Essay
Sind hier Volksvertreter?
Berlin, Frühjahr l998, Vorwahlkampf. Zwei prominente Parlamentarier haben Schriftsteller und Journalisten in ein Restaurant der gehobenen Preisklasse eingeladen. Plötzlich kommt, leicht bleich, der Wirt um die Ecke, gleich hinter ihm eine schwarzgekleidete Schar mit abenteuerlichen Frisuren: "Wir haben gehört, hier sind Volksvertreter" sagte der Anführer der wilden Truppe. Und dann: "Was können Sie uns über das MAI sagen?"
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Matthias Greffrath.
Betretenes Schweigen. Der ostdeutsche Abgeordnete bekennt umstandslos sein Unwissen, der andere, routinierter, kaschiert sein Unwissen mit einer Gegenfrage. Die Studenten kontern mit einem informierten Kurzvortrag über das Multinationale Investitionsabkommen, das seit Jahren in der OECD verhandelt wurde, mit dem Ziel, weltweit den Standortgarantien für internationale Kapitalgeber höhere Rechtskraft zu geben als den nationalen Arbeits-, Umwelt- und Steuergesetzen. Nach zwanzig Minuten gehen sie.
"Sind hier Volksvertreter?" Der Ruf klingt nach 19. Jahrhundert. Und mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts, mit Volksaufklärung und Straßendruck, wurde das MAI noch l998 zu Fall gebracht: Die französische Regierung geriet unter öffentlichen Druck und legte ihr Veto ein.
Das Beispiel machte Schule. Eine internationale Bürgerbewegung hat es in drei Jahren geschafft, dass Berichte über den IWF, die Weltbank und die WTO sachkundiger geworden sind. Dass die IWF-Politik die Hauptursache für die verheerenden Krisen in Asien, Russland, Argentinien war, ist inzwischen bekannt, die Nobelpreisträger pfeifen es von den Podien. Und auch, dass die Grundlage unseres sozialen Friedens im reichen Norden durch das wilde Walten der Finanzmärkte zerrieben wird: kein Sozialstaat ohne Steuersouveränität der Bürger. Die steht, das wissen wir aus der Geschichte, am Anfang der modernen Demokratie.
Die Finanzmärkte wollen es so, die WTO schreibt vor, Brüssel hat beschlossen – solche "Sachzwang"-Argumente sind ebenso fadenscheinig geworden wie der Satz: "Wir haben das erst zu lesen bekommen, als die Sache schon so gut wie beschlossen war." Es stimmt: die globalen Finanz- und Handelsströme setzen den Rahmen für nationale Steuerpolitik, und damit für unser Sozialsystem, unsere Krankenversorgung, die Fähigkeit des Staates, die Arbeitsmärkte zu beeinflussen. Aber sie sind kein Schicksal. Sie werden von internationalen Institutionen geregelt, in denen die deutsche Regierung Sitz und Stimme hat.
Abgeordnete aller Parteien sollten sich also über "Attac" und andere neue Bürgerbewegungen freuen. Denn die gehen ja gerade davon aus, dass Parlamente immer noch über große strukturelle Alternativen entscheiden können – und sollen. Ob wir eine Medizin wollen, die Wunder vollbringt, aber die Gleichheit der Lebenschancen unterhöhlt; ob wir es zulassen, dass der Markt die Gesellschaft spaltet; ob wir die Qualifikation für die Wissensgesellschaft dem Markt oder der Schule übergeben, die Sicherheit der Renten den schwankenden Aktienkursen überlassen, kurz: ob wir die Globalisierung politisch lenken können – daran entscheidet sich die Zukunft der Demokratie.
Der frische Motivationsschub aus der Gesellschaft nützt nichts, wenn die Volksvertreter den Druck nicht weitergeben an die Exekutive. Es stimmt: Globale Wirtschaftsmächte beschränken unsere Fähigkeit, die Zukunft dieses Landes zu gestalten, wie nie zuvor. Wenn das so ist, müssen wir sie wiedergewinnen oder das Wort "Souveränität" vergessen. Eine Aufgabe für Titanen? Ja, aber wie jede große Herausforderung kann man sie Stück für Stück angehen. Im parlamentarischen Alltag hieße das zum Beispiel: unseren Mann im IWF, unsere Delegierten in der WTO oder im IWF oder der EU-Kommission vor dem Parlament rechenschaftspflichtig zu machen. Und das, bevor dort Beschlüsse gefasst werden.
Ich warte also auf den Tag, an dem beim Staatssekretär, der sich auf den Weg zur WTO, zum IWF, zur OECD macht, die Tür aufgeht, die erbleichte Sekretärin erscheint und hinter ihr sechs Männer in schwarzen Anzügen, und deren Anführer sagt: "Wir sind Volksvertreter und haben da ein paar Fragen."
Matthias Greffrath, Jahrgang 1945, ist Soziologe und Journalist. Er arbeitete für den Sender Freies Berlin, die Wochenzeitung "Die Zeit" und war von 1991 bis 1994 Chefredakteur der "Wochenpost". Seither ist er als Publizist tätig und schreibt für die "Süddeutsche Zeitung", die "tageszeitung" und die "Zeit". Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Montaigne heute. Leben in Zwischenzeiten" (Zürich, 1999) und "Attac. Was wollen die Globalisierungskritiker?" (Berlin, 2002). Matthias Greffrath lebt in Berlin und Burgund.