Schreibtisch
Kuh, Schwein und Schaf neben der Unterschriftenmappe
Der Schreibtisch ist immer ein Original. Kaum ein
Möbelstück erzählt so viel über einen Menschen
wie dieses. Das trifft natürlich auch auf den Schreibtisch der
FDP-Bundestagsabgeordneten Marita Sehn zu.
Der Schreibtisch von Marita Sehn lässt auf den ersten und
zweiten Blick drei mögliche Rückschlüsse zu: Erstens
scheint die 46-Jährige Sinn für Humor zu haben, zweitens
ist ihr wohl Liebe zum Detail eigen, drittens meint man, ihren
Spaß an der Arbeit zu spüren. Das sind erst einmal
gewagte Vermutungen, aber die Zeichen sind doch deutlich.
Was den Sinn für Humor anbelangt – an diesem Eindruck
sind vor allem drei fröhliche Kreaturen auf stelzendünnen
Beinen Schuld. Eine Kuh, Größe L, ein Schwein,
Größe M, und ein Schaf, Größe S. Die drei
stehen einträchtig beieinander, zwischen Unterschriftenmappe
und Schreibunterlage. Sie sind das Geschenk eines Landwirtes, der
sich bei Marita Sehn auf diese Art und Weise immer mal wieder in
Erinnerung bringt. Das hat auch viel mit ihrer Arbeit als
Abgeordnete zu tun, denn sie ist Obfrau ihrer Fraktion im Ausschuss
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und
Mitglied im Umweltausschuss.
Die Situation, in der sich viele Landwirte befinden, ist ihr
nicht fremd, sie kennt die Schwierigkeiten, mit denen die Besitzer
kleiner und mittlerer Höfe zu kämpfen haben, und
versucht, in ihrer politischen Arbeit Grundlagen zu schaffen, die
zur Existenzsicherung der Landwirtschaft in Deutschland beitragen.
"Wenn die Landwirtschaft verschwindet", sagt sie, "verschwindet
auch viel Landschaft." Das klingt nicht wie ein Wahlspruch, sondern
wie eine Mahnung.
Vervollständigt wird der kleine Reigen einheimischer Tiere
noch durch einen Hahn aus Keramik, dem man mit ausreichend Luft
einen Pfeifton entlocken kann. Marita Sehn hat ihn in einer
Töpferei bekommen, die sie im Rahmen einer "Frauenpower-Tour"
gemeinsam mit Fraktionskolleginnen besuchte.
Stelzendünne Beine wie Kuh, Schwein und Schaf hat der
kleine blaue Holzmann am Barren nicht, der rechts auf ihrem
Schreibtisch, gleich unter der Ablage mit vier Fächern aus
braunem Acryl steht. Trotzdem scheint ihm der Sprung in die
Stütze nur mit Hilfe der Abgeordneten zu gelingen, die sie ihm
auch häufig gewährt. Vor allem dann, wenn schwierige
Telefonate zu führen sind, beruhigt es Marita Sehn, dem
Holzmännchen auf die Sprünge zu helfen. Andere malen
vielleicht Kringel auf weißes Papier. Der tapfere Sportsmann
stammt von einem Bundesparteitag der FDP, zu dem sie delegiert
war.
Es gibt noch ein paar Details auf dem Schreibtisch der
Parlamentarierin, die ihn über jeden Zweifel erhaben zu ihrem
ganz persönlichen Arbeitsplatz machen. Der Strauß bunter
Gerbera wird denen, die sie gut kennen, keine Überraschung
sein. Es sind ihre Lieblingsblumen. Der kleine Karneol auf dem
Lampenfuß lag in einem Brief, den sie bekommen hat, und
schimmert in sattem Rotbraun, wenn das Licht auf ihn
fällt.
Im obersten Fach der Ablage liegt eine Bibel. Sie soll nicht
dokumentieren, was sowieso jeder in der Fraktion weiß: Marita
Sehn ist kirchenpolitische Sprecherin der FDP im Bundestag. "Wenn
man für andere politische Entscheidungen treffen muss", sagt
sie, "wird man immer sein Gewissen befragen. Man kennt die
Sachargumente, die Inhalte, aber man entscheidet ja nicht nur mit
dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Ich bin Katholikin und
blättere manchmal, wenn ich nachdenken, abwägen und
entscheiden muss, in der Bibel."
