Es wurde damit gerechnet, dass die Regierungsparteien bei den Europa- und Kommunalwahlen Stimmen verlieren würden. Dass die Verluste so massiv und so einseitig ausfallen würden, hatte allerdings niemand erwartet. Sowohl bei den Europa- als auch bei den Kommunalwahlen gab es nur einen wahren Verlierer: Silvio Berlusconi. Nach zehn Jahren zumeist sehr erfolgreicher politischer Aktivität musste der ungewöhnlichste und umstrittenste Regierungschef Europas, zugleich Besitzer von drei Fernsehsendern, einen harten Schlag einstecken. Die Verluste seiner Partei Forza Italia hielten sich bei den Wahlen zum Europaparlament zwar noch im Rahmen, bei den Kommunalwahlen glichen sie einem Erdrutsch. Mailand, eine Stadt, die bis dato als uneinnehmbare Bastion Berlusconis gegolten hatte, wurde darunter beinahe begraben. Ähnlich wie in Mailand erging es Forza Italia in anderen Großstädten und weiten Teilen Süditaliens. Ausgerechnet hier, wo sich die Partei auf sicherem Terrain zu bewegen glaubte, wurde ihr ein dickes Tortenstück weggenommen. Genau jene Wählerschaft, die Berlusconi drei Jahre zuvor einen fulminanten Sieg beschert hatte, strafte ihn nun ab für seine Selbstherrlichkeit, für sein arrogantes Verhalten, für seine Verbalattacken gegen Staatsorgane, für seine endlosen Querelen mit der italienischen Justiz und dafür, dass er Italien nicht aus dem Irak-Krieg herausgehalten hatte, hauptsächlich aber für seine nicht oder nur teilweise umgesetzten zahlreichen angekündigten Reformen. Und dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler die Person Silvio Berlusconi und nicht dessen Regierungskoalition treffen wollte, ist daran zu erkennen, dass seine Verbündeten, also die rechtsgerichtete Alleanza Nazionale, die christdemokratische UDC und die populistische Lega Nord ihre jeweiligen Positionen stärken konnten. Damit wuchsen zugleich deren Ansprüche: Alleanza Nazionale und UDC forderten den Rücktritt von Wirtschaftsminister Giulio Tremonti, Berlusconis Alter Ego - und sie erreichten diesen auch.
Zu erklären, warum man mit der Amtsenthebung des Superministers für Wirtschaft und Finanzfragen das vorzeitige Scheitern der Regierung gerade noch einmal abwenden konnte, ist in einem Land, in dem die Politik ein ähnliches Mysterium des Glaubens darstellt wie die katholische Kirche, ein schier unmögliches Unterfangen. Man könnte sagen, dass Tremonti für einen extremen wirtschaftlichen Liberalismus steht, während Gianfranco Fini und Marco Follini, die Vorsitzenden von Alleanza Nazionale und UDC, sich schon lange für eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Probleme einsetzen. Anders gesagt, indem man Tremonti demontierte, wollte man Berlusconi treffen, und zwar aufgrund seiner mangelnden Kooperationsbereitschaft und der Art und Weise, wie er seinen Koalitionspartnern Entscheidungen aufzwingt: wie das auch sein ehemaliger Wirtschaftsminister zu tun pflegte. Aber es steckt noch mehr dahinter. Gestärkt durch das hervorragende Resultat bei den Europa- und Kommunalwahlen, fordert die UDC mit lauter Stimme eine Änderung des Wahlsystems: weg vom Mehrheits- und zurück zum Verhältniswahlrecht.
In der Zwischenzeit scheinen sich die Gewitterwolken über Rom ein wenig verzogen zu haben; ein neuer Wirtschaftsminister wurde ernannt. Doch der Schein trügt. Entweder ist der Sturz der Regierung Berlusconi im besten Falle um einige Monate verschoben worden, oder, was noch schlimmer wäre, sie bleibt im Amt, um mehr schlecht als recht das Ende der Legislaturperiode zu erreichen. In diesem Fall hätte sie wohl kaum die Kraft, jene strukturellen Veränderungen einzuleiten, welche die Europäische Union seit über einem Jahr einfordert.
