Streitgespräch
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Nicolette Kressl (l.) und Maria Böhmer. |
Pisa- und Iglu-Studie
Die Not mit den Noten
Die Not mit den Noten – wer kennt sie nicht aus der eigenen Schulzeit? Jetzt haben zwei Studien für Aktualität gesorgt. Denn die internationale Schulleistungsstudie „Pisa“ zeigt, dass die Leistungen der Schüler häufig nicht ausreichen. Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung „Iglu“ gibt immerhin den Grundschulen eine passable Note. Aber reicht das aus für die Bildungsnation Deutschland? Darüber führte BLICKPUNKT BUNDESTAG ein Streitgespräch mit der Vizevorsitzenden der Unionsfraktion, Maria Böhmer, und der stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Nicolette Kressl.
Blickpunkt Bundestag: Frau Kressl, gibt es ein Bildungsgefälle in Deutschland? Und: Welchen Wert haben Noten, wenn sie vergleichbare Leistungen höchst unterschiedlich bewerten?
Nicolette Kressl: Die Pisa-Studie zeigt in der Tat, dass scheinbar objektive Maßstäbe in Wirklichkeit nicht objektiv sind. Daraus müssen wir natürlich Schlussfolgerungen ziehen. Etwa dadurch, dass wir eindeutigere Standards, neue Kompetenzen und klare Ziele definieren, wo Schüler ankommen sollen.
Blickpunkt: Frau Böhmer, brauchen wir nationale und einheitliche Bildungsstandards? Wenn ja: Wer soll sie aufstellen?Maria Böhmer: Natürlich brauchen wir solche Standards. Die Länder sind dabei, sie zu entwickeln. Ich halte das für richtig. Aber: Wir müssen tiefer graben. Bildungsstandards allein reichen nicht, wir müssen den Blick auf die Qualität des Unterrichts lenken. Darauf kommt es an. Lehrer müssen in den Stand versetzt werden, einen Unterricht zu gestalten, der an den Schülern orientiert ist und deren kognitive Fähigkeiten entwickelt. Das ist das Entscheidende.
Blickpunkt: Bedeuten nationale Bildungsstandards das Ende der Heiligen Kuh Bildungsföderalismus?
Böhmer: Nein. Denn die Schulstrukturen in den Ländern bleiben unterschiedlich gelagert. Entlang dieser Strukturen müssen die Bildungsstandards entwickelt und evaluiert werden, dabei aber vergleichbar zwischen den Ländern sein. Denn ein Schulkind in Sachsen-Anhalt muss die gleichen Chancen haben wie ein Kind in Bayern.
Blickpunkt: Hätten wir nicht schon längst so weit sein müssen?
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Im Gespräch: Nicolette Kressl... | ||||||||||
Kressl: Ja. Aber leider hat die Kultusministerkonferenz zu meinem Bedauern zwar viel diskutiert, dabei aber eher wenige Ergebnisse erzielt. Wir haben offensichtlich die Pisa-Studie gebraucht, um Druck zu machen und uns endlich darauf zu verständigen, dass die Antwort auf Pisa eine nationale Anstrengung sein muss. Denn anders als Frau Böhmer meine ich, dass die Standards nicht pro Bundesland, sondern national entwickelt und festgelegt werden müssen. Dabei brauchen sie aber so viel Freiheit im Weg und in den Mitteln, dass es zu einem fruchtbaren Wettbewerb zwischen Schulen und Ländern kommen kann.
Böhmer: Man macht es sich zu einfach, wenn man der Kultusministerkonferenz die Schuld in die Schuhe schiebt und sich selbst bequem zurücklehnt. Wir müssen dorthin gehen, wo die Probleme liegen: In die Schulen. Dort muss es zu Veränderungen kommen, vor allem beim Unterricht selbst. Der muss besser und qualitätsvoller werden. Dazu brauchen wir eine Lehrerbildung und eine Lehrerfortbildung, die zu einem besseren Unterricht in der Klasse befähigen. Hinzu kommen müssen vernünftige materielle Rahmenbedingungen sowie eine Bildungsstandardorientierung, die den Wettbewerb zwischen den Ländern zulässt. Was wir uns nicht erlauben dürfen, ist eine Nivellierung auf niedrigem Standard. Wir müssen uns anstrengen, das sind wir unseren Kindern schuldig.
Kressl: Damit bin ich einverstanden. Aber statt um den Wettbewerb der Standards muss es um den Wettbewerb der Methoden, der Wege und der Kompetenzen gehen. In den Ländern darf es keine unterschiedlichen Standards geben.
Blickpunkt: Kommen wir zu einem anderen Bereich: Bildungschancen, auch das sagt die Pisa-Studie, bilden sich schon früh heraus. Wäre es da nicht vernünftig, bereits in den Kindergärten stärker als bisher spielerisch Wissen zu vermitteln?
Kressl: Ja, wir müssen schon im frühkindlichen Bereich nicht nur Betreuung, sondern auch Bildung in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehört auch, dass sich die Ausbildung bei Erzieherinnen und Erziehern verändert. Kurz: Wir müssen mehr Wert auf die Qualität der Erziehung schon unserer kleinen Kinder legen.
