Titelthema
Die stille Außenpolitik des Bundestages
Regierungskonferenzen, Außenministertreffen, Kanzlerreisen. Gerade in Krisenzeiten scheint die internationale Politik vor allem Sache der Regierung zu sein. In den Medien kommt das Parlament nur am Rande vor. Aufsehen erregte zwar die Zustimmung des Bundestages zum Bundeswehreinsatz im Kampf gegen den Terrorismus. Aber auch hier erschien die Regierung als die eigentlich Handelnde. Das stimmt aber nur im Prinzip. Denn tatsächlich sind die Parlamentarier in vielfältiger Weise in die internationalen Geschäfte eingebunden, geben selbst wichtige Impulse und bringen die Verständigung voran. Zum Beispiel im Bereich der Menschenrechte und der humanitären Hilfe.
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Christa Nickels und Christian Schwarz – Schilling arbeiten seit vielen Jahren auf dem Gebiet der Menschenrechte. Die Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen ist Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Unionspolitiker ihr Stellvertreter. Beide betonen im Gespräch mit BLICKPUNKT BUNDESTAG, dass die Aufwertung des einstigen Unterausschusses zum selbstständigen Gremium in seinen Auswirkungen kaum zu überschätzen ist. "Wir haben nun die Möglichkeit, im globalen Rahmen die gleichen Maßstäbe zu setzen", erläutert Schwarz-Schilling. Es gelange besser in die Köpfe, dass die Menschenrechte eine Frage der Innen- wie der Außenpolitik gleichermaßen seien.
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Humanitäre Hilfe in Afghanistan
Nicht von ungefähr spricht Schwarz – Schilling deshalb zunächst davon, dass der Menschenrechtsausschuss auch ein "Korrektiv zum Innenausschuss" darstelle. Während dieser vor allem daran denke, den Missbrauch von Aufenthaltsmöglichkeiten für Asylbewerber und Flüchtlinge einzudämmen, hätten die Menschenrechtspolitiker sowohl die Einzelschicksale als auch die Rückwirkungen der deutschen Innenpolitik auf andere Länder im Blick. Als Beispiel nennt Schwarz – Schilling die Initiative seines Ausschusses, die in einen gemeinsamen Antrag von über 150 Abgeordneten mündete und schließlich in einen Appell des gesamten Bundestages, bei der Rückführung von Flüchtlingen menschenrechtliche und humanitäre Maßstäbe stärker in den Vordergrund zu rücken und darauf zu achten, dass sich in Bürgerkriegszeiten erlittene Tragödien nun nicht wiederholen. Als Ergebnis beobachtete Schwarz – Schilling eine "entscheidende Wende" in der Einstellung der Innenministerkonferenz gegenüber der Flüchtlingsrückführung unter anderem nach Bosnien, wo nun dem Schicksal traumatisierter Flüchtlinge vermehrt Rechnung getragen werde.
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"Das macht uns das Geschäft leichter", weiß Christa Nickels. Der konsequente Einsatz im Inneren werde im Ausland aufmerksam registriert und nehme Ländern mit einer angespannten menschenrechtlichen Situation das Argument, die deutschen Abgesandten sollten doch besser erst einmal vor der eigenen Haustüre kehren, bevor sie sich in fremde Belange einmischten.
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Ausschussarbeit für die Menschenrechte Chista Nickels
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und Schwarz-Schilling.
Zu Beginn der Wahlperiode hat sich der Menschenrechtsausschuss einen Arbeitsplan gegeben. "Wir wollten uns klar werden, was uns besonders wichtig ist, um nicht allein Getriebener der Arbeit Anderer zu werden", erklärt Nickels. Beim Thema nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung ahnten die Politiker nicht, wie aktuell dieses Thema im Zusammenhang mit Afghanistan werden würde. Ursprünglich sei es ihnen um das Schließen von Schutzlücken gegangen, um eine breite Aufklärung darüber, dass Frauen in Lebensgefahr schwebten, nur weil sie Frauen seien, verfolgt von einem Regime, das international nicht anerkannt war, bedroht also durch "nicht staatliche Gewalt". Vor dem 11. September beschäftigten sich nur wenige Politiker mit der Situation afghanischer Frauen – nun blickt die ganze Welt auf das Anliegen der Menschenrechtler.
Gerade am Beispiel Afghanistan lässt sich die Rolle der Parlamentarier in der internationalen Politik verdeutlichen. Ohne die zentrale Beteiligung des Bundestages hätte die Bundesregierung den Einsatz der Bundeswehr nicht beschließen können, betont Hans – Ulrich Klose (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Das Parlament akzeptiere zwar das Vorrecht der Regierung auf außenpolitischem Feld, "aber wenn es schwierig wird, hat der Bundestag immer die Möglichkeit, seinen Willen durchzusetzen". Und das nicht nur bei Bundeswehreinsätzen. Schließlich bestimme allein das Parlament, wofür wie viel Geld ausgegeben werde – auch in der Außenpolitik. Und nicht zuletzt sei die Regierung von der Unterstützung der Parlamentsmehrheit abhängig.
