Wer übernimmt die Pflege und Betreuung einer großen Mehrheit alter Menschen, der nur eine Minderheit junger gegenübersteht? Das wird spätestens im Jahr 2030 der Fall sein. Wer finanziert die Renten der heute 30-Jährigen? Noch sind die Sozialsysteme nicht sehr gut auf eine alte Gesellschaft vorbereitet. Das sollten sie aber sein.
Denn der Alterungsprozess, in dem sich die Bundesrepublik seit über 30 Jahren befindet, lässt sich mit demografischen Mitteln erst einmal nicht aufhalten. Er hat mittlerweile eine solche Eigendynamik entwickelt, dass selbst ein plötzlicher Babyboom die zu erwartende alte Gesellschaft in 30 bis 50 Jahren nicht verhindern könnte. Würden mehr Kinder geboren oder mehr Zuwanderung stattfinden, könnte die Entwick-lung zwar verlangsamt aber nicht zum Stillstand gebracht oder sogar umgedreht werden. Auch bietet die Zuwanderung kein Allheilmittel. Zwar wäre der Erhalt der Bevölkerungszahlen noch relativ leicht zu erreichen; dafür müssten jährlich etwa 320.000 Menschen mehr nach Deutschland kommen als es verlassen. Für ein gesundes Verhältnis zwischen Erwerbsfähigen und Rentnern wäre allerdings ein Wanderungsgewinn von jährlich 3,4 Millionen Menschen nötig. Bis 2050 wären dies insgesamt 188 Millionen; die Bevölkerung würde dann auf 300 Millionen ansteigen. Solche Zahlenbeispiele demonstrieren, wie unrealistisch eine solche Perspektive ist.
Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung weist deshalb in seiner Bevölkerungsstudie 2004 darauf hin, "dass gesellschaftliche Antworten auf die Konsequenzen dieses Alterungsprozesses in erster Linie dort zu suchen sind, wo sie entstehen, nämlich in den sozialen Sicherungssystemen".
Die "alte Gesellschaft" beschäftigt uns zwar erst seit einigen Jahren, als die Schwäche des Rentensystems offenbar wurde. Angelegt wurde diese Entwicklung aber bereits mit dem so genannten Ersten demografischen Übergang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und, paradoxerweise, mit einer Verjüngung der Bevölkerung. Eine geringere Säuglings- und Kindersterblichkeit führte zunächst zu einer Erhöhung des Kinderanteils an der Bevölkerung. Gleichzeitig leitete aber die damit einher gehende Chance, ein höheres Lebensalter zu erreichen, das Altern der Bevölkerung ein. Der Rückgang der Geburten an der Wende zum 20. Jahrhundert tat sein übriges. Wurden von den Frauen des Jahrgangs 1865 im Durchschnitt 4,6 Kinder geboren, so brachten die um 1880 geborenen Frauen nur noch 3,3 Kinder zur Welt. Erstmals hatte sich mit diesem Jahrgang eine Elterngeneration nicht mehr vollständig ersetzt, das schaffte auch danach kein Geburtsjahrgang mehr. In dieser Zeit kamen aber auf 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren immerhin noch fast 90 Kinder und Jugendliche. 200 Jahre später, im Jahr 2050, werden es nur noch 30 sein. Von paradiesischen Zuständen, als noch 13 Erwerbstätige für eine ältere Person zuständig waren, kann dann ebenfalls keine Rede mehr sein. In 45 Jahren wird sich die Relation so verschoben haben, dass nur noch 1,8 Erwerbstätige für einen Rentner da sein werden.
Mit dem zweiten Geburtenrückgang (der im Unterschied zu den Einbrüchen während der Weltkriege und Weltwirtschaftskrise nicht durch nachfolgende Geburtenhochs ausgeglichen wurde) zwischen 1965 und 1975 sanken die Geburtenzahlen auf das heute niedrige Niveau. Von dieser Entwicklung war nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa betroffen. Erstmals ließ sich dieser Rückgang nicht mit historischen Krisen begründen, sondern mit einem Wandel gesellschaftlicher Werte, die die Selbstverwirklichung des Einzelnen und eine neue Frauenrolle betonten.
