Italo Svevo, ein über Jahrzehnte verkannter Schriftsteller, beschreibt in einem seiner im Triester Kaufmannsmilieu der untergehenden österreich-ungarischen Monarchie spielenden Romane eine eher beiläufige Szene, deren Symbolik erst heute ihre volle Ausdruckskraft erlangt: In einem Handelsbüro taucht im Rahmen einer Modernisierung der Geschäftsräume ein überraschendes Problem auf. Niemand weiß, wohin ein Schild gehört, auf dem "Privat" steht. Keiner kann sagen, wo es noch gebraucht werden könnte. Das Private, so die Botschaft Svevos, ist nicht mehr länger lokalisierbar, es hat seinen Ort verloren. Jene Ratlosigkeit, vor der die Büroangestellten bereits vor 100 Jahren bei ihren Aufräumungsarbeiten standen, beschreibt eine Situation, die in den derzeitigen postmodernen Zeiten zum Dauerzustand wird.
Die Zeit hat ihren Ort und der Ort hat seine Zeit verloren. Rund um die Uhr und beinahe an jedem Ort können wir heute einkaufen und verkaufen. Demnächst wird es möglich sein, je nach Bedarf, und das heißt nichts anderes als unabhängig von aller Uhrzeit, die spontan gewünschten Programmangebote im Fernsehen abzurufen. Ähnliche Tendenzen kann man bei Verabredungen feststellen. Sie werden neuerdings relativ kurzfristig und damit potenziell zu jeder Zeit getroffen und verwirklicht. Das Mobiltelefon macht's möglich: "Ich komm gleich mal vorbei. Schön, dass Du da bist!"
Die Zeiten ändern sich, und mit ihnen der Alltag des Lebens. Zumindest gilt dies für Herrn Dr. Habermann - und diese Habermanns vermehren sich rapide: Wie vereinbart, kommt Herr Dr. Habermann jeden Freitag um 14 Uhr in die Beratung von Frau Dr. Wedekind. Heute jedoch verspätet er sich. Frau Dr. Wedekind wartet also auf ihren Klienten. Um 14.10 Uhr erhält sie einen Anruf von ihm: "Entschuldigen Sie bitte, Frau Dr. Wedekind, ich kann heute nicht pünktlich bei Ihnen sein, da ich in einem Verkehrsstau stecke. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir ja mit der Beratung schon mal anfangen."
Orte und Zeiten werden flexibler. Das gilt sowohl für Berater und Beraterinnen als auch für deren Klienten. Die ehemals starren Regime von Ort und Zeit stehen nicht nur für diese, sondern auch für alle anderen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Disposition. Beratung etwa kann neuerdings überall stattfinden, nicht nur in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten und nicht nur zu den vereinbarten Zeiten. Für viele tausend andere Aktivitäten gilt dies ebenso. Die Entgrenzung von Raum und Zeit beherrscht die Dynamik der Lebensverhältnisse. Das gilt auch im ursprünglichen Wortsinn. Ohne den Fuß vom Gaspedal nehmen zu müssen, können heute die Staatsgrenzen der EU passiert werden. Weitgehend entortet ist zudem das, was man kauft, was man isst, trinkt und auch vieles von dem, was erfahren und erlebt wird. Das orts- und das zeitgebunden Spezifische "verkommt" hingegen zunehmend zur Folklore.
Die Entgrenzung des Örtlichen und des Zeitlichen verändert das Angebot aber auch inhaltlich in fundamentaler Art und Weise. Tankstellen, ehemals begrenzt auf den Verkauf von Kraftstoffen und Dienstleistungen der Autopflege, tätigen einen Großteil ihres Umsatzes inzwischen mit Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des täglichen Bedarfs. Folge ist, dass Tankwarte inzwischen mehr Brötchen backen als die dafür ausgebildeten Bäcker. In Einzelhandelsgeschäften kann man neuerdings Kraftfahrzeuge, Autozubehör und manchmal sogar Immobilien erwerben, im Stehkaffee Versicherungspolicen, Goldschmuck und Gartenmöbel. Ferienreisen beschränken sich nur mehr in wenigen Ausnahmefällen auf die Befriedigung eines einzigen Bedürfnisses. Die Reisebüros berichten, ihre Kunden bevorzugen derzeit eine Kompaktkombination von Kultur, Erholung, Bildung und Unterhaltung. Eine solche Vergleichzeitigung der "Unordnung" ist es, welche die höchsten Wachstumsraten beim Umsatz sowie bei Käufern und Verkäufern die attraktivsten materiellen und immateriellen Profite verspricht. Das endlose Glück auf Zeit hat seinen Preis.
