Als Gerhard Schröder sich mit seinem harschen "Basta" vor fast vier Jahren in die Gewerkschaftsgeschichte eintrug, versuchte er damit, einen Schlussstrich zu ziehen unter eine Rentendebatte. Der Kanzler wollte eine Wegmarke setzen: "Bis hierher und nicht weiter." Er zog eine Grenze. Manche fanden das grenzwertig, und manche vermissen heute eine klare Abgrenzung der Schröderschen Politik von der Union. Die kleine Wortklauberei macht deutlich, welche Funktion Grenzen haben: Sie strukturieren.
Sie geben vor allem der politischen Landkarte eine Struktur. Es gibt auf der Landmasse der Erde zwischen Staaten, rechtlich gesehen, kein Niemandsland mehr. Dort verlaufen nur noch Grenzen. Sie trennen erst einmal - je nach Region, je nach politischer Situation mehr oder weniger grob - zwei Völker, zwei Länder, zwei Sprachen, oft auch ein Volk, ein Land, bisweilen sogar ein Dorf oder ein Haus. Manchmal ist das absurd, manchmal erschreckend, oft tragisch, manchmal einfach sicherer - fast immer aber ist es auch faszinierend. Vielleicht liegt das daran, dass Grenzen Anfang und Ende zugleich darstellen.
Manche politische Grenzen sind im Verschwinden begriffen: In vielen Staaten der EU ist das derzeit der Fall. Vielleicht verblassen sie irgendwann sogar ganz. Der erweiterte Einigungsprozess der EU bildet den geschichtlichen und geografischen Rahmen für diese Ausgabe. Und er ist ein thematischer Schwerpunkt, etwa, wenn es um das räumliche Ende Europas geht, oder bei neun Besuchen in jenen Regionen, in denen Deutschland aufhört und ein Nachbarstaat beginnt. Auffallend ist dabei: Trotz EU, trotz Euro fahren die Deutschen - nicht nur, aber auch - recht gerne zum Einkaufen über die Grenze. Der Reiz des nicht ganz Alltäglichen gepaart mit dem Reiz des niedrigeren Preises.
Diese neun Besuche zeigen zudem: Selbst wenn Staatsgrenzen durchlässig werden und ihre politische Funktion langsam verlieren, wird etwas lange bleiben. Grenzen sind, auch wenn sie nicht immer die Trennschärfe politischer Demarkationslinien besitzen, aus historischen Gründen meist mehrdimensional. Sie teilen Sprachräume, sie teilen Religionsräume - und stabilisieren sie dadurch. Grenzen sollen Konflikte verhindern; gleichzeitig sind sie aber auch immer wieder Konfliktorte, weil sie Anknüpfungspunkte sind: für Überschreitungen und Auseinandersetzungen, für Neuanfänge und Melangen. Wo etwa unterschiedliche Sprachräume aufeinandertreffen, vermischen sich Dialekte und Akzente, manchmal sogar ganze Sprachen. Grenzen verbinden, bisweilen ungewollt.
Deswegen legt so Mancher Wert darauf, dass etwas bleibt von dem Trennenden - um die Sprache zu erhalten, um die Parteiprogrammatik zu schärfen, um sich selbst aufzuwerten. Grenzen sind Marken der Identität, indem man weiß, was man ist und was nicht, was also anders ist. Diese Unterscheidung ist bis zu einem gewissen Grad notwendig; sie birgt aber auch Gefahren. Denn sie kann verkrampft passieren: (Blinder) Nationalismus und Ideologien entstehen auf diese Weise und damit Grenzen, die sich bei rationaler Überprüfung in Nichts auflösen würden.
Selbst in abgeschwächter Form ist das Bild des Andersartigen problematisch: Welche Einwanderer aus anderen, oftmals ärmeren Kulturen dürfen die Mauern nach Europa legal überwinden? Was passiert mit den anderen? Welche Bedeutung hat die Gefahrenabwehr an den Schlagbäumen noch? Die Frage, wie ein gesunder Ausgleich zwischen Kontrolle, Sicherheit und Offenheit an Grenzen aussieht, prägt viele Texte dieser Ausgabe.
Schließlich sind Grenzen Ansporn im Alltag, eine Herausforderung, bisweilen ein Schicksal. Nicht nur Sportler wissen das. Wer Grenzen überschreitet, muss sich auf so manches gefasst machen. In diesem Sinne bietet diese Ausgabe hoffentlich einige Grenzverletzungen. Bert Schulz
Der Autor ist Volontär bei "Das Parlament".