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Kleine Ermunterung, sich auf Abwege zu begeben
Der Geschichtsausstellung "Wege, Irrwege, Umwege" im Deutschen Dom kann man sich ganz unterschiedlich nähern. Sie bietet Raum für eigene Inszenierungen.
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Seit dem 16. April gibt es im Deutschen Dom am Berliner Gendarmenmarkt eine neue Ausstellung zu sehen. Ihr Thema: die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Die Ausstellung schließt an die frühere Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" an, die nach über 30 Jahren beendet wurde.
Jede Ausstellung, auch die im Deutschen Dom, macht sich ein Werk zu eigen. In diesem Fall ist das Werk durch den vorerst abstrakten Begriff "Parlamentarismus" beschrieben.
Es sei dringend geboten gewesen, Parlamentsgeschichte in einer eigenen Ausstellung darzustellen, schreibt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Vorwort zum Ausstellungskatalog. Kann man Parlamentsgeschichte darstellen? Gibt es Bilder, die berühren, Texte, die interessieren, Formen und Formate, mit denen das vielleicht schon Bekannte spannend und neu zusammengefügt wird? Ja, lautet die Antwort. Und dass die Antwort positiv ausfällt, ist das Verdienst derer, die dieses Anliegen des Bundestages umgesetzt haben: Inhaltlich steht dafür der Historiker Lothar Gall, gestalterisch der Ausstellungsarchitekt und Bühnenbildner Hans Dieter Schaal.
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Durch die Historie des Parlamentarismus kann man sich im Dom von unten nach oben oder umgekehrt arbeiten. Man steigt die Treppen hinauf, zählt die Stufen, weil das in Türmen jeglicher Art ein innerer Zwang zu sein scheint, und begibt sich nach rechts oder links auf den nächsten Rundgang. Die einfachste Möglichkeit ist noch jene, den auf dem Fußboden aufgebrachten Pfeilen zu folgen. Das dient der Orientierung und schenkt einem eine wohl durchdachte Chronologie des Sehens und Lesens dazu: Vor- und Frühparlamentarismus und die Revolution von 1848, das kaiserliche Deutschland, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, das geteilte Deutschland, das vereinte Deutschland.
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Man kann aber auch erwägen, sich auf Abwege zu begeben, den Rundgängen zu folgen und dabei seine ganz eigene Frage im Kopf haben, auf die Suche nach Bildern und Entdeckung von Wörtern zu gehen, selbstbestimmten Regeln zu folgen, die Gruppe zu verlassen, um sie erst am Ausgang wieder zu treffen und zu sagen: "Ist euch aufgefallen, dass die Männer auf den Bildern so selten lachen?"
Für den Rundgang sind zum Beispiel diese Varianten denkbar:
Variante 1: Die Frauen
Das wird über lange Zeiträume ein mühseliges
Unterfangen. Wer die Frauen sucht, findet sie zunächst nur als
Allegorie. Die Freiheit ist ein Weib, und Germania ist es auch. Die
Bünde, die Studentenvereinigungen, die Kongresse, die
Landwehr, die Fürsten, die Kämpfer, die Clubs, die
Revolutionäre, die Deputationen - die Geschichte des
Parlamentarismus präsentiert sich zu Beginn und für lange
Zeit als Geschichte von Männern. 574 von ihnen zogen am 31.
März 1848 in die Frankfurter Paulskirche ein. Bärte und
Zylinder und Uniformen prägen die Bilder. Es ist ein weiter
Weg, auch durch die Ausstellung, bis die Frauen nicht mehr Freiheit
oder Germania heißen. Aber er lohnt sich.
Variante 2: Die Wörter
Dass eine Ausstellung textlastig ist, kann kein Vorwurf mehr sein.