Zeitliche und örtliche Entgrenzung geschieht überall. Ganz besonders aber lässt sie sich an den Verkehrsknotenpunkten dieser Welt beobachten, an den Rast- und Tankstellen, den Bahnhöfen und den Airports. Hier entstehen die großen Einkaufs-, Unterhaltungs-, Vergnügungs- und Begegnungszentren. Die Tore zur Welt werden selbst zur Welt, und stellen sich doch bei ihrer offerierten Entscheidungsvielfalt nicht selten als äußerst einfältig dar: an jedem Ort, zu jeder Zeit, die gleich sterile Vielfalt. Nicht nur am Münchner Flughafen können sich Hungrige zwischen Noodle-Bar, Sushi-Tresen, Thai-Food und lokal entgrenztem Hofbräuhaus entscheiden. Eine fast identische Ansammlung von Imbissbuden der gehobenen Klasse mit entsprechend gehobenen Preisen ist weltweit dort anzutreffen, wo sich eilige Menschen auf ihren Transport vorbereiten.
Es sind in allererster Linie die in diese flexible Gesellschaft hineinwachsenden jungen Menschen, die nicht auf die Vorteile entgrenzter Orte und Zeiten verzichten wollen. Mit Hilfe des Entgrenzungsinstrumentes "Walkman" können sie beispielsweise jederzeit und überall in die Welt von Bibi Blocksberg, Momo oder Madonna eintauchen. Etwa 80 Prozent aller 6- bis 13-jährigen Deutschen besitzen heute ein solches zeit- und ortsunabhängiges Illusionsgerät. Dazu noch viele andere; und täglich kommen neue dazu.
Der englische Soziologe Anthony Giddens verlieh dieser Tendenz das Charakteristikum der "Entbettung". Er beschreibt damit das "Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannungen übergreifende Umstrukturierung" 1 . Das führt, so Giddens, schließlich zu jenem Phänomen, das heute gerne "Globalisierung" genannt wird. Sie stellt sich als eine "Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen dar, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt." 2 Die israelische Post hat diese Gidden'sche Erkenntnis in ein Dienstleistungsangebot transferiert und bietet konsequenterweise an, per E-Mail nach Jerusalem versandte Gebete auszudrucken, um diese dann von Angestellten zwischen die Steine der Klagemauer stecken zu lassen.
Weniger denn je werden Räume und Zeiten über Grenzen markiert. Die Medien- und die Informationstechnologie und deren rasante Verbreitung haben diese verflüssigt, entmaterialisiert und virtualisiert. Der Raum wird tendenziell "getötet" - eine Formulierung, die Heinrich Heine anlässlich seiner Beschreibung der inzwischen mehr als 150 Jahre zurückliegenden Eröffnung der Eisenbahnlinie von Paris nach Rouen bereits zur Beschreibung seiner Beschleunigungserfahrungen verwendete.
