titelthema
Wahlkreise wurden neu
zugeschnitten:
Schlankheitskur fürs Hohe Haus
Der Bundestag hat viele Namen. Parlament, Volksvertretung, Verfassungsorgan. Aus Respekt vor seiner Stellung nennt man ihn auch Hohes Haus. Mit der Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres wird das Hohe Haus zum "schlanken Haus". Am Ende der Schlankheitskur werden nicht mehr 656, sondern nur noch 598 Abgeordnete einziehen. Noch größere Konzentration und Effizienz soll dadurch ausgelöst werden. Vor allem aber will das Parlament in Sachen Wirtschaftlichkeit und "schlanker Staat" mit bestem Beispiel vorangehen. Das "Abspecken" geschieht freilich nicht bequem unter Vollnarkose per Skalpell, sondern ist wie im richtigen Leben eine mühsame Anstrengung mit spannenden Auswirkungen auf Hunderte von Wahlkreisen. Auch wenn derzeit noch kaum jemand darüber spricht: Millionen Wähler werden die Auswirkungen spüren. Grund genug, einen Blick in die Wahlkreis-Werkstatt zu werfen.
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Der Deutsche Bundestag. |
Mathematisch ist die Sache einfach: Wenn die Abgeordneten zur Hälfte direkt gewählt sind und zur anderen Hälfte aus Landeslisten hervorgehen, bedeutet eine Reduzierung um 58 Parlamentssitze logischerweise, dass 29 Wahlkreise wegfallen.
Aber praktisch ist das ein hübsches Problem. Denn die Angelegenheit lässt sich schließlich nicht damit regeln, dass von den 328 Wahlkreisen 29 einfach gestrichen werden. Die darin wohnenden Wahlberechtigten würden sich sicher sehr bedanken, wenn sie plötzlich nicht mehr wählen dürften. Sie könnten die Wahl anfechten und bekämen Recht. Alles wäre ungültig. Denn die Abgeordneten müssen, so verlangt es Artikel 38 des Grundgesetzes, in "allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt" werden. Natürlich müssen alle volljährigen Deutschen wählen können. Fast alle Vorgaben, ob unmittelbar, ob frei, ob allgemein oder geheim, lassen sich durch Vorkehrungen vor Ort oder Festlegung der Grundzüge peinlich genau erfüllen. Die Schwierigkeit liegt in dem Wörtchen "gleich".
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Wahlkreis Freising: schnelles Wachstum der Bevölkerung. |
Denn das bedeutet, wie das Bundesverfassungsgericht definiert hat, dass jede abgegebene Stimme gleichen "Erfolgswert" haben muss. Also müssen alle Stimmen gleiches Gewicht haben. Und das hätten sie nicht, wenn mal 100.000 Wähler einen Abgeordneten entsenden würden und mal zwei Millionen. Folglich ist es eine hohe Kunst, die Wahlkreise so festzulegen, dass sie annähernd gleich groß sind. Der Bundestag hat das gerade wieder gemacht – ein ziemlicher Kraftakt.
Unter Federführung des SPD-Abgeordneten Harald Friese ging es nicht nur darum, den bereits 1998 im Vorgriff geregelten Verschlankungsprozess des Parlamentes fortzusetzen, es mussten auch die erheblichen Veränderungen aufgefangen werden, die sich seit der letzten Wahlkreiseinteilung vor drei Jahren ergeben hatten. Denn die Bevölkerung ist in Bewegung. Immer noch ziehen wesentlich mehr Bewohner der neuen Bundesländer in den Westen, und immer noch zieht es viele Städter aufs Land. Vor allem die "Speckgürtel" im Umfeld der Großstädte nehmen zum Teil dynamisch zu. Beispielsweise wächst die Bevölkerung im Wahlkreis Freising jedes Jahr um 1,9 Prozent. Das läppert sich. Inzwischen ist er schon 24 Prozent größer als der Durchschnitt der übrigen Wahlkreise. Friese: "Da mussten wir handeln, sonst wäre er zum Zeitpunkt der Bundestagswahl über die Grenze der zulässigen Abweichungen gekommen."
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Statt 667 (einschließlich Überhangmandaten) künftig 598 Abgeordnete. |
Auch bei diesen Grenzen hat sich der Bundestag selbst unter größeren Erfolgsdruck gesetzt. Früher durfte die Bevölkerungszahl um 33,3 Prozent über oder unter dem Durchschnitt der anderen Wahlkreise liegen. Nun soll ein Neuzuschnitt erfolgen, wenn die Abweichung 15 Prozent erreicht, und es muss etwas geschehen, wenn es schon 25 Prozent sind.
Im Hintergrund steht neben anderen Austarierungsgründen auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Das höchste Gericht riet nämlich dringend dazu, den Anlass für so genannte Überhangmandate so weit wie möglich zu verringern, also möglichst gleich große Wahlkreise zu bilden. Denn Überhangmandate können umso leichter entstehen, je verschieden groß die Wahlkreise sind.