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Nachdenken und dabei am Schreibtisch sitzen gehören
für die Abgeordnete aus Rheinland-Pfalz zusammen. Zu Hause,
erzählt sie, sitze sie auch oft stundenlang an ihrem
Schreibtisch, den sie sich mit ihrem Mann teilt, um die Dinge im
Geiste zu ordnen, Überlegungen zu Papier zu bringen und
Konzepte zu erarbeiten. Es ist ein sehr alter Schreibtisch, der zu
Hause steht. Ihr Mann brachte ihn mit, als sie heirateten, und
seitdem gehört das Möbelstück beiden. Sich einen
Arbeitsplatz zu teilen, ist für Marita Sehn nichts
Ungewohntes. Als Kind teilte sie sich ein Zimmer mit ihren drei
Brüdern. Da stand ein großer Tisch in der Mitte, den alle
nutzten. Erst als sie in einer Apotheke lernte, bekam sie ihren
ersten eigenen Schreibtisch. Spätestens da offenbarte sich
auch, dass Marita Sehn eine Schwäche hat, der nur mit
Selbstdisziplin beizukommen ist: Sie kann nichts wegwerfen, oder
besser gesagt, es fällt ihr unglaublich schwer, sich von
Dingen zu trennen. Das betrifft auch Papiere –
Zeitungsausschnitte, Dokumente, Protokolle, Artikel, Texte,
Beschlüsse, Briefe, was auch immer. "Und wirklich",
begründet sie ihre Leidenschaft fürs Aufheben, "passiert
es mir oft, dass ich nach langer Zeit auf die Dinge
zurückgreifen kann, die ich aufbewahrt habe, noch einmal
nachlese, was damals darüber geschrieben wurde oder was ich
damals darüber zu Papier gebracht habe."
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Ihrem Schreibtisch, der im Abgeordnetenbüro in der Berliner
Dorotheenstraße steht, sieht man nicht an, dass Marita Sehn im
Grunde ihres Herzens eine Sammlerin ist. Sie gibt gern zu, dass
dies auch ein Verdienst ihres Mitarbeiters und ihrer Mitarbeiterin
ist. Wenn die Stapel zu hoch werden, drängen die beiden auf
Abhilfe. Dem beugt sich auch eine Abgeordnete – aus Einsicht
in die Notwendigkeit.
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Was auf den ersten Blick einen ganz und gar befremdlichen
Eindruck hinterlässt, ist die große Hochglanzzeitschrift
auf ihrem Schreibtisch mit dem Titel "Weinwelt". Doch auch das
fügt sich. Marita Sehn kommt aus einer Gegend, in der viele
Menschen vom Weinbau leben. Viele andere besuchen die Region an der
Mosel, um Urlaub oder nur einen Ausflug zu machen, Wein zu kosten
und zu kaufen. Unter den Moselwinzern gibt es viele Kleinbetriebe,
die Fassweine vermarkten; die wirtschaftlichen Bedingungen sind
nicht einfach. Marita Sehn weiß, dass die Existenz vieler
Menschen davon abhängt, wie gut oder schlecht es den
Weinbauern geht. Sie schlug ihrer Fraktion vor, sich dieser
Thematik anzunehmen und weinbaupolitische Sprecherin der FDP im
Bundestag zu werden. Das ist sie auch geworden und seitdem
zuständig für alle damit zusammenhängenden
Fragen.
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Zur Zeit allerdings ist sie mit einem ganz anderen Thema
beschäftigt. Die FDP-Fraktion hat eine Anhörung
beantragt, in der es um die so genannte Biozid-Richtlinie der EU
gehen soll. Welche Zusatzstoffe, Chemikalien und Lösungen
dürfen zum Beispiel in Reinigungs- und Putzmitteln verwendet
werden und welche Auswirkungen hat die Richtlinie beziehungsweise
deren Veränderung auf die Industrie. Marita Sehn ist dabei,
sich in die komplizierte Materie einzuarbeiten. Ein Teil der
Papiere auf ihrem Schreibtisch zeugt davon. Was sie in der Woche
nicht schafft, nimmt sie mit nach Hause, und was da nicht fertig
wird, packt sie in die Tasche, mit der sie wieder nach Berlin
fährt. Kuh, Schwein und Schaf harren geduldig auf ihren
stelzendünnen Beinen aus und sind stumme Zeugen von den
dauernden Metamorphosen der Landschaften auf dem Schreibtisch.
Kathrin Gerlof