Grenzüberschreitungen sind zu einer wichtigen ökonomischen Produktivkraft geworden. Man kann sich ihnen nur mehr mit viel Aufwand und hohem Energieeinsatz entziehen. Gegebenenfalls auch gegen ihren Willen müssen alle mitmachen. Die Orte des sozialen Lebenszusammenhanges verlieren durch diesen Prozess zunehmend ihre Privatheit, maßgeblich noch unterstützt durch die Installation von Apparaturen, die mit Lichtgeschwindigkeit den Anschluss an das jeweils aktuelle Weltgeschehen herstellen. Auch sind die Fabrik, das Büro, der Arbeitsplatz nicht mehr länger jene Orte, an denen sich die Arbeit in exklusiver Art und Weise konzentriert. Dies gilt insbesondere in Bereichen, wo Informationen und Daten bearbeitet werden. Die traditionellen Trennlinien, die Abgrenzungen von Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen Privatem und Öffentlichem, sie werden porös. Ein orts- und zeitloses Netzwerk tritt an deren Stelle. Mit Computer, Fernseher, Telefax, Mobiltelefon, Laptop und anderen Geräten mehr wird der Abschied vom Privatleben eingeleitet und vorangetrieben. So fanden noch bis vor nicht langer Zeit Telefongespräche in abgeschlossenen Räumen und Zellen statt, die der Privatheit Schutz boten. Die passive Teilnahme an der jeweiligen fernmündlichen Unterhaltung galt noch vor kurzem als grobe Verletzung der Intimsphäre. Das hat sich seit der Verbreitung des Mobiltelefons gründlich geändert. Intimste Details aus dem Privatleben und unterschiedlichste Geschäftsgeheimnisse werden heute ohne große Zurückhaltung in Anwesenheit völlig fremder Menschen preisgegeben. Selbst die Toiletten gelten nicht länger mehr als jene Orte, an denen man nicht zu sprechen ist. "Das Wohnzimmer gehört uns", proklamiert der niederländische Philips-Konzern mit imperialer Geste - und dabei wird es nicht bleiben. Der Kampf ums "stille Örtchen" hat schon begonnen. "Das Internet ist so sehr zum Bestandteil des Alltagslebens geworden, dass das Surfen auf dem Klo der nächste natürliche Schritt ist. Die Menschen haben bislang nach einem Buch oder einer Zeitschrift gegriffen, wenn sie auf dem Klo waren, jetzt werden sie sich einloggen", meint Tracy Blacher von MSN. "Es ist spannend, wenn man daran denkt, dass der kleinste Raum jetzt zu einem Gateway in die riesige virtuelle Welt werden kann." 3
Die "Privat"-Wohnung hat sich zu einem konflikt- und entscheidungsreichen Spannungsfeld zwischen globalem Raum und konkretem Ort des sozialen Lebens gewandelt. Geschäfte werden, nicht immer zur Freude anwesender Familienmitglieder, jederzeit vom Wohnzimmer aus getätigt. Die Arbeit wird nicht selten mit nach Hause genommen oder kommt auf elektronischem Weg aus dem Büro. Für einen zunehmend größer werdenden Teil der Bürobeschäftigten ist dies inzwischen Realität. Die Statistiken zeigen, dass jeder/jede Dritte diese Art der Entgrenzung praktiziert. Zahlen aus Amerika belegen, dass 23 Prozent der dortigen Internet-Nutzer am Wochenende zu Hause ihre berufsbezogenen Mails lesen und 42 Prozent dies sogar in ihrem Urlaub tun.
Die Wohnung wird jedoch nicht nur zur Arbeitsstätte, sondern darüber hinaus auch zum Depot für Informationen und Nachrichten. Mittels Fernabfrage sind die eigenen vier Wände auch von außerhalb zu allen Zeiten zugänglich. Die in Deutschland grundgesetzlich als privater Raum geschützte Wohnung öffnet sich zur Welt. "Stärken Sie Ihren Internet-Browser und schon stehen Sie mit der ganzen Welt in Verbindung", verspricht Microsoft - und nicht wenige folgen solcher Aufforderung. Die Auswirkungen dieser Entwicklung aber stellen sich im Hinblick auf die Lebensqualität keineswegs als "neutral" dar. Sie belasten die Subjekte mit der Notwendigkeit, eine bisher nicht gekannte Koordinationsakrobatik von unterschiedlichen Zeitansprüchen auszuüben. Daher auch mehrt sich die Zahl der skeptischen Beobachter. Sie sprechen u.a. vom "Ende des Sozialen" und warnen darüber hinaus von absehbaren und unabsehbaren Folgen, die "Nebenfolgen" zu nennen fahrlässig wäre.