Böhmer: Richtig ist, dass hier Chancen verpasst wurden. Frühkindliche Erziehung beschränkte sich bisher in der Regel auf Spielen und Betreuen: Dabei wissen wir seit längerem, dass frühkindliche Bildung außerordentlich wichtig ist. Das heißt nicht Verschulung des Kindergartens, sondern mit den Kindern den Weg gehen, der ihnen gemäß ist. Kinder wollen lernen, sie sind aufnahmebereit. Das kann durchaus bis zur bilingualen Sprachkompetenz reichen. Zwei Sprachen spielerisch bereits im Kindergarten erlernt zu haben, bedeutet – das zeigen alle Versuche – dass diese Kinder später deutlich verbesserte Ausgangspositionen für den Erwerb weiterer Kompetenzen bis hin zum Bereich der Naturwissenschaften haben. Das muss genutzt werden.
Kressl: Hier bin ich mit Frau Böhmer einig. Wenn das Lernen spielerisch erfolgt, ist das auch keine Überforderung der Kinder. Noch wichtiger aber als die bilinguale Spracherziehung erscheint mir die Förderung der deutschen Sprache. Denn diese Sprachkompetenz ist unglaublich wichtig für die Frage: Wie wirken sich soziale Unterschiede aus? Deshalb muss auf die deutsche Sprachkompetenz sehr viel Wert gelegt werden.
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... und Maria Böhmer. | ||||||||||
Böhmer: Und wir müssen sie auch überprüfen, bevor die Schüler in die Grundschule kommen. Wo die Sprachkompetenz nicht ausreicht, brauchen wir ein entsprechendes Zusatzangebot.
Blickpunkt: Nun beschert gerade der Internationale Grundschultest IGLU Deutschland mit Platz 11 von 35 einen passablen Mittelplatz. Grund zur Entwarnung?
Böhmer: Keineswegs. Denn als Bildungsnation kann sich Deutschland einen Mittelplatz nicht leisten. Andere Länder beginnen bereits im Alter von vier bis fünf Jahren mit der schulischen Bildung. Bei uns liegt das Einschulungsalter bei 6,8 Jahren. Das ist viel zu hoch. Wir sollten es auf mindestens 6,0 Jahre herabsenken.
Kressl: Richtig. Deutschland muss ambitionierter werden, denn unsere „Rohstoffe“ sind die Potenziale unserer Kinder und jungen Menschen. Die dürfen wir nicht verkümmern lassen. Deshalb brauchen wir eine möglichst frühe und qualifizierte Förderung, weg von der Auslese hin zu einer stärkeren Förderung im Bildungsbereich.
Blickpunkt: Wie steht es mit der Ganztagsschule? Wirkt die nicht auch ein auf die Chancengerechtigkeit für Schüler? Die Bundesregierung forciert deren Ausbau mit einem Milliardenprogramm. Wie, Frau Böhmer, steht die Union dazu?
Böhmer: Also: Die unionsgeführten Länder bringen zurzeit Ganztagsschulen intensiv und mit sehr guten Ergebnissen voran. Aber entscheidend bleibt die Frage: Was soll die Ganztagsschule leisten? Nur Betreuung am Nachmittag oder auch mehr und bessere Bildung? Nur mit Ganztags-, also Schulbauprogrammen der Bundesregierung schafft man keine bessere Bildung. Was wir brauchen, sind mehr Lehrkräfte und eine pädagogische Gesamtkonzeption. Davor aber zuckt die Bundesregierung zurück. Aber nur so kommen wir zu einem richtigen Ansatz von Ganztagsschule, nämlich der Verteilung von Unterricht am Vor- und Nachmittag, von zusätzlichen Lehrangeboten und damit auch der Chance, auf zwölf Jahre Schulzeit insgesamt zu kommen.
Kressl: Frau Böhmer, was Sie machen, ist eine Verunglimpfung unseres Programms. Denn gerade was Sie fordern: eine pädagogische Gesamtkonzeption, verlangen wir. Nur: Einige Unionsländer weigern sich, dieses auszufüllen. Im Übrigen: Für mich muss Ganztagsschule zu einem Lernort werden, wo Kreativität gefördert wird, wo Bildung einen völlig neuen Stellenwert bekommt und wo Schule für Kinder und junge Menschen nicht mehr der Ort ist, wo zensiert wird und Noten gegeben werden, sondern ein Ort, mit dem sie sich identifizieren können und zu dem sie gern gehen. Deshalb sind Ganztagsschulen auch nicht nur in sozialen Brennpunkten vernünftig, sondern ein sinnvolles Angebot für alle Schüler.
Blickpunkt: Wie wichtig ist für Sie der Gesichtspunkt, dass Ganztagsschulen die Berufstätigkeit von Müttern, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, erleichtern?
Böhmer: Das ist ein ganz zentraler Ansatz, denn zurzeit haben wir im Ganztagsschulbereich ein Angebot von nur drei bis fünf Prozent in Deutschland. Das ist eindeutig zu wenig. Wenn wir wollen, dass Eltern wirklich ein Wahlangebot haben, brauchen wir mehr Ganztagsschulen. Das ist ein Muss in der heutigen Zeit.
Kressl: Das höre ich gern. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Kernpunkt sozialdemokratischer Familienpolitik. Bildung und Betreuung gehören zusammen. Aus ihnen erwachsen neue Qualitäten und Chancen für die Zukunft.