Als eine zweite Revolution bezeichnete der Schriftsteller Huschang Golschiri im Mai 1997 die Wahl Mohammad Chatamis zum Präsidenten. Wie unzählige andere Intellektuelle sah auch er in ihm einen Hoffnungsträger. Hat Chatami die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt? Gegen den erklärten Willen des konservativen Establishments wurde der fast unbekannte Seyyed Mohammad Chatami am 23. Mai 1997 von 70 Prozent der iranischen Bevölkerung zum Präsidenten gewählt. Nach langem Zögern und vielen vergeblichen Anläufen, einen aussichtsreichen Gegenkandidaten zu Parlamentspräsident Nateq Nuri zu benennen, hatten die politischen Gegner der Konservativen, die praktisch schon geschlagenen Technokraten und Linksislamisten, kurz vor der Wahl eine Karte aus der Hinterhand gezogen, die sich als Trumpf-As erweisen sollte: Mit Chatami überredeten sie einen Politiker zum Kampf um das Präsidentenamt, der dem politischen Establishment schon lange nicht mehr angehörte. Einem solchen Außenseiter allein war zuzutrauen, gegen Nateq Nuris Propagandaapparat zu bestehen, indem er die Nichtwähler und Unzufriedenen für sich gewönne.
Halb freiwillig, halb von der Eigendynamik der Ereignisse überrumpelt, bot der Wächterrat und mit ihm die konservative Führung des Landes dem Volk erstmals eine echte politische Alternative. Gleichwohl hatte sie von der Bevölkerung erwartet, dass diese denjenigen wählt, den sie für die Präsidentschaft auserkoren hatte, Chatamis Kontrahenten Nateq Nuri. Doch das Wahlvolk verhielt sich nicht so, wie es von ihm erwartet wurde. Es war nicht nur der Inhalt seiner Reden, der Chatami die Sympathie der Menschen gewinnen ließ. Es lag nicht nur daran, dass er von Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und einer islamischen Demokratie sprach. Viel war auch seiner Ausstrahlung geschuldet. Kein Vergleich mit seinem finster dreinblickenden Konkurrenten Nateq Nuri. Chatami wirkte freundlich und sympathisch, war elegant gekleidet und entsprach so gar nicht dem Bild, das viele Iraner von einem Mullah haben. Und seine Unterstützer aus dem Lager der Linksislamisten und der Technokraten konnten nicht ahnen, dass Chatami sie an Reformwilligkeit weit übertreffen würde.
Nach seinem Amtsantritt im August 1997 wehte in Iran ein merklich liberalerer Wind. Vor allem wurden in den ersten Monaten viele Hoffnungen der Kulturschaffenden erfüllt: Unter dem Chatami-Vertrauten Ataollah Mohadscherani lockerte das Kulturministerium die Buchzensur, Zeitungen, die kein Blatt vor den Mund nahmen und die bestehenden Zustände offen kritisierten, erhielten eine Lizenz, unter ihnen Dschamee, die - wie sie sich selbst nannte - "erste Zeitung der zivilen Gesellschaft". Auch im Alltag gab es Anzeichen für einen Wandel, kleinere und größere Tabubrüche: Das Kopftuch der Frauen rutschte weiter nach hinten, die Jugendlichen wurden mutiger, hielten Händchen auf der Straße, hörten verbotene Musik auch bei offenem Autofenster, feierten lautere Partys.
Es gab sogar Vorstöße, die ganz neuralgische Punkte und die Identität der Islamischen Republik berührten: nämlich ihre Herrschaftstheorie, die "Herrschaft des Rechtsgelehrten", sowie das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Über beides wurde öffentlich gesprochen, wenn auch zaghaft. Neu gegründete Zeitschriften wie Rah-e nou (Der neue Weg) brachten Darstellungen der velayat-e faqih in Geschichte und Gegenwart und wagten, der herrschenden Doktrin zu widersprechen, dass die "Herrschaft des Rechtsgelehrten" zu den althergebrachten, unumstößlichen Prinzipien der Schia - eine der drei Glaubensrichtungen des Islam - gehöre. Auch die Tatsache, dass der Revolutionsführer nicht direkt vom Volk gewählt wird und seine Amtszeit nicht begrenzt ist, wurde plötzlich offen kritisiert.