Ist die Wohnung erst einmal multimedial hochgerüstet, entgrenzt sie sich nicht nur lokal, sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Von den ISDN- und UMTS-Umgebungen gehen keine zeitlichen Strukturierungsangebote für die alltägliche Lebensführung mehr aus. Diese Technologien folgen nicht mehr den Ordnungsprinzipien traditioneller, sozialer und/oder biologischer Rhythmen und auch nicht jenen Takten, welche die Uhr vorgibt. Wer sich für das "komplette Büro in der Handtasche" entscheidet, kennt weder Feierabend noch Wochenende, hat die alltagskulturelle Verankerung der Trennung von Arbeit und Freizeit für sich aufgelöst. Rund um die Uhr ist die Erreichbarkeit gesichert, zumindest auf der Mailbox, durchs Faxgerät oder per E-Mail. Nicht mehr länger wird das soziale Leben durch örtlich spezifische Zeitgestalten geprägt. Immer mehr sind es die Zeitbedarfe externer und entgrenzter Kommunikationspartner, welche die Privatheit der eigenen vier Wände einer Dauerpräsenz ausliefern. Das Telefon, insbesondere dessen mobile Variante, übt eine extensive Form der Zeitherrschaft aus, da es die Anrufer sind, die ihre Zeit den Angerufenen jeweils aufzwingen. Letztere rennen fix zum Telefon oder suchen hektisch in ihren Kleidungsstücken nach ihm, wenn sie die ihnen vertrauten Klingeltöne hören. Das Telefon ist ein "unwiderstehlicher Eindringling" (McLuhan). Von "neuer Freiheit" kann dabei nur sehr eingeschränkt gesprochen werden.
Die zweifelsohne mit den elektronischen Medien auch einhergehende Erweiterung von neuen Handlungsfreiheiten und bisher unbekannten Wahlmöglichkeiten hat ihren Preis. Bezahlt wird er u.a. mit der zunehmenden Eliminierung des Privaten und dem Verlust von sozialer Rhythmik, Kontinuität und gemeinschaftsstabilisierendem Zusammenhalt.
Das Beharrungspotenzial, das in der Regelmäßigkeit und der Berechenbarkeit von sozialer und aufgabenorientierter Zeitorganisation verankert war und ist, geht mit wachsender Entgrenzung verloren. Es steigt die Anzahl kurzfristiger Dispositionen. Der Druck zum permanenten Zeitmanagement nimmt zu. Der Aufwand an zusätzlichen Orientierungsleistungen und an dauerhaften Strukturierungs- und Koordinationsaufgaben wird größer. Zwar lässt sich dieser wiederum mittels neuer Technologien teilweise abfedern, zu einem immer größer werdenden Teil muss er dennoch von den Gruppen- und Familienmitgliedern selbst erbracht werden. So nimmt der Alltag, auch jener, der sich zu Hause abspielt, zunehmend die Merkmale von Arbeit an. Dies mit dem Effekt, dass sich schließlich auch Arbeit und Freizeit entgrenzen und vermischen. Eine solche Entwicklung wiederum betrifft dann nicht mehr nur die Angestellten und Kunden der Westdeutschen Landesbank, die uns alle wissen lässt: "Bei uns hat der Arbeitstag 24 Stunden. Und fünf Kontinente."