Die derzeitige Situation stellt sich wie folgt dar. Italien ist gekennzeichnet durch eine stark geschwächte Regierung Berlusconi auf der einen Seite und eine Opposition auf der anderen, die zurzeit nicht in der Lage ist, ihn im Falle eines Sturzes abzulösen. Nur zwei Jahre vor Ablauf der derzeitigen Legislaturperiode gibt es im Oppositionslager noch keine Führungspersönlichkeit. Und bei aller Vielfalt der politischen Kräfte scheint es keine Persönlichkeit zu geben, die so konsensfähig ist, dass sie eine solche Position übernehmen könnte. Hinzu kommen die Schwierigkeiten mit den Splitterparteien kommunistischer Prägung. Diese haben bei der Europawahl ein so gutes Ergebnis erzielt, dass sie nun bereits definierte Eckpfeiler der Mitte-links-Parteien in Frage stellen, wie zum Beispiel die Marktwirtschaft, das kapitalistische System überhaupt oder auch die jetzige Europäische Union, ihre Verfassung und vor allem den Stabilitätspakt. Wenn aber das Mitte-links-Bündnis die Wahlen von 2006 gewinnen will, kann es auf die gestärkte "Rifondazione Comunista" auf keinen Fall verzichten, denn ohne die Unterstützung durch seinen Vorsitzenden Fausto Bertinotti würde es nie die erforderliche Mehrheit erreichen. Zur Erinnerung: Es war Fausto Bertinotti, der 1998 aus der Mitte-links-Koalition von Romano Prodi austrat und so dessen Sturz verursachte.
Schon in der Schule haben wir gelernt, dass es die Aufgabe der Regierung ist, zu regieren, und Aufgabe der Opposition, sie zu kontrollieren und zu kritisieren. In Italien scheint diese Regel jedoch nur bedingt zu gelten. Hier ist der politische Herausforderer nicht einfach nur ein Gegner, er ist vielmehr ein wahrer Feind, den es zu vernichten gilt. Sobald dieser Gegner an der Regierung ist, ist sein Tun eine nationale Katastrophe. Veränderungen im Schulwesen - durch welches Regierungsbündnis auch immer - kommen für die jeweilige Opposition einem Rückschritt um 50 Jahre gleich, Einschnitte im Gesundheitswesen bedeuten die Gefährdung der Volksgesundheit, und eine Rentenreform gleicht sogar einer intergalaktischen Kriegserklärung.
Unter Berlusconis Regierung hat sich dieser Politikstil weiter zugespitzt. Parlamentarische Sitzungen enden nicht selten in Tumulten, und selbst wenn ein Gesetz mit großer Mehrheit gebilligt wird, ist es noch lange nicht gültig. In Italien gibt es die Institution des Volksentscheides, ein auf den ersten Blick sehr demokratisches Instrument. Schon mit den Unterschriften einer halben Million Bürgerinnen und Bürger kann ein bereits verabschiedetes oder geltendes Gesetz rückgängig gemacht werden. Es kommt nicht selten vor, dass die Bevölkerung zur Abstimmung über ein Paket von zehn oder mehr meist schwer verständlichen Gesetzen aufgerufen wird und mangelnde Wahlbeteiligung das ganze Procedere im Nachhinein hinfällig werden lässt. Auf diese Weise werden Millionen Euro entweder sinnlos verschwendet - oder sie dienen allein dazu, die Dinge an ihren Ausgangspunkt zurückzuführen. Der berühmte Satz aus dem historischen Roman Der Leopard von Giuseppe Tomasi di Lampedusa aus der Zeit um die Einigung Italiens charakteriert die Situation treffend: "Es muss sich alles ändern, damit es so bleibt wie es ist."
59 Regierungen gab es in der Geschichte der Republik Italien, und keine einzige hat bis zum Ende der Legislaturperiode gehalten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Italien im Schnitt jedes Jahr eine neue Regierung bekommen. Die derzeitige Regierung Berlusconi stellt mit ihren drei Jahren trotz ihrer Probleme und Schwierigkeiten die langlebigste dar, die Italien je hatte. Wie lässt sich dieser Mangel an Stabilität erklären? Viele Faktoren spielen hier eine Rolle, in allererster Linie jedoch die besondere "Streitsucht" der italienischen Politiker und die extreme Zersplitterung der Parteien. Wir Italiener wissen das ganz genau, aber da wir unerschütterliche Optimisten sind, wollen wir gerne glauben, dass die hohe Fluktuation unserer Regierungen letztendlich am Wahlsystem liegt. So haben wir zwar vor zehn Jahren mit Müh und Not und nach endlosen Diskussionen durchgesetzt, dass unser bisheriges Verhältniswahlrecht durch das Mehrheitswahlrecht ersetzt wurde. Aber es handelt sich um ein Mehrheitswahlrecht all'italiana, ohne eine Fünf-Prozent-Hürde, so dass es selbst den kleinen und kleinsten Parteien weiterhin möglich ist, Einfluss auf die großen zu nehmen.