Im Februar 1998 löste dann der Präsident selbst eine weitere Grundsatzdebatte aus: Er gab dem amerikanischen TV-Sender CNN ein Interview. Die darin gemachten Aussagen übertrafen die schlimmsten Befürchtungen seiner innenpolitischen Gegner. Chatami begann das Interview mit einer minutenlangen Lobrede auf die amerikanische Zivilisation, erkor diese gar zum Vorbild für Iran. Und dann entschuldigte er sich auch noch indirekt für die Geiselnahme in der US-amerikanischen Botschaft in Teheran im November 1979. 444 Tage lang hatten iranische Studenten nach der Revolution amerikanische Diplomaten gefangen gehalten. Die Konservativen machten kein Hehl aus ihrem Unmut über Chatamis Avancen gegenüber den USA. Revolutionsführer Ali Chamenei erklärte am Tag nach dem Interview: "Die US-Regierung ist unser Erzfeind, und wir betrachten sie wegen ihrer Politik der vergangenen Jahrzehnte als großen Satan." 1 In der konservativen Zeitung Dschomhuri-ye Eslami hieß es: "Der Präsident hat alles gesagt, bis auf das, was er hätte sagen sollen." 2
Chatami hatte einen bedeutenden Schritt gewagt: Mehr noch als die "Herrschaft des Rechtsgelehrten", die nur von den islamistischen Kräften der revolutionären Bewegung vertreten wurde, gehört die Kritik an Amerika zu den Grundpfeilern der Islamischen Revolution. In ihr war die bürgerliche, linke und islamistische Opposition gegen den Schah vereint, schon weil dieser mit einem von der CIA organisierten Putsch gegen die demokratische Regierung Mohammad Mossadeghs an die Macht gekommen war. Es war nicht zuletzt der Widerstand gegen die Amerikaner, der das iranische Volk 1978 auf die Straßen trieb. Und auch nach dem Sieg der Revolution taten die Vereinigten Staaten aus Sicht der Iraner alles, um weiter als identitätsstiftendes Feindbild zu fungieren: Ihre Unterstützung Saddam Husseins, als dieser seine Truppen nach Iran einmarschieren ließ, das Wirtschaftsembargo, der Abschuss eines iranischen Passagierflugzeuges im Jahre 1988 und die Dekorierung des Verantwortlichen, die Bekanntgabe eines Budgets zum Sturz der iranischen Regierung, zuletzt die Unterstützung der Taliban in Afghanistan - nichts war besser geeignet, von den eigenen Misserfolgen abzulenken, als der Verweis auf die Liste amerikanischer Verfehlungen.
Sicher möchte Chatami die Frontstellung gegen die USA nicht auflösen, weil ihm der einstige "große Satan" sympathischer geworden wäre. Der Antiamerikanismus in dem Sinne, wie er überall in der Dritten Welt zu finden ist, bleibt eine Grundbedingung des Denkens von Chatami und auch seiner Unterstützer. Aber für sie wiegt der Schaden, den das Land strategisch und vor allem ökonomisch hat, indem es sich mit der einzig verbliebenen Weltmacht befehdet, schwerer als der stabilisierende Effekt eines äußeren Gegners. Damit signalisieren die Konservativen etwas Grundsätzlicheres als nur die Aufgabe alter Feindbilder, nämlich das Primat des nationalen Interesses gegenüber der revolutionären Ideologie.
Schon in den ersten Monaten nach dem Amtsantritt Chatamis versuchten die Konservativen, die Reformbemühungen des Präsidenten zu torpedieren. Vor allem die Justiz tat sich als Speerspitze der Konservativen hervor und brachte unliebsame Personen, die sich den Idealen der vom Präsidenten propagierten zivilen Gesellschaft verschrieben hatten, hinter Gitter. Zeitungen wurden eingestellt, Journalisten inhaftiert und regimekritische Intellektuelle und Politiker fielen 1998 den so genannten Kettenmorden zum Opfer. Diese Morde, für die - wie sich später herausstellte - eine Abteilung des Geheimdienstes verantwortlich war, sollten das System destabilisieren. Auf der schwarzen Liste des Geheimdienstes fanden sich die Namen fast aller führenden Intellektuellen und Oppositionellen des Landes.
Auch das damals noch von den Konservativen dominierte Parlament versuchte, die Reformpolitiker um Chatami zu stoppen. Chatamis Kulturminister überstand nur knapp ein Amtsenthebungsverfahren, bei dem er sich für seine liberale Kulturpolitik verantworten musste, sein Innenminister hatte weniger Glück. Chatami berief den Geschassten daraufhin zum stellvertretenden Staatspräsidenten. Kurz nach Nuris Ankündigung, bei den Parlamentswahlen als Kandidat anzutreten, aus denen er mit großer Wahrscheinlichkeit als Parlamentspräsident hervorgegangen wäre, klagte ihn das "Sondergericht für Geistliche" an. Bevor er schließlich zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, kehrte Nuri in seiner Verteidigungsrede das Unterste der Islamischen Republik zuoberst und brach reihenweise die Tabus der öffentlichen Rede in Iran - und zwar zur besten Fernsehsendezeit. So bestritt Nuri vor Gericht die göttlichen Vollmachten von Revolutionsführer Chamenei und verteidigte dessen gewichtigsten Kritiker, den damals noch in Ghom unter Hausarrest stehenden Großajatollah Montazeri. Von der Anklagebank aus prangerte der ehemalige Innenminister auch den politischen Terror in der Islamischen Republik an. Nuri beschuldigte den Geheimdienst nicht nur der Urheberschaft der Kettenmorde, sondern er warf ihm auch vor, schon in den Jahren zuvor zahlreiche Andersdenkende, Intellektuelle und Geistliche umgebracht zu haben. Nuri, dem in der 44-seitigen Anklageschrift vorgeworfen worden war, diplomatische Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Israel befürwortet zu haben, bestätigte, dass er eine Verständigung mit den USA für notwendig halte. Iran sei auf amerikanische Investitionen angewiesen, stellte Nuri fest und führte zahlreiche Daten an, um auf den Schaden hinzuweisen, den das Wirtschaftsembargo Washingtons verursache. Offiziell gilt das Embargo als wirkungslos. Die reformorientierte Presse berichtete täglich auf den Titelseiten über den Prozess. "Das Verfahren gegen Abdollah Nuri, so bitter und bedauernswert es ist, hat diese gute Seite, dass es die Realität, wie sie von einem großen Teil der iranischen Gesellschaft gesehen wird, widerspiegelt", gab die Zeitung Sobh-e emruz die unter den Kommentatoren vorherrschende Meinung wider.