Als Trendsetter der Entgrenzung fungieren die Medien. Radio und Fernsehen haben bereits vor einiger Zeit ihre ehemals tagesrhythmische Struktur zugunsten eines 24-Stunden- Programms aufgegeben. Eine solche Entwicklung steht auch anderen Institutionen bevor. Alles was systematisch, speziell in Form von Stundenplänen, organisiert ist, steht unter Flexibilisierungsdruck. Das wird schließlich sogar auch an der Schule, einer Institution, die bisher für ihre Inflexibilität berüchtigt war, nicht spurlos vorübergehen. In schweizerischen Volksschulen beispielsweise ist der (Binnen-) Stundenplan inzwischen weitgehend abgeschafft. Die Fächer entgrenzen sich. In der beruflichen Aus- und Weiterbildung lassen sich in Deutschland ähnliche Entwicklungen beobachten. Dort wird neuerdings das "Lehrgangsprinzip" durch das so genannte "modulare Organisationsprinzip" ersetzt. Hiervon verspricht man sich erheblich mehr Flexibilität, sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht. Politisch erhält diese Tendenz starken Rückenwind, zumal die parlamentarischen Gestaltungsmehrheiten inzwischen auch andere traditionelle gesellschaftliche Zeitstrukturen, wie etwa Ladenöffnungszeiten, Wochenend- und Saisonregelungen, als abzubauende "Fortschrittsbremsen" identifiziert haben. In Konsequenz dieser Reformen wurden jüngst auch die zeitlichen Regelungen von Sommer- und Winterschlussverkäufen aufgehoben. Der Ausverkauf findet neuerdings das ganze Jahr über statt - und selbstverständlich überall. Nicht ganz auszuschließen ist, dass sich die Politik bei diesem Trend selbst nicht ausnimmt und vieles von dem zum Ausverkauf anbietet, was sie ehedem als ihre eigene Aufgabe verstand.
Vom Naturrhythmus "befreit" sind immer häufiger auch unsere individuellen Entscheidungen, so etwa beim Einkauf jener Nahrungsmittel, die wir zum Essen benötigen. Das entsprechende Angebot ist in den Supermärkten bereits seit längerem nicht mehr saisonal geprägt, mit der Folge, dass den Verbrauchern die lokalen Wachstums- und die Erntezyklen der Früchte und des Gemüses inzwischen weitgehend unbekannt sind. Die letzten Areale "naturbelassener Zeiten" in der Gesellschaft werden gerodet. Der beschleunigte globalisierte Transport macht alle jahreszeitlichen Einschränkungen überflüssig (die jedoch aus ökologischen Gründen weiterhin durchaus sinnvoll wären). Ähnliche Entgrenzungsstrategien erleben wir auch im Alltag, zum Beispiel bei Entscheidungen über die Urlaubsgestaltung. Mehrere, übers Jahr verteilte so genannte "Kurzurlaube" lösen den für die Industriemoderne typischen längeren Sommerurlaub ab. Die beschleunigten Transportmöglichkeiten, speziell die des Flugzeuges, machen darüber hinaus all jene Personen, die über genügend Kaufkraft verfügen, vom saisonalen Wetter unabhängig. Vergleichbares gilt übrigens für Mieter von Strandkörben, die neuerdings mit Internetanschluss ausgerüstet werden - sie werden in örtlicher Hinsicht "befreit". Nicht nur Gewohnheiten und Traditionen veralten bei dieser Entwicklung rapide, sondern auch Gefühle - zumindest das des Fernwehs ist heute kaum mehr bekannt. Netze haben kein Zuhause - und deshalb auch fühlen sich immer mehr Menschen dort beheimatet, wo sie ihre Mails jeweils lesen. Damit hat die Vorstellung von einem ortsfixierten Zuhause ausgedient.
"Deregulierung" nennt sich dieses Programm, mit dem immer mehr Entscheidungen über Zeit und Ort auf Einzelpersonen übertragen werden. Dieser Prozess verändert die gesellschaftliche und die soziale Ordnung in grundlegender Art und Weise. Die Konsequenzen für die sozialen Systeme, ebenso wie jene für die Individuen und deren Lebensvollzug, dürften gravierend sein. Am Wegesrand dieses neuen Fortschritts werden all jene zurückgelassen, die zu langsam sind, und auch diejenigen, die sich nicht "vernetzen" lassen. Realistisch einschätzbar sind die Folgen derzeit noch nicht. Mit den vielen Risiken gilt es daher vorerst zu leben. So bleibt nur, sie wenigstens anzudeuten.