Mit dieser Veränderung und dem eingeführten "Mehrheitsbonus" war die Hoffnung verbunden, die kleinen Parteien würden dazu gezwungen, sich mit den größeren zu verbünden, und Italien würde so endlich stabile Regierungen bekommen mit politischen Wechseln nur nach Ablauf einer Legislaturperiode. Doch es kam alles ganz anders. Seit der Einführung des Mehrheitswahlrechtes sind nicht nur schon wieder zwei Regierungen gestürzt - zunächst die erste Mitte-rechts-Regierung unter Berlusconi, danach die Mitte-links-Regierung von Romano Prodi -, die Zahl kleiner Parteien hat sogar noch weiter zugenommen: Heute hat Italien vier christdemokratische, drei kommunistische und drei sozialistische Parteien. Einige von ihnen sind im Mitte-rechts-Bündnis aktiv, andere im Mitte-links-Bündnis. Das Ergebnis ist, dass einige Politiker sich nicht einmal grüßen, selbst wenn sie die gleiche politische Heimat haben. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik und ist nicht ohne Peinlichkeit, wenn unter dem Dach des Europäischen Parlaments in Straßburg italienische Abgeordnete, die verschiedenen politischen Lagern angehören, zur Zusammenarbeit an einen Tisch gebracht werden müssen. Das Vorhandensein zweier entgegengesetzter Pole hat Italien nicht voran gebracht, ein Grund dafür, dass - gerade vor dem Hintergrund der Europawahlen im Juni 2004 - von verschiedenen Parteien die Rückkehr zum Verhältniswahlrecht gefordert wird. Ich wiederhole: Wir sind unerschütterliche Optimisten und stets bereit zu glauben, die Schwierigkeiten, unser Land zu regieren, hinge vom Wahlsystem ab und nicht von der Streitsucht der Politiker, die zu einem ewigen Hin und Her bei der Verwaltung, den allgemeinen Leistungen und der Funktionstüchtigkeit des Staates führt. Das, was der deutsche Tourist an Italien schätzt, das viel zitierte "geliebte Chaos", sieht aus italienischer Perspektive ganz anders aus.
Es vergeht kein Tag, an dem die italienische Linke Berlusconi nicht angreift, und zwar aus zwei Gründen: erstens wegen des Interessenkonflikts, also der Unvereinbarkeit seines Amtes als Ministerpräsident und seiner Eigenschaft als Unternehmer und Inhaber von drei Fernsehsendern; zweitens, weil Berlusconi versucht, die Justiz zum Schweigen zu bringen und sich so den Gerichtsprozessen zu entziehen, die wegen Bestechlichkeit und Bilanzfälschung gegen ihn angestrengt wurden. In beiden Fällen trägt die Linke eine nachweisbare Mitschuld. Berlusconi ist kein nationales Unglück, das plötzlich vom Himmel gefallen ist, sondern vielmehr ein Phänomen, das erst durch unverzeihliche Fehler in den eigenen Reihen möglich wurde. Das Mitte-links-Bündnis hat das Land schließlich selbst fünf Jahre lang regiert und es dennoch nicht geschafft, ein Gesetz zur Regelung des Interessenkonflikts zu verabschieden, das eine zweite Regierung Berlusconi, nämlich die derzeitige, mit Sicherheit verhindert hätte. Jetzt wurde dieses Gesetz endlich verabschiedet - für die Regierung Berlusconi ein sehr ausgewogenes Gesetz, für die Opposition schlicht und einfach ein Betrug.