Um gegen den Reformstau zu protestierten, gingen im Juli 1999 Hunderte von Studenten auf die Straße. Die Proteste hatten sich an dem Verbot der liberalen Zeitung Salam entzündet, die Kritik an der verschleppten Aufklärung der Kettenmorde geübt hatte.
Doch erst nach den Parlamentswahlen vom März 2000 schlugen die Konservativen wirklich zurück. Auch in dieser Wahl votierte die Bevölkerung für Reformen, und mit ihr stellten die Reformer nun auch im Parlament die Mehrheit. Einen großen Anteil an dem überragenden Erfolg der Reformkräfte bei dieser Wahl hatte Akbar Gandschi, einer der führenden Protagonisten des Reformprozesses. Nachdem seine Zeitschrift, das bereits genannte aufklärerische Magazin Rah-e nou, im März 1998 verboten worden war, hatte Gandschi ein neues Betätigungsfeld gefunden, den Aufklärungsjournalismus. Unter dem Titel "Das Verließ der Gespenster" veröffentlichte er ein Buch, das die erwähnten Machenschaften des iranischen Geheimdienstes enthüllte und zum Bestseller wurde. Zum endgültigen Lieblingshelden vieler Iraner avancierte Gandschi im Zuge der Parlamentswahlen vom Februar 2000. Für diese Wahl hatte auch der ehemalige Staatspräsident Akbar Haschemi Rafsandschani seine Kandidatur angekündigt. Gandschi resümierte daraufhin Rafsandschanis politische Laufbahn und kam zu einem vernichtenden Urteil. "Die rote Eminenz" heißt der mit Fußnoten gespickte Aufsatz, der in der Zeitung Sobh-e emruz abgedruckt wurde und wie eine Bombe einschlug. Laut Gandschi wurden vom Geheimdienst während Rafsandschanis Präsidentschaft bis zu achtzig Morde an Regimekritikern verübt. Zwar behauptet Gandschi nicht, dass Rafsandschani diese Morde angeordnet habe, aber dieser müsse von ihnen gewusst haben und trüge damit die politische Verantwortung. Es dürfte diese Artikelserie gewesen sein, die Rafsandschani und mit ihm den Konservativen insgesamt eine peinliche Niederlage bei den Parlamentswahlen bescherte und zur Inhaftierung Gandschis führte.
Die Reaktion der Konservativen auf ihren Misserfolg fiel deutlich aus. Ein Vertrauter Chatamis wurde Opfer eines Anschlags, es folgte ein Kahlschlag in der Medienlandschaft. Die Presse war den Konservativen zunehmend ein Dorn im Auge, weil sie sich zum eigentlichen Motor der Reformbewegung entwickelt hatte und damit die größte Gefahr für die Konservativen darstellte - mehr noch als ein von Reformern dominiertes Parlament. Dem Parlament ist der so genannte Wächterrat übergeordnet, der alle Gesetzesvorlagen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Islam überprüft und sie gegebenenfalls stoppen kann. Das Parlament ist also kontrollierbar. Das Verbot der Zeitungen, so Morteza Mardiha, leitender Redakteur der Zeitung Dschamee, diente daher dem Zweck, "die Menschen zu entmutigen, denn das lebendige Zeichen für Veränderung ist diese Presse".
Eine besonders gute Gelegenheit, weitere Intellektuelle, die den Reformprozess entscheidend vorangetrieben hatten, auszuschalten, bot sich den Konservativen im Zusammenhang mit einer Konferenz, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung im April 2000 nach Berlin eingeladen hatte. 22 Intellektuelle, Geistliche und Politiker waren eingeladen, über den Fortgang des Reformprozesses zu diskutieren. Doch die Konferenz wurde von iranischen Exilanten gestört, welche die Reformbemühungen der Eingeladenen als regimetreu und regimestützend abtaten. Die Konservativen witterten ihre Chance. Das iranische Fernsehen montierte die Bilder neu zusammen. Nun hatte es den Anschein, als würden Exilanten und Reformer gemeinsam gegen die Regierung demonstrieren und in friedlichem Einvernehmen zu ihrem Sturz aufrufen. Gegen alle bei der Konferenz Anwesenden wurde nach ihrer Rückkehr nach Iran ein Gerichtsverfahren eröffnet. Einige von ihnen - unter ihnen Akbar Gandschi - sind bis heute in Haft.