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Go West. |
Das Wahlsystem klingt kompliziert, ist im Prinzip aber ganz einfach. Es verbindet nämlich den Vorzug der regionalen Anbindung und lokalen Identität in einem reinen Mehrheitswahlsystem mit den gerechteren und neue Innovationen schneller aufnehmenden Vorteilen des Verhältniswahlrechts. Würde das Parlament nur aus den Politikern bestehen, die in ihrer jeweiligen Heimat die Mehrheit der Stimmen erringen, hätten es kleinere Parteien sehr schwer, in der Politik überhaupt eine vernehmliche Rolle zu spielen. Gäbe es andererseits aber nur die Verhältniswahl, bestünde sehr schnell die Gefahr, dass die Gewählten nur von den Landesverbänden der Parteien abhingen und den Kontakt zur Basis verlören.
Die Kombination aus beiden hat sich deshalb bestens bewährt. Und sie besagt schlicht: Mit der Erststimme bestimmt der Wähler, welcher Kandidat aus seinem Wahlkreis in den Bundestag entsandt wird, und mit der Zweitstimme, wie stark die Parteien aus dem jeweiligen Bundesland im Bundestag vertreten sind, in der Summe also, wie groß die einzelnen Fraktionen im Parlament werden.
Dieses deutsche Prinzip der "personalisierten Verhältniswahl" ist nicht von ungefähr ein Vorbild für viele andere Wahlsysteme geworden. Nur: Es kann passieren, dass eine Partei "direkt" mehr Sitze gewinnt als ihr nach ihrem prozentualen Abschneiden "eigentlich" zustehen. Dann bekommt sie, weil man gewählten Abgeordneten ihre Sitze selbstverständlich nicht wegnehmen kann, entsprechend viele Überhangmandate.
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Wohnungsbau in Schleswig-Holstein. |
Damit das prozentuale Verhältnis sich trotzdem ganz exakt im Parlament widerspiegelt, könnten die anderen Parteien entsprechend viele Ausgleichsmandate bekommen. Das will der Bundestag jedoch lieber nicht tun. Denn dann wäre jede Verschlankung für die Katz. Mehr noch: Je nach Wahlausgang könnten Dutzende zusätzliche Mandate fällig werden, der Bundestag von unter 600 nach einzelnen Berechnungen auf über 800 Abgeordnete anwachsen.
Das Parlament zieht es deshalb vor, die Wahlkreise möglichst gleich groß zu halten, damit so wenig Überhangmandate wie eben möglich entstehen. Denn wenn in einem kleinen Wahlkreis der Kandidat der einen Partei mit beispielsweise 50.000 Erststimmen gewinnt, der Kandidat der anderen Partei in einem großen Wahlkreis aber mit 100.000 Erststimmen immer noch unterliegt, dann spricht vieles dafür, dass bei ähnlichem Wählervotum in den Zweitstimmen etwas aus dem Lot gerät.
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Leer stehender Plattenbau in Mecklenburg-Vorpommern. |
Die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten lässt sich mit der jetzt verabschiedeten Wahlkreisreform zwar verringern, verhindern aber nicht. Wenn viele Wähler ihre Stimmen "splitten", also mit der Erststimme den Kandidaten der einen Partei direkt wählen, mit der Zweitstimme aber eine andere Partei stark machen, hat das natürlich Auswirkungen. Und auch wenn die Wähler die Hauptgunst nicht auf zwei, sondern auf drei Parteien verteilen, die Abgeordneten also nicht mit der Hälfte, sondern schon mit etwas mehr als einem Drittel der Stimmen den Wahlkreis gewinnen, kann es bei der Auszählung der Zweitstimmen zu Überraschungen kommen (siehe Grafik).
Die möglichst große Annäherung an den durchschnittlichen "Muster"-Wahlkreis mit 250.242 Bewohnern ist aber nur ein Orientierungspunkt von mehreren. Gleichzeitig sollen die gewachsenen örtlichen Gliederungen und die Auswirkungen von kommunalen Neugliederungen so gut es eben geht berücksichtigt werden. Zudem sind die Grenzen zwischen den Bundesländern streng zu beachten.
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Harald Friese. | ||||||||||
Das klingt einfacher als es ist. Denn es geht nicht nur um die Größe der einzelnen Wahlkreise. Es geht auch darum, dass ihre Anzahl im jeweiligen Bundesland im selben Verhältnis zur Gesamtsumme aller Wahlkreise in Deutschland steht wie die Bevölkerungszahl des jeweiligen Bundeslandes zur Gesamtbevölkerung der Republik. Binnen eines Jahrzehntes sind aber gut 450.000 Menschen mehr von Ost nach West umgezogen als von West nach Ost. Die Folge: Die Wahlkreise mussten sozusagen hinterherziehen. War schon beim Wahlkreisneuzuschnitt 1998 gravierend verändert worden, und zwar im Vorgriff auf das Jahr 2002, so musste nun erneut umgebaut werden: Sachsen und Sachsen-Anhalt verloren einen weiteren Sitz, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg bekamen einen hinzu.