Betrachten wir nun das Verhältnis Berlusconis zur Justiz. Dafür müssen wir einen Schritt in die Vergangenheit zurückgehen. Im Jahr 1992 fegte so etwas wie ein politischer Wirbelsturm über Italien hinweg, der alles vorher Gekannte übertraf. Er ist unter dem Namen Mani Pulite (Saubere Hände) in die Geschichte eingegangen. Es war ein riesiger Wirbel aus illegalen Parteienspenden, der in der Flucht des damaligen Ministerpräsidenten, des verstorbenen Bettino Craxi, nach Tunesien, in Hunderten von Verhaftungen, Familientragödien, Selbstmorden und schließlich in der Auslöschung der beiden größten damaligen Parteien - der christdemokratischen und der sozialistischen Partei - gipfelte. Nur die Postkommunisten blieben weitgehend verschont, wenngleich auch sie einige Schrammen abbekommen haben. Weil man ihnen die Regierung Italiens nicht anvertrauen wollte, konnte sich Berlusconis Forza Italia auf der politischen Bühne behaupten. Berlusconi hatte diese Partei, die sich von einem auf den anderen Tag als erste politische Kraft Italiens behauptete, vielleicht nur gegründet, weil er seine Unternehmen retten wollte.
Befanden sich also "die Bösen" nur unter den Sozialisten und Christdemokraten und "die Guten" nur unter den Postkommunisten? Das ist schwer zu glauben. Der Verdacht, dass einige Richter mit Hilfe des Strafgesetzbuches in die Politik eingegriffen haben, ist sicher legitim, nachweisen lässt sich nichts.
Man denke nur an den Fall Giulio Andreotti, der mehrere Male Italiens Ministerpräsident war und der nicht nur der Kontakte zur Mafia beschuldigt wurde, sondern auch als Auftraggeber für die Ermordung des Journalisten Mino Pecorelli im Jahr 1979 galt. Es gab einen zehn Jahre dauernden Prozess, an dessen Ende im Jahr 2003 ein Urteil (24 Jahre Haft!) mit Berufung und anschließendem Freispruch stand. Andreotti ist der Inbegriff der christdemokratischen Dauerherrschaft der ersten Republik. Seine Verurteilung wäre gleichzeitig die Verurteilung der italienischen Politik der letzten 30 Jahre und der Parteien, die sie zu verantworten hatten, gewesen. Ausgenommen natürlich die kommunistische Partei PCI, später DS, die damals, wenigstens offiziell, nie an einer Regierung beteiligt war. Auch in diesem Fall scheint mir der Verdacht, dass man mit der Justiz versucht hat Politik zu machen, sicher legitim.
Der derzeitige italienische Regierungschef Silvio Berlusconi fühlt sich wegen verschiedener Prozesse, die noch im Gange sind, von der italienischen Justiz verfolgt und diffamiert. Um sich diesen zu entziehen, hat er einige Gesetze verabschieden lassen, die ihm aber kaum geholfen haben. Berlusconi rechtfertigt sein Vorgehen damit, dass seiner Meinung nach ein Teil der Richter stark politisiert sei und dass mit Unterstützung durch die Justiz genau das erreicht werden solle, was durch die Wahlen nicht möglich war. Die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden - so Berlusconi wortwörtlich -, sei, ihn zu verurteilen. Zu diesem Zweck zieht er alle Register und kämpft dagegen an, auch mit Gesetzen, die er eigens auf seine Person zuschneiden lässt. Für die Linke sind die Versuche Berlusconis, sich den Prozessen zu entziehen, eine Schande für ganz Italien und für die Institutionen des Staates. Die Linke hätte aber die zweite Regierung Berlusconi verhindern können, wenn sie den Mut gehabt hätte, nach dem Sturz von Romano Prodi Neuwahlen auszurufen. Im Jahre 1998, nachdem die Mitte-links-Regierung unter Prodi gescheitert war, folgten mit Massimo D'Alema und Giuliano Amato zwei Ministerpräsidenten aufeinander, die nicht von den Wählerinnen und Wählern legitimiert worden waren - ein Vorgang, der in jedem anderen europäischen Land undenkbar gewesen wäre. Damals glaubte das Mitte-links-Bündnis, dass ohne Prodi keine Wahl zu gewinnen sei. Drei Jahre später erhielt es die Quittung dafür: Es verlor die Wahl und Berlusconi gewann haushoch.