilft. "Kommen wir nun zu einem Antrag der PDS-Fraktion, Tagesordnungspunkt 5, Kollegin Ostrowski, Sie haben dreieinhalb Minuten." Die Abgeordnete Ostrowski beginnt zu reden – schnell, frei, drängend: "Es darf nicht möglich sein, dass nur eigentumsorientierte Genossenschaften, die nach 1995 gegründet wurden, gefördert werden. Wir müssen die Bestandsgenossenschaften unterstützen ..." Sie kommt nicht durch mit ihrem Antrag und auch nicht mit dem nächsten, der als Tagesordnungspunkt 6 behandelt wird und für Wohnungsbaugesellschaften eine Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturellem Mietwohnungsleerstand erwirken will. Und sie erhält auch keine Mehrheit für ihren Antrag zur Sicherung der Existenz von Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschaftsgesellschaften.
Es ist kurz nach eins und Christine Ostrowski hat verloren. Vorerst. "So kannst du nicht rangehen", sagt sie. "Die Themen liegen auf dem Tisch, und ich werd sie jetzt nicht zu den Akten packen. Die Probleme sind ja auch nicht verschwunden. Dialektik", sagt sie und zündet sich schon wieder eine Zigarette an. "Dann muss ich es in anderen Zusammenhängen wieder zur Sprache bringen." Sie stürmt runter zum Eingang Nord. Vor dem Reichstagsgebäude wartet der Shuttle und bringt sie ins Büro. Vor dem nächsten Gesprächstermin bleibt noch ein wenig Zeit, um schnell was zu essen. Im Parterre der Jägerstraße 67 hat ein neuer Italiener aufgemacht. Der Besitzer vermutet hinter Frau Ostrowski ein Filmteam und gibt sich allergrößte Mühe. "Empfehlen Sie uns weiter", sagt er eine halbe Stunde später und hilft der Abgeordneten in den Mantel. Im Büro klärt Christine Ostrowski mit ihrer Mitarbeiterin noch die wichtigen Punkte für das nächste Gespräch. Zwei Vertreter einer Berliner Mieterinitiative sind für 15.00 Uhr angemeldet. Sie wollen Unterstützung von der Abgeordneten, denn die Zukunft des Wohnblocks, in dem sie leben, ist ungewiss. Wie können sie sich Gewissheit verschaffen? Die Abgeordnete hört zu und macht Vorschläge. In den nächsten Tagen wird sie einen Vor-Ort-Termin machen und sich das Haus anschauen. Um 15.38 Uhr geht man auseinander. Jetzt ist Zeit, mit der Mitarbeiterin Absprachen zu treffen, Termine zu klären, über die Ausarbeitung weiterer Initiativen, Anträge und Gesetzentwürfe zu reden. Zwischendurch klingelt das Handy mit einer Melodie von Bach und das Telefon im Normalton.
Für 18.00 Uhr ist der Geschäftsführer der Luckenwalder Wohnungsbaugesellschaft zum Gespräch angemeldet. In Luckenwalde stehen viele Wohnungen leer. "Manchmal kann man auch nur über das Prinzip Hoffnung reden", sagt die Abgeordnete Ostrowski. "Die Leerstandsproblematik wird uns alle noch lange beschäftigen. Aber man muss so viel wie möglich mit den Leuten reden, die vor Ort sind. Sonst laufen deine parlamentarischen Initiativen an der Realität vorbei." Auf dem Schreibtisch der Abgeordneten liegt noch ein Antrag ihrer Kollegen aus dem Sächsischen Landtag zum Thema TLG-Genossenschaften. Den wird sie bis 18.00 Uhr lesen können und Hinweise und Bemerkungen an den Rand schreiben. Für den Abend hat sie sich vorgenommen, weiter an ihrem großen Projekt "Reform des sozialen Wohnungsbaus" zu arbeiten. "Da musst du rechnen und recherchieren und vergleichen und zusammentragen und Gespräche führen. Da steht dir wirklich der Schweiß auf der Stirn." Das Gespräch mit dem Mann aus Luckenwalde ist eher eine Bestandsaufnahme, denn ein optimistischer Blick in die Zukunft. Kurz nach sieben am Abend sitzt die Abgeordnete wieder an ihrem Schreibtisch. Sie ist ein wenig müde und hat vielleicht zu viel Kaffee getrunken und zu viel geraucht. "Geschenkt", sagte sie möglicherweise, spräche man sie darauf an. Um 22.27 Uhr geht sie. Sie steigt in den gläsernen
Fahrstuhl und kann zusehen, wie sie auf dem Boden ankommt. In ein
paar Stunden geht's wieder aufwärts. Zumindest ist das der
Plan.
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