Dabei hatte schon die Verkleinerung des Bundestages den Osten mehr getroffen als den Westen. Obwohl die neuen Bundesländer nur ein Drittel des Bundesgebietes ausmachen, tragen sie die Verschlankung des Bundestages um 56 Mandate fast zur Hälfte: 26 steuern allein sie bei. Harald Friese, der die Entscheidung so intensiv mit vorbereitete, dass die Kollegen die neuerliche Wahlgesetzänderung als "Lex Friese" bezeichnen, hat deshalb nicht nur ein lachendes Auge, weil die immer wieder beschworene Verkleinerung des Bundestages nächstes Jahr endlich Wirklichkeit wird. Er wirft ein mitfühlend weinendes Auge auch auf bevölkerungsarme Regionen wie Bad Doberan, Güstrow und Müritz. Ruhig, idyllisch und ideal zur Erholung, aber nun zusammengelegt in einen einzigen Wahlkreis. Der Abgeordnete dieses Wahlkreises betreut somit Einwohner, die bis zu 130 Kilometer voneinander entfernt wohnen, und wird auf den 5.155 Quadratkilometern seines Wahlkreises wohl mehrere Büros einrichten müssen, um einigermaßen Kontakt halten zu können.
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So entstehen Überhangmandate. |
Weder beim ersten Durchgang 1998 noch bei der jetzigen neuerlichen Verabschiedung fand der Neuzuschnitt der bislang 328 und künftig 299 Wahlkreise die ungeteilte Zustimmung des Hauses. "Natürlich sind Wahlfragen Machtfragen", meint der F.D.P.-Abgeordnete Max Stadler. Die Einteilung sei sicherlich immer auch von "Wahlarithmetik" geprägt.
Dahinter steckt der Blick durch die Lupe auf das Abstimmungsverhalten der Bürger in einzelnen Gemeinden und Stadtbezirken – und die Erwartung, einen Wahlkreis eher gewinnen zu können, wenn traditionell anders wählende Gemeinden einem anderen Wahlkreis zugeschlagen werden. Doch dieser Versuchung sind Grenzen gesetzt, die zudem immer enger werden. Denn zum einen sorgt das Verhältniswahlrecht dafür, dass letztlich keine Stimme verloren geht, sondern das Kräfteverhältnis der Parteien am Ende doch mit bestimmt. Und zum anderen wird der Anteil der Stammwähler, die sich immer für dieselbe Partei entscheiden, immer kleiner – das wahrscheinliche Wählerverhalten also immer schwerer vorauszusagen.
Traditionell "schwarze" Gebiete haben schon urplötzlich "rot" gewählt, sicher als "rot" eingeschätzte Bezirke waren am Ende mehrheitlich "schwarz" geworden. Und wo durch "Wahlarithmetik" der Einfluss einer bestimmten Partei zurückgehalten werden sollte, stellte diese hinterher den Bürgermeister. Souverän ist und bleibt nun einmal das Volk.
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Großwahlkreis in Mecklenburg: weite Wege, wenig Menschen. |
Und das soll nicht nur einen schlankeren Bundestag erleben, sondern auch einen interessanteren. Die Verkleinerung ist nämlich nur ein Teil aus einem größeren Paket mit der Aufschrift "Parlamentsreform". 1995 wurde es beim Ältestenrat abgeliefert, und der hat daraus schon eine ganze Reihe von Vorschlägen aufgegriffen. Beispielsweise die Einführung der "Kernzeit" für die Plenarsitzungen des Bundestages. Immer donnerstags und immer den interessantesten Themen vorbehalten. Damit die Abgeordneten Zeit für die Debatte im Plenum haben, werden parallele Ausschusssitzungen tunlichst vermieden. Der Bundestag soll auf diese Weise auch durch die optische Präsenz als das empfunden werden, was er neben anderen Aufgaben auch ist: Forum der Nation. Oder die Ausweitung der so genannten "Kurzinterventionen", die die Debatten genauso lebendiger machen wie engere Redezeitbegrenzungen oder die Möglichkeit, bei interessantem Verlauf spontan die Aussprache verlängern zu können. Da ist der Bundestag flexibler als das Fernsehen, das Studiogespräche pünktlich zum vorgeplanten Ende der Sendung abbrechen muss. Weitere Verbesserungen werden vom Sommer an mit dem Umzug in die Neubauten an der Spree sichtbar. Viel mehr Zuschauer werden dann feststellen können, dass das Reden über die Grundlinien der Politik die eine Seite des Parlamentes ist, das Arbeiten an den Details der Gesetze die andere. Und das kann in den Aussprachen im Ausschuss zumindest für das jeweils an der Fachfrage interessierte Publikum noch spannender sein als manche der "großen" Debatten. Wenn die neuen Säle mit ihren Zuschauer- und Pressetribünen bezogen sind, werden viel mehr Ausschusssitzungen als bisher von der Öffentlichkeit verfolgt werden können. Die beliebte Frage: Was machen eigentlich all die Abgeordneten, die nicht im Plenum sitzen, wird eine sichtbare und einfache Antwort finden: Sie arbeiten. Gregor Mayntz