Heute bekommen Frauen in Deutschland durchschnittlich 1,37 Kinder, eine Zahl die bei weitem nicht ausreicht, um die Bevölkerungszahlen stabil zu halten. Dafür wären 2,1 Kinder nötig. Die Bevölkerung Deutschlands wird deshalb nicht nur älter, sie schrumpft gleichzeitig. Experten sprechen davon, dass sich die Zahl von gegenwärtig über 80 Millionen auf in Zukunft 67 Millionen verringern könnte. Interessant in diesem Zusammenhang ist der deutliche Anstieg der Kinderlosigkeit, obwohl sich die große Mehrheit der Kinderlosen durchaus Kinder wünscht. Von den Frauen des Geburtsjahrgangs 1935 blieben nur 6,7 Prozent kinderlos, wohingegen deren Anteil im Jahrgang 1967 schon auf 28,6 Prozent anstieg. Als Ursachen dafür gelten zum einen das Problem vieler Frauen, sich zwischen Kindern und Karriere entscheiden zu müssen; Akademikerinnen bleiben heute schon zu 40 Prozent kinderlos. Zum anderen zählen vor allem Paare dazu, die über ein relativ niedriges (nicht sehr niedriges) Einkommen verfügen und ihren Lebensstandard nicht durch Kinder einschränken möchten.
Bei jüngeren Frauen zeigt sich dabei eine deutliche Polarisierung zwischen den kinderlosen und jenen, die zwei oder mehr Kinder bekommen. Der Anteil von Frauen mit einem Kind sinkt dagegen.
Neben der geringen Geburtenrate bedingt jedoch noch ein anderen Phänomen den Alterungsprozess unserer Gesellschaft: die steigende Lebenserwartung der Menschen. Kam ein um 1870 geborener Junge noch mit einer Lebenswartung von 35,5 Jahren zur Welt, stieg diese für einen 1987 geborenen Jungen auf 72,2 Jahre; ein Zuwachs von fast 40 Jahren in einem Jahrhundert. Heute neugeborene Mädchen können mit einer Lebenserwartung von 80,8 Jahren rechnen, Jungen können erwarten, im Durchschnitt 74,8 Jahre zu leben. Bis zum Jahr 2050 wird sich nach Prognosen die Lebenserwartung bei Frauen auf 86,6 und bei Männern auf 81,1 erhöhen. Der Anteil der über 65-Jährigen in der Gesellschaft wird sich dann von 16,7 Prozent im Jahr 2000 auf 30 Prozent erhöht haben; ebenfalls steigt die Zahl der Hochbetagten (80 Jahre und älter) von heute vier Prozent (3,2 Millionen) auf zwölf Prozent (9,1 Millionen).
Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was das für die Pflegesysteme der Bundesrepublik bedeutet. Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) zufolge dürfte die Zahl der Pflegebedürftigen Menschen bis 2020 auf 2,9 Millionen steigen. Bezogen auf die Zahlen von 1999, bedeutet dies eine Steigerung von ungefähr 50 Prozent. Bis 2050 rechnen die Experten dann noch einmal mit einem Anstieg von 1,8 Millionen.
Zwar leben derzeit nur sieben Prozent der älteren Menschen in so genannten "Sonderwohnformen" (fünf Prozent in Heimen und fast zwei Prozent in speziellen Altenwohnungen). Es wird aber davon ausgegangen, dass bis 2020 die Zahl der Heimbewohner um 57 und die der ambulanten Pflegefälle um 50 Prozent ansteigt. Allein im stationären Bereich wird die Zahl der Heimbewohner bis 2020 auf 330.000 und bis 2050 noch einmal um weitere 570.000 zunehmen. Doch sollten diese Zahlen nicht nur unter dem Risikofaktor gesehen werden, denn sie eröffnen neue Beschäftigungschancen für Pflegeberufe in erheblichem Ausmaß. Bis zu einer halben Million Arbeitsplätze könnten bis 2050 in diesem Bereich entstehen.
Claudia Heine arbeitet als freie Journalistin in Berlin.