Wie reagierte Chatami auf die Attacken der Konservativen, auf ihre Versuche, seine Mitstreiter politisch kaltzustellen, Reformen zu verhindern oder wieder umzukehren? Häufig genug schwieg er, zuweilen wählte er aber auch deutliche Worte für seine innenpolitischen Gegner. Aber zu zwei möglichen Maßnahmen griff er nicht: Er trat nicht zurück, wie viele erwartet hatten, um mit diesem Schritt das erhoffte politische Beben auszulösen. Und er rief auch nicht das Volk zu Demonstrationen auf. Das hätte er gekonnt, weil die Bevölkerung sein Trumpf im politischen Machtpoker war. Doch Chatami wollte kein Blutvergießen riskieren und wählte die Taktik der kleinen Schritte. Rückblickend scheint sich aber auch Chatami keinen Illusionen über den Erfolg dieser Taktik hinzugeben. Er selbst zog im Frühjahr 2001 eine traurige Bilanz seiner ersten Amtszeit: Alle neun Tage hätten die Konservativen eine Regierungskrise produziert. Als er sich im Mai 2001 um eine zweite Amtszeit bewarb, standen ihm die Tränen in den Augen. Er wäre jetzt lieber woanders, sagte er, würde seinem Volk lieber an anderer Stelle dienen. Dass sie noch Vertrauen in ihn und den Reformprozess hatte, zeigte die iranische Bevölkerung Chatami aber ein zweites Mal. Am 8. Juni 2001 wurde er mit einer überzeugenden Mehrheit wieder gewählt.
Im Sommer 1997, kurz nachdem Chatami zum ersten Mal Präsident geworden war, sagten viele Frauen stolz, sie hätten ihn dazu gemacht. Und tatsächlich wurde Chatami vor allem mit den Stimmen von Frauen und Jugendlichen ins Präsidentenamt gewählt. Chatami ist der erste iranische Präsident, auf dessen politischer Agenda Frauenrechte standen. Er hatte im Wahlkampf erstaunlich emanzipatorische Töne angeschlagen: Ein Ministeramt könne mit einer Frau besetzt werden. Er sprach sich sogar dafür aus, dass Frauen Staatspräsidentin werden können. Laut Aussage von Shahla Sherkat, der Herausgeberin der Frauenzeitschrift Zanan (Frauen), schaffte Chatami es, bei den Frauen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu wecken. 3
Wer jedoch gehofft hatte, unter Chatami werde sich die rechtliche Situation der Frau entscheidend bessern, wurde enttäuscht. Das ist allerdings nicht seine persönliche Schuld, denn die Gesetze werden vom Parlament erlassen, und dieses wurde bis zum August 2000 von den Konservativen dominiert. Dieses konservative Parlament verabschiedete in Chatamis Amtszeit sogar einige Gesetze, die als massive Rückschläge bezeichnet werden müssen: Beispielsweise sieht ein Gesetz vom Frühjahr 1998 vor, dass Frauen nur noch von Ärztinnen behandelt werden dürfen. Ein weiteres in dieser Zeit verabschiedetes Gesetz verbietet, dass Frauen und Männer in Minibussen und Überlandbussen zusammensitzen können, in Stadtbussen galt dieses Verbot bereits früher. Chatami kommentierte dieses Gesetz mit den Worten, der Versuch, Frauen und Männer in jedem gesellschaftlichen Bereich zu separieren, sei gegen die Natur des Menschen. Geholfen haben seine Einwände allerdings nicht, und auch jetzt noch, nachdem die Reformer im Parlament seit August 2000 die Mehrheit stellen, sorgt der Wächterrat dafür, dass keine allzu reformerischen Gesetze verabschiedet werden. Das neue Parlament hat seit seiner Konstituierung einige Versuche unternommen, Frauen mehr Rechte zu geben. So sollte das Mindestheiratsalter für Mädchen, das derzeit bei neun Jahren liegt, heraufgesetzt werden. Doch der Wächterrat erhob Einspruch: Das Gesetz verstoße gegen den Islam. An demselben Argument scheiterte kurz darauf das neue Scheidungsrecht, das auch Frauen ermöglicht hätte, die Scheidung einzureichen und ihre Unterhaltsansprüche zu verbessern. Auch der vom Parlament im August 2003 beschlossene Beitritt zur UN-Konvention gegen jede Art der Diskriminierung von Frauen wurde vom Wächterrat abgelehnt. Sein Veto begründete der Wächterrat damit, dass Artikel 28 der Konvention alle Gesetze, die den Grundsätzen sowie dem Geist der Konvention widersprechen, ablehnt. Dies würde bedeuten, dass man die Konvention höher bewerten müsste als das islamische Recht, was für einen islamischen Staat inakzeptabel sei. Einen Erfolg konnte das Parlament jedoch verbuchen: Der Wächterrat akzeptierte einen Gesetzesentwurf, dem zufolge auch allein stehende Frauen im Ausland mit Staatsstipendien studieren dürfen. Bislang war dies aus moralischen Gründen nur Verheirateten gestattet.