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Blutiger Religionskonflikt in Nigeria.
Und deshalb halten sich die Abgeordneten ständig auf dem Laufenden, etwa durch intensive Berichte von Regierungsvertretern in den Fachausschüssen, aber auch durch eigene Kontakte. "Wir müssen ein Gespür von dem Land bekommen, wir müssen sehen, riechen und hören, was dort vorgeht." Das Ergebnis ist nicht nur ein klareres Bild – sondern oft genug auch ein schnelleres Vorankommen. Wenn ein Minister auf Staatsbesuch eine Initiative ergreift, hängt er damit dieses Thema automatisch an die große Glocke. Wenn Parlamentarier aber im Gespräch mit Parlamentariern des anderen Landes sachte vorfühlen, kommt man operativ mitunter leichter voran. Klose unterstreicht dies, will aber lieber keine Beispiele nennen. Vertraulichkeit ist Garant für weitere Fortschritte. Versteht sich, dass Parlamentarier und Diplomaten hier Hand in Hand arbeiten.
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Weltweite Allianzen im Kampf gegen den Terror bilden – an diesem Netz knüpfen nicht nur die Regierungen. Als die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon verübt wurden, saßen deutsche und britische Abgeordnete gerade beim Mittagessen zusammen. Nicht in Berlin, nicht in London. Sondern in Ouagadougou. In der Hauptstadt des afrikanischen Staates Burkina Faso, dem früheren Obervolta, tagte die Interparlamentarische Union, waren Parlamentarier aus 139 Ländern versammelt. Einer von ihnen: Dieter Schloten aus Mülheim. Der SPD – Bundestagsabgeordnete koordiniert die in der so genannten Gruppe der 12+ zusammengeschlossenen 43 westlichen Parlamente und verständigte sich mit ihnen darauf, die Konferenz nicht abzubrechen, wie es in ersten Reaktionen von einigen Delegationen gefordert worden war.
"Ein Gespräch jagte das andere, alle standen im ständigen Kontakt mit ihren Botschaften und Regierungen", berichtet Schloten. Parlamentarier aus der ganzen Welt – das heißt auch, dass die Einstellungen zu Vorgängen und Ereignissen alle Meinungen dieser Welt abdeckten. Europäische wie amerikanische, asiatische wie afrikanische, westliche wie islamische. Deshalb ist nicht zu unterschätzen, dass am Ende des zähen Ringens, das schon Minuten nach den Anschlägen begann, nicht nur eine gemeinsame Resolution stand, woran zunächst kaum einer hatte glauben wollen, sondern dass diese auch noch einstimmig verabschiedet wurde. So war bereits am 12. September weltweite Beschlusslage aller in der Interparlamentarischen Union vertretenen Staaten, "mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten, um die Urheber dieser Terroranschläge und ihre Komplizen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen im Einklang mit dem Völkerrecht". Zudem wurden "alle Staaten" aufgefordert, "ihre Zusammenarbeit weiter auszubauen oder zu verstärken im Hinblick auf die Verhütung und Ausrottung von terroristischen Aktivitäten in der ganzen Welt". Auch auf diesen Vorarbeiten der Parlamentarier konnten die USA und ihre Verbündeten aufbauen, als sie daran gingen, das Bündnis gegen den Terror zu bilden.
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Flüchtlinge aus dem Kosovo.
Ein Bestandteil in diesem diplomatischen Prozess war die Reise des Bundeskanzlers nach Indien, Pakistan, China und Russland. Aber auch sie war nicht nur die Reise des Regierungschefs. Mit an Bord waren auch Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen. Einer von ihnen: Helmut Haussmann (FDP). Nach seinen Worten wird bei jeder dieser Reisen klar: "Zum Kanzler gehört das Parlament, und deshalb sind wir mit dabei." Das wissen die Gastgeber, die die Abgeordneten protokollarisch nicht unter ferner liefen behandeln, sondern neben wichtigen und einflussreichen Persönlichkeiten platzieren und Wünschen nach besonderen Gesprächspartnern nachkommen. Am Rande der Empfänge, Firmeneröffnungen und Konferenzen traf Haussmann unter anderem auch Landsleute aus seiner baden – württembergischen Heimat, die eine ganz besondere Binnensicht Chinas beisteuern konnten.
Wichtiges Instrument der parlamentarischen Außenpolitik sind die Parlamentariergruppen. Abgeordnete haben sich in 50 solcher Gremien zusammengefunden und kümmern sich um Kontakte zu einzelnen Ländern oder Regionen. Auf diese Weise und mit einigen "Länderbeauftragten" pflegt der Bundestag regelmäßig interparlamentarische Beziehungen zu 160 Staaten, finden Delegationen aus dem Ausland "ihre" Ansprechpartner, entwickelt sich ein Reservoir an Spezialwissen und direkten Drähten, das gerade in Krisenzeiten unverzichtbar ist.
