ERSTE LESUNG DES JAHRESWIRTSCHAFTSBERICHTS
Kontroverse um richtige Einschätzung der Konjunktur
(fi) In den vergangenen beiden Jahren sind in Deutschland nach den Worten von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) 900.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Dies seien so viele, wie von 1991 bis 1998 verloren gegangen sind, sagte Eichel am 8. März in der Plenardebatte zur ersten Lesung des Jahreswirtschaftsberichts 2001 der Bundesregierung ( 14/5201) und des Jahresgutachtens 2000/01 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ( 14/4792). Der Bundestag überwies beide zur federführenden Beratung an den Finanzausschuss.
Als Wachstumsprognose für ganz Deutschland nannte Eichel 2,75 Prozent, was eine Bandbreite zwischen 2,625 und 2,875 Prozent bedeute. Deutschland werde 2001 eher am unteren Rand dieser Spanne bleiben, die Aussichten seien aber weiterhin günstig. Die Wachstumserwartung stütze sich vor allem auf eine stärkere Binnennachfrage. Für den Minister lautet die Erfolgsformel: "Höheres Netto-Einkommen dank Steuersenkung multipliziert mit höherer Beschäftigung gleich mehr Kaufkraft." Durch die Steuerreform sinke die Belastung der Bürger und Unternehmen 2001 um rund 45 Milliarden DM.
"Arbeitsmarkt reformieren"
Friedrich Merz (CDU/CSU) räumte ein, es habe im Jahr 2000 in Deutschland ein höheres Wachstum als im Vorjahr gegeben. Das Wachstum habe sich aber am unteren Rand des Mittelfeldes der Europäischen Union befunden. Die meisten stark wachsenden Länder in der Euro-Zone hätten ein höheres Wachstum als Deutschland gehabt. Die Arbeitslosigkeit sei in den neuen Ländern fast drei Mal so hoch wie im Westen. Die Entwicklung gehe wieder auseinander. Der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen an den Arbeitslosen sei seit der Regierungsübernahme von 10,9 auf 11,4 Prozent angestiegen, betonte Merz. Die Überwindung der Beschäftigungskrise werde nicht gelingen, wenn es nicht tief greifende Reformen des Arbeitsmarktes gebe.
Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) zeigte sich verblüfft über die Wachstumsstabilität in Europa angesichts des Einbruchs der US-Konjunktur, der anhaltenden Rezession in Japan, der schwankenden Ölpreise und des gestiegenen Außenwerts des Euro. Bei Betriebsgründungen liege Deutschland nach den USA und Kanada an dritter Stelle. Viele junge Leute seien bereit, mit einer Idee in den Markt einzutreten. Ostdeutschland stehe nicht "auf der Kippe", so Schulz. Der Deindustrialisierung im Osten sei eine "Reindustrialisierung" gefolgt.
"Dunkle Wolken am deutschen Konjunkturhimmel" sah Rainer Brüderle (F.D.P.) aufziehen. Die Prognosen für dieses Jahr würden nach unten korrigiert, so der F.D.P.-Politiker. Die Arbeitslosigkeit stagniere auf "ernüchternd hohem Niveau". Wenn Deutschland "Chancen auf einen höheren Wachstumspfad" haben solle, dann brauche man eine entschlossene Reformpolitik. Erforderlich sei eine "Renaissance der Marktwirtschaft", mehr Wettbewerb und flexiblere Güter- und Arbeitsmärkte. Nur so könne es mehr Jobs geben.
Über "täglich neue Hiobsbotschaften" berichtete Christa Luft (PDS) dem Plenum. Die Arbeitslosigkeit überschreite die Vier-Millionen-Grenze, die Steuereinnahmen fielen geringer aus als erwartet und die Kluft zwischen Arm und Reich wachse ununterbrochen. Damit Armut tatsächlich bekämpft werden könne, müssten die Weichen so gestellt werden, dass erwerbstätige Menschen ohne zusätzliche Hilfe zum Leben auskommen können. Dazu gehöre der Abbau von Überstunden, so Luft.
"Trendwende erreicht"
Joachim Poß (SPD) sah die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt erreicht. Die SPD erkenne unstreitig an, dass es in den neuen Ländern noch erhebliche Infrastrukturdefizite und gravierende teilungsbedingte Sonderlasten gebe. Deswegen würden der Solidarpakt, die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen und das Investitionsförderungsgesetz, ergänzt durch die Gemeinschaftsaufgaben, durch EU-Mittel sowie durch den gezielten Einsatz von Bundesinvestitionen, fortgesetzt.