Mehr als 20 Autoren beschreiben Konflikte, Niederlagen und Erfolge der deutschen Arbeiterbewegung von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Da es ohne Herkunft keine Zukunft gibt, ist Ziel des Buches, verdrängte und verloren gegangene Erinnerungen wiederzubeleben und zu zeigen, wie man aus historischen Fehlern lernen kann. Obwohl die Herausgeber in ihrem Vorwort vergessen haben, die 23 Beiträge aufeinander abzustimmen, sind sie alle überaus lesenswert und belegen, welch immense Bedeutung den verschiedenen sozialistischen Strömungen in der Vergangenheit zukommt.
Historisch stand die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung immer im Konflikt mit den Herrschenden in Wirtschaft und Politik, litt aber gleichzeitig häufig unter eigenen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen. Es ist den Autoren hoch anzurechnen, dass diese Momente offen ausgesprochen werden.
In den beiden ersten Kapiteln wird dem Verhältnis von Arbeiterbewegung und Bürgertum in der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus ausführlich nachgegangen, exemplarisch belegt durch Schilderungen der Ereignisse in Hamburg, Nürnberg, Bremen, Bielefeld, Eutin und Osterode.
Dabei bleibt nicht ausgespart, wie in entscheidenden historischen Momenten die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Eliten versagten. 1914, bei der Bewilligung der Kriegskredite, war man nicht frei von patriotischer Begeisterung, und Anfang der 30er-Jahre fehlte es an Entschlossenheit, die Republik gegen rechts zu verteidigen, zumal die Arbeiterbewegung, durch ideologische Gegensätze gespalten, zu keinem ernsthaften Widerstand fand.
Inhaltliche Differenzen bestanden innerhalb der sozialistischen Parteien wie unter den Gewerkschaften auch nach 1945. Strömungen außerhalb des DGB, die so genannte "andere" Arbeiterbewegung, liefen ins Leere, da der hochqualifizierte Facharbeiter andere Interessen hatte als der angelernte "Massenarbeiter" und da sich die Gewerkschaften vor allem darauf konzentrierten, ihrer Klientel einen möglichst großen Anteil vom Sozialprodukt zu sichern. So wurde versäumt, in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität ein überzeugendes antikapitalistisches Gegenmodell zu entwerfen.
Daran mangelt es nun in Zeiten des neoliberalen Umbruchs. Die Autoren des letzten und sicherlich wichtigsten Kapitels widmen sich vorrangig der Frage, wie dem drohenden Ab- und Rückbau des Sozialstaates seitens der Gewerkschaften zu begegnen sei. Da sich der traditionelle Bündnispartner, die Sozialdemokratie, anschicke, das Paritätsprinzip zur Finanzierung des Sozialstaates aufzugeben und die abhängig Beschäftigten allein zur Kasse zu bitten, müssten die Gewerkschaften nach neuen Allianzen Ausschau halten, etwa bei den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, bei der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung und gegebenenfalls bei den "sozialdemokratischen Flügeln in der Union".
Erforderlich sei dann aber vor allem eine neue, langfristig ausgerichtete Konzeption, die den "Opfern" der Globalisierung Schutz bietet und die schreienden Ungerechtigkeiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung energisch bekämpft. Dem "kalten Wind des Kapitalismus", der "in alle Poren der Gesellschaft" eindringe und sich die Politik unterordne, könne nur widerstanden werden, so Detlef Hensche in einem Fazit, wenn "Erkenntnisse der eigenen Vergangenheit" mobilisiert werden. Der vorliegende Sammelband ist dazu mehr als ein Anfang.
Arno Klönne/Karl A. Otto/Karl Heinz Roth (Hrsg.)
Fluchtpunkte.
Das soziale Gedächtnis der Arbeiterbewegung.
VSA-Verlag, Hamburg 2003; 313 S., 20,40 Euro