Eine Ausstellung, in der gelesen werden muss, verdient
höchsten Respekt. Jenseits der Vermittlung von Fakten, der
Möglichkeit, innezuhalten und durch Lesen und Hören zu
erfahren, haben die Wörter in der Ausstellung im Deutschen Dom
noch einen ganz besonderen Reiz: Sie lassen die Historie
politischer Sprache und Polemik lebendig werden. Sie sind
martialisch, naiv, überschwänglich, Furcht
einflößend, dumm, klug, vernichtend, hoffnungsvoll - sie
beschreiben Verwirrungen und Fortschritte, die der Parlamentarismus
in seiner Geschichte vollzog. Man kann sie bewundern oder vor ihnen
zurückschrecken.
Variante 3: Die Medien
Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, politisches "Fernsehen" gibt
es nicht erst seit dem vergangenen Jahrhundert. Das Zeitalter der
Medien hat früher begonnen. Es ist spannend, zu verfolgen, wie
Staaten, ihre Repräsentanten und Kritiker im Laufe der Zeiten
versuchen, sich darzustellen, oder wie solch abstraktes Ding wie
Politik dargestellt wurde. Gemalte Bilder wurden durch
fotografierte Bilder abgelöst, durch bewegte Bilder
vervollständigt. Das ist eine kleine und spannende
Nebengeschichte, die die Ausstellung erzählt. Man steht vor
üppigen Gemälden, meisterlichen oder stümperhaften
Zeichnungen, deren dokumentarischer Wert die Qualität
übertrifft. Man sieht die ersten Fotografien, hört die
ersten Tondokumente zum Thema, lächelt über alte
Filmaufnahmen, befindet sich irgendwann in Interaktion mit einem
Computer - Blickkontakt wird durch Tastendruck, Tastendruck durch
Touchscreen abgelöst. Man kann für sich entscheiden, ob
das Ölgemälde "Kanzler Bülow spricht" aus dem Jahre
1902 spannender ist als die Übertragung der Bundestagsdebatte
aus dem Jahre 1989.
Variante 4: Die Menschen
Traurige Studenten mit traurigem Hund im Jahre 1814, von Adolph
Menzel 1848 gemalte Urwähler, säbelrasselnde Männer
bei der Kaiserproklamation 1871, für das Frauenwahlrecht
demonstrierende Männer 1919, hungernde sowjetische
Kriegsgefangene 1941, Nachkriegskanzler mit dem künftigen
Wirtschaftswunderkanzler 1960, Ostberliner Obstverkäuferin
1965, Demons-tranten am 4. November 1989... Es gibt hunderte
Geschichten hinter der Geschichte, Biografien, Schicksale,
Höhenflüge, Abstürze. Die Geschichte des
Parlamentarismus ist letztlich auch die
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Geschichte von Parlamentariern und Parlamentarierinnen oder eben die Geschichte ihrer Abwesenheit. Man könnte, nur zum Beispiel, am Ende ganz schnell noch einmal durch alle sechs Ebenen der Ausstellung fegen, um sich all jene Bilder herauszusuchen, auf denen jene abgebildet sind, die gewählt wurden, und jene, die gewählt haben und auf denen die Orte gezeigt werden, an denen sie sich trafen und treffen: Rednerpulte, Barrikaden, Runde
Tische, Paraden, Besuchertribünen, Balkone und Plätze, Verhandlungstische, Diskussionsrunden, Demonstrationen, Zwiegespräche, Massenkundgebungen, Plenarsäle. Das ist dann eine ganz eigene und neue Erzählung.
Eine Ausstellung, die all diese Möglichkeiten bietet, ist eine gute Ausstellung. Sie passt in die Stadt Berlin.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: Siegfried Büker
Öffnungszeiten:
Dienstag: 10 bis 22 Uhr; Mittwoch bis Sonntag und an Feiertagen: 10 bis 18 Uhr, in den
Monaten Juni, Juli und August: 10 bis 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Führungen für Einzelbesucher täglich um 11 und um 13 Uhr. Für Gruppenführungen ist vorherige Anmeldung notwendig. Kontaktadresse: Ausstellungsbüro PI 5, Tel: 030-227 304 31/432/433, Fax: 030-227 304 38
Ausstellungskatalog:
Begleitend zur Ausstellung ist ein reich illustrierter Katalog erschienen.
10,00 Euro (inkl. CD-Rom 13,00 Euro)