Es liegt aber nicht nur am Wächterrat, dass sich die rechtliche Situation der Frauen nicht entscheidend verbessert hat. In Frauenfragen vertreten nämlich auch viele Reformpolitiker eine äußerst konservative Haltung, die Ansichten von Konservativen und Reformern unterscheiden sich nicht wesentlich. Ein Beispiel ist die Diskussion um die Besetzung der Ministerposten nach der Wahl Chatamis am 8. Juni 2001. Die Abgeordnete Jamileh Kadiwar forderte, einen Ministerposten mit einer Frau zu besetzen. Die Männer - Konservative ebenso wie Reformer - lehnten dies in einer Parlamentssitzung fast einstimmig ab. Tahereh Rezazadeh, eine der Abgeordneten, kommentierte dies mit den Worten, männlicher Chauvinismus würde in der angeblich reformorientierten Regierung und im angeblich reformorientierten Parlament ebenso vorherrschen wie unter den Konservativen und in der iranischen Gesellschaft insgesamt. 4
In den vergangenen Jahren hat es dennoch in Iran eine positive Veränderung in den Auseinandersetzungen um Frauenrechte gegeben. Die Frauenrechtlerin Shahla Lahidschi macht dies an der Tatsache fest, dass das Thema Frauenrechte, das noch vor einiger Zeit nur sie und wenige andere angesprochen haben, jetzt von weiten Teilen der Bevölkerung und sogar im Parlament diskutiert würde. Ein Beispiel für diese neue Diskussionsfreudigkeit ist die Kopftuchdebatte. Auch hier hat sich einiges bewegt, seit Chatami im Jahr 1997 Präsident wurde, denn inzwischen wird sogar die Abschaffung des Kopftuch-Zwangs immer offener gefordert. Abdallah Nuri brach ein Tabu, als er öffentlich erklärte, der Staat dürfe keine Frau zum Kopftuch zwingen. 5
Auch faktisch betrachtet hat sich die Situation der Frau verbessert: Im Jahr 2002 gab es zum vierten Mal in Folge mehr weibliche (63 Prozent) als männliche Studienanfänger. Vor allem an dieser Zahl machen Frauenrechtlerinnen fest, dass sich in den nächsten Jahren die Situation der Frauen entscheidend verbessern wird. Entgegen den gängigen Klischees gibt es in Iran schon lange Abgeordnete, Ärztinnen, Lehrerinnen, Präsidentenberaterinnen und Bürgermeisterinnen. Neuerdings, seit Januar 2003, steht den iranischen Frauen auch der Beruf der Polizistin offen. Und auch die klassische Männerdomäne des Nahen Ostens, den Straßenverkehr, haben sie mittlerweile erobert: Sie fahren Taxi. Als unterwürfige Dienerin der Ayatollahs verstehen sich die iranischen Frauen jedenfalls nicht, im Gegenteil. Dies lässt sich vielleicht auch daran ablesen, dass der beliebteste Frauensport in der Islamischen Republik Karate sein soll.
Entscheidende Reformen blieben jedoch nicht nur im Bereich der Frauenrechte aus - und damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Reformierbarkeit des iranischen Systems. Zwar stellen die Reformer seit August 2000 die Mehrheit im Parlament, sie konnten aber wegen des Widerstands des Wächterrats kaum eines ihrer über 50 Gesetze durchbringen. Aufschlussreich für die Möglichkeiten (bzw. Unmöglichkeiten) der Reformer, etwas am Status quo zu ändern, war eine Parlamentssitzung vom August 2000, in der eine Reform des Presserechts verabschiedet werden sollte. Sie hatte zum Ziel, die Presse vor der Willkür der Justiz zu schützen und den Journalisten größere Freiräume zu verschaffen. Dieses Pressegesetz war nicht einer von vielen Punkten auf der Tagesordnung des neuen Parlaments, sondern das zentrale Wahlversprechen der Reformer, da die Presse der sichtbarste Motor des Wandels ist.
Dieses Mal intervenierte der Revolutionsführer höchstpersönlich. Bevor die angesetzte Debatte über das Gesetz auch nur beginnen konnte, musste Parlamentspräsident Mehdi Karrubi einen Brief Chameneis verlesen, in dem dieser die Debatte verbot. Jede Änderung des Bestehenden verstoße gegen den Islam. Zwar gaben einige Abgeordnete ihrer Empörung Ausdruck, indem sie aus Protest die Sitzung verließen. Gegen das Veto des Revolutionsführers konnten sie aber nichts ausrichten.
