Soziale Dienstleistungen sind eines sicherlich nicht: ein klar erkennbares Identifikationsmerkmal des Sozialstaates. Dieser wird in der öffentlichen Wahrnehmung vorrangig mit der Gesundheitsversorgung, der Alterssicherung oder mit Transferleistungen zur Verhinderung von Armut in Verbindung gebracht, während die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien, mit erkrankten, behinderten, benachteiligten oder alten Menschen nicht als eigenständige Säule unseres Sozialstaates begriffen wird.
Der Aufgabenbereich wirkt diffus, der Adressatenkreis ist vielgestaltig, die mit diesem befassten Dienste, Professionen und Zuständigkeiten sind unübersichtlich und die Eigenarten der im Sektor erbrachten Dienstleistungen sind in der Regel ebenso wenig bekannt wie die Qualifikationsmerkmale derjenigen, die mit dem genannten Personenkreis arbeiten.
Je fraktionierter und unbestimmbarer ein öffentlich finanzierter Dienstleistungszweig ist, desto günstiger sind die Voraussetzungen, in Zeiten knapper Kassen Kürzungen vorzunehmen. Dies fällt umso leichter, da sich kein historisch gewachsenes, klar umrissenes Qualitätsbewusstsein im Leistungssektor entwickelt hat. Zwar wird im Rahmen der so genannten Ökonomisierung der sozialen Arbeit seit spätestens Mitte der 90er-Jahre ein breiter Diskurs über die Qualität personenbezogener sozialer Dienstleistungen geführt, aber dieser ist bis heute wesentlich auf den betrieblich-organisatorischen Rahmen der Leistungserbringung bezogen. Ob die Nutzer sozialer Dienstleistungen davon profitieren, ist eine zweite, auf eigentümliche Weise vom deutschen Qualitätsdiskurs von Anbeginn abgekoppelte, allenfalls in jüngerer Zeit ernsthafter aufgeworfene Frage.
Die Problematik erschließt sich durch einen Vergleich mit dem Bildungssektor und der aufgeregten Diskussion über die Ergebnisse der PISA-Studien. Auf welchem Ranglistenplatz würde Deutschland bei einem internationalen Vergleich der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen landen, wenn anhand präziser Indikatoren zu prüfen wäre, in welchem Umfang die Würde der Leistungsnutzer gewahrt wird, inwieweit sie über ausreichende Informationen verfügen und darauf aufbauend Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung ihres eigenen Lebens haben, ob und in welchem Umfang sie an allen, ihre unmittelbare Lebensqualität betreffenden Entscheidungen partizipieren und ob für sie Möglichkeiten bestehen, unpassende Leistungen abzulehnen oder gegen Erbringer schlechter Leistungen vorzugehen. Vieles deutet darauf hin, dass bei einem solchen Ranking ein an die PISA-Resultate erinnerndes Ergebnis erzielt würde.
Die offenkundig gewordene deutsche Bildungsmisere wurde unter anderem auf politische Kleinstaaterei, auf fehlende beziehungsweise veraltete Standards sowie auf ein überholtes, eine zeitgemäße Vorschulbildung behinderndes Familienbild zurückgeführt. Strukturell betrachtet lassen sich ähnlich gelagerte Komponenten unschwer auch im Bereich der personen- bezogenen sozialen Dienstleistungen wiederfinden.
Kleinstaaterei wäre im hier angesprochenen Sektor bereits ein Fortschritt. Die Gestaltung der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen obliegt neben den Ländern den einzelnen Kommunen, ferner den Wohlfahrtsverbänden, deren Mitgliedsorganisationen wiederum in hohem Maße selbständig agieren, wie auch zunehmend privatgewerblichen Anbietern. Ein breites und vielgestaltiges Angebotsspektrum ist zwar wünschenswert, aber unter Qualitätsgesichtspunkten sind die Rahmenbedingungen entscheidend, unter denen Dienstleistungen erbracht werden. Fehlen Standards, Kontrollen, Transparenz und den Nutzern substanzielle Wahlmöglichkeiten, so wird die Leistungserbringung zum Willkürakt.