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Wenn Flüchtlinge an einer bestimmten Brücke gestoppt werden, kann es hilfreich sein, einen federführenden Politiker aus der Region von früheren Gesprächen zu kennen: Den kann man anrufen, vertraulich nach den wahren Hintergründen befragen und mit ihm mögliche Lösungen ausloten.
Eine wertvolle Investition zur besseren weltweiten Verständigung stellen daneben auch die internationalen Praktikantenprogramme des Bundestages dar. Junge Hochschulabsolventen aus 18 Ländern packen in einem fünfeinhalbmonatigen Praktikum in der alltäglichen deutschen Parlamentsarbeit im Büro eines Abgeordneten mit an. Während ihres Aufenthaltes in Berlin sind sie als Studenten in der Humboldt – Universität immatrikuliert. Sie lernen das Innenleben und die Funktionen des Bundestages kennen und gewinnen dabei wichtige Erkenntnisse für ihre berufliche Zukunft, die nicht selten in Schlüsselstellungen des politischen Systems anderer Länder mündet. Dort ist dann nicht nur mehr praktisches Wissen über den Aufbau einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie vorhanden, sondern auch mehr Verständnis für deutsche Anliegen und Zusammenhänge. Diese "Botschafter für Deutschland in ihren Ländern" wissen sehr bald, wo wichtige "Türen" sind und wie diese aufgehen. So entstehen gründliche, verlässliche Kontakte, auf denen sich langfristig in beide Richtungen aufbauen lässt.
Neben den Parlamentariergruppen, den Kontakten der einzelnen Fachausschüsse, neben den Gesprächen in internationalen parlamentarischen Gremien, die unter anderem bei der NATO, beim Europarat, bei der WEU und bei der OSZE angesiedelt sind, halten auch die Parlamentspräsidenten untereinander Kontakt. In enger Abstimmung mit dem Bundespräsidenten, dem Bundeskanzler und dem Außenminister können Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und seine Stellvertreter auch heikle Missionen übernehmen und sozusagen "Speerspitze" diplomatischer Bemühungen werden. So entwickelten sich aus Thierses Reise nach Teheran interessante Aspekte für die deutsch – iranischen Beziehungen.
Die Schlüsselrolle auf dem Gebiet der Menschenrechte und der humanitären Hilfe hat jedoch der Menschenrechtsausschuss. "Wo andere die Menschenrechte etwa während einer Reise nach China nur in einem Nebensatz ansprechen, können wir sie in den Mittelpunkt des ganzen Besuches stellen," betont die Ausschussvorsitzende Nickels. Sie verspricht sich viel von dem Rechtsstaatsdialog, der in der Folge zwischen .Peking und Berlin eingeleitet worden ist.
Stets geht es aber auch darum, das Bewusstsein zu schärfen, an globalen Standards für Menschenrechte zu arbeiten und zur Einhaltung zu sensibilisieren – wie zum Beispiel internationale Konzerne in Nigeria anzuhalten, auch einmal rechts und links ihrer Produktionsstätten in diesem Land zu schauen, wo es immer wieder zu blutigen Konflikten kommt wie vor wenigen Monaten zwischen Christen und Moslems. Carsten Hübner, für die PDS im Menschenrechtsausschuss, wünscht sich eine noch größere politische Funktion des Gremiums. Es müsse deutlich mehr sein als "eine Art schlechtes Gewissen" des Parlamentes. Nach drei Jahren "Selbstständigkeit" liege jedoch auf der Hand, dass der Ausschuss ernst genommen werden müsse und die Menschenrechte über ihre parlamentarische Etablierung zur Querschnittsaufgabe aller Politikfelder werden könnten.
Das Erfolgsprinzip von amnesty international funktioniert auch bei den Bundestagsabgeordneten – immer wieder erinnern sie am Rande von Delegationsreisen an das Schicksal einzelner politischer Gefangener, damit die Machthaber zu der Überzeugung kommen, dass eine Freilassung mehr Vorteile schafft als die weitere Inhaftierung. Besonders bei verfolgten Parlamentariern. Christa Nickels' Erfahrung: "Bei jedem Kontakt sprechen wir einzelne Fälle an, fragen zum Beispiel, wie es diesem oder jenem Kollegen geht, und loben seine frühere Arbeit. Auf die Dauer wirkt das." Deshalb wünscht sich Nickels, dass möglichst jeder Bundestagsabgeordnete eine Patenschaft für einen verfolgten Kollegen übernimmt. Parlamentarische Menschenrechtspolitik ganz praktisch.
Gregor Mayntz