Erstaunen hatte das Vorgehen Chameneis dennoch hervorgerufen. Er hätte es eigentlich nicht nötig gehabt, diesen Weg der Konfrontation zu wählen. Der Wächterrat hätte das Gesetz ohnehin gestoppt. Nun muss sich Chamenei den Vorwurf gefallen lassen, er habe sich über die Verfassung hinweggesetzt. Dieser Meinung sind allerdings nur die Reformer, denn nach Ansicht der Konservativen ist Chamenei eben laut Verfassung der "absolute Führer": Er wird nicht durch das Volk legitimiert, sondern von Gott. Weil er "im Namen Gottes" regiert, so die Logik der Anhänger dieser Lesart der Verfassung, darf der Revolutionsführer auch Kompetenzen beanspruchen, welche die Verfassung eigentlich nicht für ihn vorsieht. Deshalb dürfe er auch, so dieselbe Argumentation, die Verfassung außer Kraft setzen, wenn es ihm beliebt, und das Parlament auflösen, wenn es nicht zu seiner Zufriedenheit arbeitet. Dieser Widerspruch ist es, an dem der Reformprozess scheitert, und viele Reformer benennen dies seit Jahren.
Auch Chatami begreift sich aufgrund dieser Konstellation als machtlos und damit handlungsunfähig. Er habe nicht mehr Macht als ein gewöhnlicher Bürger, erklärte er. Als eine Art letzter Versuch wurden daher die beiden Gesetze gewertet, die das Parlament im Frühjahr 2003 verabschiedete. Sie sehen vor, dass die Machtbefugnisse des Präsidenten erweitert und die des Wächerrates beschnitten werden. Doch auch diese Gesetze wurden vom Wächterrat zurückgewiesen. Seither hat sich die ohnehin miserable Stimmung im Lande noch einmal massiv verschlechtert. Am 5. Juni 2002 hatte Ashraf Borujerdi, Staatssekretärin des Innenministeriums für soziale Fragen, das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage über die Einstellung der Bevölkerung zum islamischen Staat präsentiert. Nach dieser sind rund 90 Prozent der Bevölkerung mit der Islamischen Republik unzufrieden, von diesen wiederum sprechen sich 23Prozent für einen grundlegenden Wandel der Staatsordnung aus. 66,2 Prozent wollen einschneidende Reformen. 39,2 Prozent der Befragten sind der Meinung, in Iran werde das Recht missachtet, 49 Prozent vermissen individuelle und gesellschaftliche Rechtssicherheit, 32,5 Prozent geben an, keine Zukunftsperspektive zu haben. 6
Immer resignierter lesen sich auch die Stellungnahmen der Reformpolitiker: In einer von 148 Abgeordneten unterschriebenen Erklärung wurde im Juni 2003 in Anspielung auf Revolutionsführer Chamenei sein Anspruch, in Gottes Namen zu regieren und daher unfehlbar zu sein, als "Ketzerei" bezeichnet. Bereits einige Tage vor dem Ausbrechen der Studentenproteste vom 9. Juni 2003 hatten 135 Parlamentarier in einem Brief an den Revolutionsführer deutliche Kritik geübt. Sie beklagten, dass einige Gruppen seit Jahren versuchten, den Reformprozess zu stoppen, indem sie Mordattentate auf Regimekritiker verübten, Demonstrationen und Proteste niederschlügen, Zeitungen verbieten ließen und Intellektuelle und Journalisten inhaftierten. Die Verfassung werde vom Wächterrat willkürlich ausgelegt, er habe damit Parlament und Regierung praktisch ausgeschaltet, schreiben die Abgeordneten. Von ihren innenpolitischen Gegnern wurden die Unterzeichnenden daraufhin als "amerikanische Abgeordnete" denunziert; die kurz darauf ausbrechenden Studentenproteste legte man ihnen zur Last.
Diese Demonstrationen hatten in zweierlei Hinsicht eine neue Qualität: Erstmals forderten die Demonstranten auch den Rücktritt Chatamis. Verglichen damit waren die Proteste des Jahres 1999, als die Demonstranten noch das Bild des amtierenden Präsidenten in die Höhe hielten, erstaunlich regierungstreu. Heute meinen immer mehr Menschen, Chatami sei gescheitert und solle daraus die Konsequenzen ziehen. Neu war auch, dass bei den Demonstrationen vom Juni des vergangenen Jahres ganz offen die Abschaffung der "Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten", der Staatsdoktrin der Islamischen Republik, gefordert wurde. Genau das fordert auch Hossein Chomeini, der Enkel des Staatsgründers. Er würde sogar eine militärische Intervention der Amerikaner gutheißen, um das herrschende System zu beseitigen. Heute befürworten viele Iraner - zumindest die aus der Mittelschicht - die amerikanische Iranpolitik. Deutschland und die Europäische Union hingegen werden von vielen kritisiert, weil diese immer noch auf den Dialog setzen und auf Reformen von innen hoffen. Viele Menschen fragen sich, was der Dialog gebracht hat: Wir haben seit 1997 - seit wir Mohammad Chatami zum Präsidenten gewählt haben - durch unsere Teilnahme an den Wahlen und durch unser Votum belegt, dass wir Reformen wollen, dass wir allerdings zu warten bereit sind und uns auf einen Wandel auf friedlichem und damit wahrscheinlich langsamem Wege einlassen. Aber die Konservativen haben kein Einsehen, und deshalb ist die Politik der Amerikaner richtig. Druck von außen ist das Einzige, was uns jetzt noch helfen kann, sagen immer mehr Menschen.
