Alles verändert sich, aber die Menschen brauchen etwas, an das sie glauben, an dem sie festhalten können. Die Frage nach dem, was uns wirklich etwas wert ist, eröffnet einen Blick auf den gesellschaftlichen Wandel von Leitvorstellungen und materiellen wie immateriellen Wünschen. Beides hängt eng zusammen. Ständig müssen wir entscheiden, wofür wir unser Geld ausgeben, Kraft, Aufmerksamkeit oder Zeit verwenden. In dem Maß, wie sich Konsum verändert, verändern sich die Werte.
Selbstverständlich gibt es in unserer Gesellschaft Grundwerte, die für alle verbindlich sind. Doch inwieweit gibt es in einer pluralen Gesellschaft Wertmaßstäbe, die eine Gesellschaft darüber hinaus zusammen halten?
Der Einkauf im Supermarkt kann ein politischer Akt sein - und das nicht nur, wenn der Verbraucher bewusst auf bestimmte Produkte setzt. Denn auch Gleichgültigkeit hat politische Folgen. Gleichzeitig verändern sich die Produkte ständig, die wir brauchen, oder die wir meinen zu brauchen. Haben wir mehr Geld zur Verfügung, werden einige Dinge scheinbar sinnstiftend, auf die andere Menschen gut und gerne verzichten können und müssen.
Aber Konsum reduziert sich nicht nur auf diesen vordergründigen, unmittelbaren Sinn: In Zeiten der wirtschaftlichen Stagnation und des demographischen Wandels entsteht langfristig ein volkswirtschaftliches Dilemma: Einerseits lebt die Wirtschaft vom Konsum. Auf der anderen Seite engt Konsum ohne Regeln die Lebenschancen künftiger Generationen ein. Wenn Konsumieren die Konjunktur fördert, welches Maß an Konsumieren ist dann sowohl ökonomisch als auch individuell wünschenswert? Und wenn der Wert des Wachstums in Zukunft allenfalls als Nullsummenspiel stattfinden wird, durch welche gesellschaftliche Leitvorstellung kann er ersetzt werden? Kann Wachstum durch die Freuden des Verzichts ersetzt werden? Und wer soll auf was verzichten?
Viele Menschen sind nicht mehr aufgehoben in einem Glauben, in der Überzeugung, dass eine geistige Kraft über die individuelle Existenz des Menschen wirkt. Die Gesellschaft ist orientierungsloser, bisweilen hedonistischer geworden. Immer stärker neigen wir dazu, religiöse Traditionen und Formen bei Hochzeiten und Beerdigungen wie eine Dienstleistung zu konsumieren. Die Kirchen beklagen einen Rückgang der Mitglieder, gleichzeitig finden spirituelle Formen Zulauf, die nicht aus unserem Kulturkreis stammen.
Werte und Maßstäbe, nach denen wir handeln und die wir für wünschenswert halten, sind nicht absolut. Je nach den Lebensumständen verändern sie sich. In der Phase des Aktienbooms gehörte es zum guten Ton, dem "richtigen" Stil mehr Wert beizumessen als den wärmenden Worten eines alten Freundes. Die Frage nach der Familie, nach Bindung erfährt zumindest bei jungen Menschen neuerdings eine Renaissance - allerdings entgegen der Tatsache, dass die Zahl der Singlehaushalte in der Bundesrepublik ständig steigt.
Ob der Wunsch nach Bindung Realität wird, ist nicht ausgemacht. Bindung bedarf schließlich auch des Wahrnehmens und des Annehmens des Anderen. Dennoch werden die Fragen danach, wie Leben aussehen soll, nachdenklicher gestellt als noch vor wenigen Jahren. Die größere Arbeitslosigkeit, der globale Terror und die wachsende Vereinzelung der Menschen haben hedonistische Leitbilder zurückgedrängt.
Wie aber den Mangel gerecht verteilen? Wie für künftige Generationen vorsorgen? Es sind die alten Sinnfragen, die neu gestellt werden. Gibt es einen neuen Ernst, gibt es den Willen zu mehr Verantwortung? Wer sich mit diesen Fragen nicht auseinander setzen will, kann auch keine Vorstellungen von Zukunft entwickeln.
Annette Rollmann ist freie Journalistin in Berlin.