"Selbstbedienung" ist das flächendeckend anzutreffende Handlungsmodell der Postmoderne - speziell gegenüber der Zeit und deren Maßen. Die Einzelnen werden mehr oder weniger gezwungen, ihre je eigene Zeit und deren Ordnung täglich neu zu "erfinden". Dies lässt sich zweifelsohne als ein Gewinn von zusätzlicher Zeitsouveränität interpretieren. Der Preis dafür besteht jedoch in der Nötigung, allzeit zeitsouverän sein zu müssen, auch wenn man dies nicht kann oder nicht will. Das aber schränkt die Zeitsouveränität wieder ein. Heute existieren immer weniger gesicherte Grundlagen der Zeitordnung, und wenn überhaupt, dann bestehen sie nur kurzfristig. Es gibt keine sozial festgelegte "richtige" und auch keine "falsche" Zeit mehr. Die Individuen können und müssen, je nach Situation, selbst bestimmen, welche Zeit für sie jeweils richtig und welche falsch, welche wichtig oder unwichtig ist. Damit aber übernehmen sie auch die Konsequenzen für die jeweils selbst hergestellte Zeitordnung. Neben einem erfreulichen Zuwachs an Entscheidungsfreiheit führt dies tendenziell zu größeren und umfangreicheren Zeitkonflikten, zu mehr Unsicherheiten und zum Anwachsen des zeitlichen Orientierungsbedarfs. Dies wiederum hat den Effekt, dass man immer mehr Zeit für die Zeit benötigt, sich der Zeitdruck also spürbar weiter erhöhen wird - trotz und wegen der vielen neuen Zeitspargeräte.
Durch die Individualisierung der Zeitordnungen wächst die Vielfalt neuer Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeiten. Diese lassen sich durch das systematische Ausschöpfen der Beschleunigungspotenziale des Individualverkehrs - das Auto sieht nach dem inzwischen massenhaft genutzten Zugang zum Internet ziemlich alt aus - weiter erhöhen. Aber jeder Stau, jede Unterbrechung, jede Störung bringt uns in unserem zeitlich "ausoptimierten" Alltag in neue, aufwändige Zeitkonflikte. Flughäfen, die hektischen Marktplätze der Postmoderne, sind dafür die geeignetsten Beobachtungsobjekte. Nirgends wird häufiger gewartet, herumgestanden, aber nirgendwo wird auch mehr gehetzt und gehastet als an diesen flüchtigen Orten. Nirgends auch wird deutlicher, wie mobilitätsbedingte Zeitgewinne in Zeitverluste umschlagen und wie die Schnelligkeit den Druck auf die Beschleunigung von Anschlusshandlungen erhöht.
Symptomatisch dafür ist der hektische Manager, der, von einem 14-tägigen Meditationskurs aus einem nepalesischen Kloster kommend, das Bodenpersonal wegen eines verpassten Anschlussfluges erregt beschimpft. Das Gefühl, etwas zu versäumen, steigt mit zunehmender Wahlfreiheit und mit den größer werdenden Wahlmöglichkeiten. Immer mehr findet gleichzeitig statt und auch immer mehr zu einem Zeitpunkt, an dem man schon etwas anderes vorhat. "Zeit haben" heißt unter diesen Bedingungen, immer zu wenig Zeit zu haben. Die Möglichkeiten, die wir uns zusammenrasen, sind, so gesehen, immer auch erhetzte, zeitraubende Entscheidungsprobleme. So werden wir zunehmend häufiger Opfer unserer eigenen Zeitfreiheit. Nicht mehr die Zeit, unsere Zeitfreiheit beherrscht unser Leben.