Die überraschend unkritische Haltung gegenüber der amerikanischen Politik, auf die man häufig trifft, zeugt weniger von einer wirklichen Akzeptanz oder auch nur Kenntnis der US-Politik im Nahen Osten. Sie belegt nur, dass die Menschen müde sind. Und noch immer gibt es diejenigen, die - wie die diesjährige Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi - mahnen, dass es für Iran nicht gut wäre, wenn sich das System ausgerechnet auf Drängen und Betreiben der Amerikaner wandeln würde. Sie meinen, das müsste man schon selbst schaffen, gerade im Hinblick auf die eigene Geschichte und wegen des Selbstbewusstseins eines Volkes, das sich einst erfolgreich erhoben hat, um den Status einer Semi-Kolonie abzuschütteln. Die Voraussetzungen, es selbst zu schaffen, sind in Iran nicht ganz schlecht. Trotz aller Rückschläge im Reformprozess hat sich eine bewusste, politisch interessierte Öffentlichkeit herausgebildet. Es gibt erste, kleine Ansätze zivilgesellschaftlicher Organisationen und vor allem eine Gesellschaft, die Liberalisierung und Demokratie will. All das ist durchaus zukunftsträchtig: Genau deshalb hat das Nobelpreiskomitee eine wichtige Botschaft formuliert, als es Schirin Ebadi mit dem diesjährigen Friedensnobelpreis ausgezeichnet hat. Ebadi hat nie aufgehört, an die Möglichkeit der Reform von innen zu glauben - die Monarchisten unter der iranischen Exilopposition waren deshalb nicht erfreut über die Vergabe des Nobelpreises an Ebadi. Diese Kreise befürworten - im Gegensatz zu Ebadi - eine Intervention der USA, sei es militärisch oder durch ökonomischen Druck auf das Land. Dass Iran dann, wie Ebadi befürchtet, wieder zu einer Quasi-Kolonie werden könnte, schert die iranische Exilopposition in Amerika nicht. Doch weil Ebadi so denkt, lässt sie sich lieber auf den langsamen, beschwerlichen Kampf innerhalb des iranischen Systems ein. "Der Kampf muss im Innern eines Landes und einer Gesellschaft geführt werden. Jede fremde Einmischung erschwert dieses Ringen nur. Kein Staat hat das Recht, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen, und wäre es, um das Gute durchzusetzen. Meistens wird das Gegenteil dabei herauskommen." Ebadi ist überzeugt: Es wird sich etwas ändern, wenn viele den Wandel wollen. Sie meint, dass genau dies in Iran der Fall sei. Längerfristig könnten die Konservativen daher den Demokratisierungsprozess nicht aufhalten. "Ich denke, das Zeitalter der Revolutionen ist vorbei. Außerdem gibt es keine Garantie dafür, dass eine weitere Revolution uns etwas Besseres bringen würde als die von vor 25 Jahren. Nachdem ich das Phänomen Revolution lange Jahre beobachtet habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Revolutionen niemals versprechen, was sie halten. Was ich fordere, ist eine Reformbewegung, die alle Bereiche umfasst: das politische, soziale, kulturelle Leben und natürlich Menschenrechte. Das iranische Volk ist tief enttäuscht von der Islamischen Revolution. Während der Revolution und in dem Krieg mit Irak, der darauf folgte, hat eine unglaubliche Anzahl von Familien ihre Söhne und Männer verloren. Die Nation verlor ihre besten jungen Männer, und Millionen von Iranern wurden ins Exil gezwungen. Es wird noch Generationen dauern, bis wir uns von dem erholt haben, was uns die Revolution gekostet hat. Der einzige Weg hieraus ist die Reform mit friedlichen Mitteln. Chatami ist nicht der Einzige, der Reformen fordert, und nur weil seine Regierung gescheitert ist, heißt das nicht, dass die Reformbewegung gescheitert ist."
Die Reformregierung ist gescheitert, doch die Bewegung für Reformen ist es nicht. Das könnte eine Beschreibung der gegenwärtigen Situation in Iran sein. Beispielhaft dafür ist die Reaktion des Präsidenten auf die Verleihung des Preises an Ebadi und die Folgen. Dem Präsidenten, der gerade in den vergangenen Monaten viel an Ansehen eingebüßt hat, ist seine Reaktion auf den Friedenspreis teuer zu stehen gekommen. Chatami hatte die Verleihung an Ebadi zwar begrüßt, die Bedeutung des Friedensnobelpreises aber gleichzeitig heruntergespielt: "Eine rein politische Entscheidung. Ein Friedensnobelpreis ist nicht viel wert, im Gegensatz zum Literatur- und Medizinnobelpreis." Schahla Lahidschi, eine gute Freundin Ebadis, kommentierte Chatamis Äußerung mit denWorten: "Chatami hat in den letzten Monaten viele Fehler gemacht, aber das war sein schwerwiegendster."
Wie sehr die Verleihung des Preises an Ebadi die iranische Gesellschaft aufwühlt, zeigt nicht nur die merkwürdige Reaktion Chatamis, sondern vor allem die der Konservativen. Die von ihnen kontrollierten staatlichen Medien hatten am 10. Oktober 2003, als die Vergabe bekannt wurde, nur zögerlich berichtet. Erst Stunden nach der Bekanntgabe sah man sich zu einer kleinen Meldung in den Nachrichten veranlasst. "Ebadi bekommt Friedenspreis" hieß es dort lapidar. Auch am nächsten Tag berichteten die Zeitungen der Konservativen kaum, die fundamentalistische Sijasat-eruz nahm lieber einen Bericht über die Entdeckung eines Friedhofs aus der Eisenzeit in Spanien auf die Titelseite. Ali Jussefpur, Leiter der Gruppierung der so genannten islamischen Journalisten, kommentierte: "In den letzten Jahren waren wir Zeugen, dass dieser Preis auch an Sadat und Carter vergeben wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass diesen Preis nur Personen bekommen, die im Interesse des Westens arbeiten oder gegen die islamischen Prinzipien." Schärfer noch wurde Asadollah Badamtschian, der Direktor der einflussreichen Organisation Dschamijat-e Motalefe-ye Eslami: "Wenn ein wissenschaftlicher Preis einem Menschen wegen seiner Dienste an der Menschheit zukommt, ist es lobenswert, wenn aber ein Preis dazu dienen sollte, den Interessen des Kolonialismus und der verdorbenen Welt zu dienen, ist es ein Zeichen der Schande. Es ist natürlich, dass der Friedensnobelpreis an eine Frau vergeben wird, die sich Reformerin nennt und von Powell, Bush und den Führern der Weltarroganz unterstützt wird."
Eine solche Reaktion war zu erwarten gewesen. Ebadi setzt sich für alle die Forderungen ein, deren Erfüllung die Konservativen dem iranischen Volk vorenthalten wollen wie Demokratie, Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Frau. Jetzt ist sie zur Hoffnungsträgerin geworden in diesem Kampf der Reformer gegen die Konservativen. Schirin Ebadi ist eine der exponiertesten Kämpferinnen im Kampf Irans um eine andere Zukunft. Die einzige allerdings ist sie nicht. Es hätten sicher auch andere iranische Intellektuelle und Frauenrechtlerinnen mit dem Preis ausgezeichnet werden können. Viele, die heute in Iran für Reformen kämpfen, sind Ebadi ebenbürtig in ihrem Engagement und ihrem Mut.
Doch indem das Nobelkomitee Ebadi ehrte, zollt es der gesamten gesellschaftlichen Bewegung und allen, die kämpfen, die im Gefängnis sitzen oder ihr Leben gelassen haben für den Wandel, Achtung und Respekt. Das war die Absicht des Komitees. Und genauso hat Ebadi es verstanden, als sie erklärte, sie werde den Preis stellvertretend für alle anderen annehmen. Sie, die den Aufbruch der iranischen Gesellschaft, der sich nicht immer politisch äußern muss, um politisch zu sein, in mehrfacher Hinsicht verkörpert: als engagierte Frau, aber vor allem als Juristin, als Anwältin, die dort kämpft, wo die Islamische Republik ihre dunkelste, ihre archaischste Seite hat, im Bereich des Rechts.
Viele Iraner hoffen, der Preis könnte der iranischen Reformbewegung, die in den vergangenen Monaten so stark ins Hintertreffen geraten ist, noch einmal Auftrieb geben. Politische und soziale Bewegungen brauchen Symbole. Und Ebadi könnte zur Symbolfigur einer Bewegung werden, die den Präsidenten und seine Mitstreiter weit übertrifft. Die Reformer in der Politik sind fast am Ende. Sie können nichts gegen die beharrenden Kräfte ausrichten, welche sich um den Revolutionsführer im Wächterrat, in der Justiz, im Sicherheitsapparat und in der Wirtschaft konzentriert haben. In dieser Situation, da die Reformer in Regierung und Parlament bereits Zeichen ihrer Resignation aussenden, hat das Nobelpreiskomitee eine Frau gewürdigt, welche die gesellschaftliche Reformbewegung verkörpert. Ebadi steht für diese Bewegung, die längst alle Bereiche der iranischen Gesellschaft erfasst hat und deshalb unumkehrbar ist, auch wenn die Reformer in der Politk scheitern sollten.
1
'Süddeutsche Zeitung vom 17./18. 1. 1998.'
2 'Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
31. 1. 1998.'
3 'Vgl. Interview der Autorin mit S.
Sherkat in Teheran vom 19. 7. 1997.'
4 'Vgl. Islamic Republic News Agency vom
15. 6. 2001.'
5 'Vgl. IRNA vom 12. 5. 2000.'
6 'Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung
(Hrsg.), Iran-Report, Nr. 5/2002, S. 3.'