Als Unternehmer unserer eigenen Lebenszeit sind wir dazu verurteilt, diese ohne Unterlass zu organisieren, zu optimieren und zu kontrollieren. Das ist aufwändig, das kostet Zeit, meist jene Zeit, die nicht in Geld verrechnet werden kann. Auch die reichhaltige Güterausstattung, die wir uns durch eifriges Zeitsparen erarbeitet haben - sie benötigt viel Zeit. Man braucht sie sowohl für deren fachgerechten Gebrauch, ihre Wartung und schließlich auch für die Entsorgung. Allein die Trennung der unterschiedlichen Abfallsorten gelingt kaum mehr ohne systematischen Lernprozess im Hinblick auf ein erfolgreiches Trennungsmanagement, und wenn man dann die unterschiedlichen Müllabholtermine mit den anderen unabdingbaren Tätigkeiten des Alltags in Einklang gebracht hat, erfährt man, wie anstrengend und zeitraubend der heutige Zeitkoordinationsaufwand ist. Familien mit halbwüchsigen Kindern und einem verkabelten Fernsehapparat mit 48 Programmen stellen zweifelsohne die geeignetsten Studienobjekte für Belastungsanalysen postmoderner Zeitkoordination dar. Sie erleben den belastenden Widerspruch zwischen dem Glück, das ihnen durch die vielen Möglichkeiten offeriert wird, und ihrem eigenen Unglücklichsein, wenn sie diese Möglichkeiten nutzen wollen. Sie erfahren, wie der Kauf eines Fernsehgerätes die Zeit des In-die-Ferne-Sehens beschränkt, weil die Zeit damit zugebracht werden muss, das Nahe auf die Reihe zu bringen. Auch all jenen, die lieber alleine leben, um die Möglichkeiten des Arbeits- und des Erlebnismarktes intensiver ausnutzen zu können, geht es nicht viel besser. Die hochflexiblen jungen Menschen, die mehr oder weniger gezwungen werden, durch "Job-Surfen" ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sind zu kaum leistbaren Koordinationsanstrengungen verurteilt: morgens Textverarbeitung, mittags Bedienung am Tresen des Schnellimbissrestaurants, nachmittags zwei Stunden Arbeit im Szenecafé, abends noch schnell einen Artikel für die Stadtzeitung schreiben und nachts hin und wieder Taxi fahren, das lässt sich nicht so einfach unter einen Hut bringen, das "kostet" Zeit - nicht selten benötigt es dann mehr Zeit, als die Arbeitszeitverkürzung und die allseitige Beschleunigung eingebracht haben. So kommt es zu dem lästigen Zustand, dass man immer mehr Zeit braucht, um mehr Zeit zu haben, und dass man zwar immerzu Zeit spart, diese aber dann gar nicht hat. "Fortschritt erzeugt Pflichten" hat Max Weber behauptet. In den Zeitsparexzessen unserer Zeit hätte er viele überzeugende Belege für seine These finden können.
In überdimensionierten Lettern wird - bevorzugt von jenen Banken, die versuchen, ihre Kunden mittels Online-Banking zu ihren unbezahlten Angestellten zu machen - lauthals verkündet: "Und wieder werden sich Menschen von Raum und Zeit befreien."
Zeit und Raum befinden sich also auf der Flucht. Ob das als frohe Botschaft interpretiert werden kann? Bis vor kurzem jedenfalls galt die Abschaffung von Zeit und Raum als ein himmlisches Projekt. Wenn dies heute zum irdischen Programm werden soll, sind Zweifel angebracht. Denn die Abschaffung von Zeit und Raum war zumindest auf jenem Globus, auf dem wir heute leben und sterben, ausnahmslos an den nicht allzu erfreulichen Sachverhalt des Todes gekoppelt. Solange wir nur auf Zeit in dieser Welt sind, und daran kann allein deshalb schon kein Zweifel aufkommen, weil die Sterblichkeitsquote aller Menschen, auch aller Zeitmanager, bisher exakt bei 100 Prozent liegt, wäre die Befreiung von der Zeit mit einem Todesurteil identisch. Hätte man wirklich vor, die Zeit zu eliminieren, dann müsste man dieses Kunststück zuerst mit dem Tod versuchen und dabei schließlich auch erfolgreich sein. Beabsichtigt wird dies zwar allerorten, allzu weit gekommen ist man bisher dabei jedoch nicht. Das großmäulige Werbeversprechen, sich von der Zeit befreien zu können, müsste, solange der Tod noch nicht eliminiert ist, konsequenterweise in den Tageszeitungen bei den Traueranzeigen auftauchen. Aber trotz aller Vorbehalte scheinen solch illusionäre Botschaften denjenigen, die sie teuer bezahlen, zu nutzen. Es ist die zweifelsohne schöne Illusion, von der Zeitlichkeit und damit auch von der Endlichkeit befreit werden zu können, die den beabsichtigten Mehrwert zu garantieren scheint: eine Bestätigung der Erkenntnis, dass nicht an der Realität, sondern an den Illusionen in der Wirtschaft verdient wird. So bleibt es, zumindest für die nächste Zeit, ein Wunschtraum, sich von der Zeit befreien zu können; auch dann, wenn die "Klonierer" dieser Welt jene Fortschritte wirklich machen, die sie lauthals und voreilig immer wieder ankündigen. Die ganz große Freiheit, nämlich über den eigenen Tod und dessen Zeitpunkt entscheiden zu können, diese große Freiheit haben bisher nur Selbstmörder. So scheint die teuer verbreitete Illusion der Zeitlosigkeit nur den in der Tat schwer zu ertragenen Sachverhalt profitabel auszubeuten, mit der Normalität irdischer Zeitlichkeit immerzu fertig werden zu müssen, um schließlich doch daran zu scheitern.
Interpretiert man das annoncierte Freiheitsversprechen jedoch etwas bescheidener, als es sich präsentiert, dann verspricht es, dass wir heute mit neuen, bisher unbekannten Raum- und Zeitfreiheiten rechnen können. Dahin gehend wäre jedoch eine minimale, aber doch entscheidende Ergänzung des Textes notwendig: "Und wieder" - so die erheblich realistischere Formulierung - "werden sich Menschen von traditionellen Raum- und Zeitordnungen befreien." Die Menschen verändern nämlich weder den Raum noch die Zeit, sie verändern ihre Vorstellungen davon, und sie verändern die Ordnungen, die sie mit ihren Vorstellungen machen. Es geht in den weitaus meisten Fällen, in denen von "Zeit" gesprochen wird, um nichts anderes als um die jeweilige Ordnung des Vergänglichen. Darauf weist im Übrigen bereits die Herkunft des Wortes "Zeit" hin: "Die althochdeutschen (zit), germanischen (ti-di), altindischen (dati) und altnordischen (tina) Wortwurzeln bedeuten 'zerteilen, zerschneiden, zerpflücken'. Sie beziehen sich also auf die Ordnung und Gliederung durch eine menschliche Handlung und nicht auf eine vorfindbare Entität der Natur." 4
Alle diese beschriebenen Veränderungen, die berechtigterweise "gravierend" genannt werden können, sind kein sinnvoller Anlass, die Zukunft mit überschwänglicher Euphorie auf sich zukommen zu sehen. Sie liefern aber auch keine allzu guten Gründe, ihr mit Angst und moralischer Entrüstung entgegenzusehen. Der Zeitgeist verändert sich kontinuierlich, und das aktuelle Zeithandeln gleich mit. "Alles ist jetzt ultra": Dies notierte nicht etwa ein distanziert-kritischer Beobachter der postmodernen Entwicklungen unseres Zeitumgangs am Beginn des 21. Jahrhunderts. Johann Wolfgang von Goethe hat in einem Brief an seinen Freund Zelter vom 6. Juni 1825 mit diesen Worten die Beschleunigungsdynamiken der damals noch herrschenden Postkutschenzeit beschrieben. Die Zeit ist relativ, und die Zeiten sind es auch. Heute ist für viele Menschen, nicht nur für Kulturheroen, "alles ultra". Und die Mehrheit will es so.
1 'Anthony
Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, S. 33.'
2 'Ebd, S. 85.'
3 'Zitat aus Florian Rötzer, Das
Internet zieht ins öffentliche Klo ein; 2003:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalte/te/14747/1.html.'
4 'Klaus Beck, Medien und die soziale
Konstruktion von Zeit, Opladen 1994, S. 84.'