Natürlich ist an dieser Stelle einzuwenden, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen getroffen hat, die Qualität personenbezogener sozialer Dienste zu gewährleisten, sei es durch die Regelung der Qualifikation der im Sozialsektor tätigen Professionen, die Gesundheitsaufsicht oder durch Sicherheitsbestimmungen, Auflagen und Vorschriften für soziale Einrichtungen. In den 70er-Jahren wurde das Heimgesetz verabschiedet und fortan wiederholt reformiert. Das Gesetz legt Mindestanforderungen für die stationäre Unterbringung von älteren Menschen sowie pflegebedürftigen und behinderten Volljährigen fest. Im Kinder- und Jugendhilfebereich achten insbesondere die Landesjugendämter auf die Einhaltung von Mindeststandards. Seit den 90er-Jahren sehen Sozialgesetze wie das Pflegeversicherungsgesetz, das Bundessozialhilfegesetz oder das Kinder- und Jugendhilfegesetz vor, dass Kosten- und Dienstleistungsträger sich in Vereinbarungen über Qualitätsfragen zu verständigen haben. Auf den zunehmend skandalbelasteten Pflegesektor zielt seit 2001 gar ein eigens geschaffenes Pflegequalitätssicherungsgesetz.
Diese Qualitätsanstrengungen sind durch bestimmte Charaktermerkmale, Selbstverständnisse und Traditionslinien gekennzeichnet. Zunächst einmal besteht die Möglichkeit, bundeseinheitliche Regelungen vor Ort auf unterschiedliche Weise in die Praxis umzusetzen. Länder, Kommunen, Behörden, Ämter, Verbände und Einzelorganisationen haben dabei erhebliche Spielräume, so dass Lücken zwischen dem Recht und den Rechtstatsachen entstehen. Innovative, auf Selbstbestimmung und Partizipation zielende Bestandteile eines Kinder- und Jugendhilfegesetzes oder Betreuungsrechts werden auf diese Weise schnell zur Makulatur, Aufsichtsmaßnahmen zur Farce, wenn es vor Ort an Personal, Kompetenz und Infrastruktur mangelt. Qualitätsorientierte Vorgaben werden zweifelhaft, da zum Beispiel die Etablierung eines Qualitätsmanagementsystems oder die Zertifizierung von Einrichtungen allein noch nichts darüber besagen, ob Adressaten eine gute Dienstleistung erhalten oder nicht. Immer neue Rechtsbestimmungen ändern nichts an der grundlegenden Misere, solange nicht zugleich Instrumente und Verfahren etabliert werden, die sich an "best practice" Beispielen orientieren, auf eine Angleichungsdynamik der Qualitätsniveaus zielen und neutrale, verlässlich erfolgende sowie auf angemessenen Standards beruhende Prüfungen beinhalten.
Anzumerken ist ferner, dass die im Bereich der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen in Deutschland geltenden Standards einem ordnungspolitischen Denken verhaftet sind, das sich auf technisch messbare Rahmenbedingungen konzentriert, nicht aber auf das eigentliche Interaktionsgeschehen der Dienstleistungserbringung selbst. Zu prüfen ist, ob die vorgeschriebene Anzahl von Quadratmetern, Waschbecken, Sicherheitsvorkehrungen und so weiter vorhanden ist, ob ein Heimbeirat, ein Qualitätsmanagement, Dokumentationssysteme, Qualitätszirkel oder Qualitätsbeauftragte existieren und ob verlangte Qualifikationen des Personals gegeben sind, nicht aber, was all dies letztendlich bewirkt. Stimmen die Rahmenbedingungen, so die Schlussfolgerung, dann müssen auch die Ergebnisse stimmen.
Insbesondere an der deutschen Pflegeversicherung wird erkennbar, wie brüchig diese Prämisse ist. Jede einzelne Verrichtung wurde hier mess- und überprüfbar gemacht, während die soziale Betreuungsqualität auf der Strecke blieb. Das erwartbare Ergebnis: Satte, saubere und zugleich vernachlässigte Pflegebedürftige. Das Fundament solcher Entwicklungen bilden Selbstverständnisse, in denen die Adressaten der Leistungen als passive Konsumenten betrachtet werden. Jeder gute Sozialarbeiter dagegen weiß, dass er zwangsläufig scheitern muss, wenn es nicht gelingt, einen Nutzer zu animieren, zu ermutigen, zu aktivieren, die eigene Lebensqualität mit der erforderlichen und zugleich gewollten Unterstützung weitestgehend selbst zu gestalten und sich neue Perspektiven zu eröffnen. Als Ko- beziehungsweise Hauptproduzenten personenbezogener sozialer Dienstleistungen haben die Adressaten das Heft des Geschehens in der Hand, sowohl bei der Annahme wie bei der Verweigerung von Hilfen. Unterstützungsleistungen sind daher effektiver und effizienter, wenn Nutzer wesentlichen Einfluss auf die Planung, Entwicklung, Bereitstellung und Überprüfung von Leistungen erhalten. Das ordnungspolitische Qualitätsdenken blendet diesen, ein radikales Umdenken in der Dienstleistungserbringung erfordernden Zusammenhang weitgehend aus.
Schließlich sind die deutschen Qualitätsbemühungen durch ein moralisches Prinzip gekennzeichnet, das kaum hinterfragt wird. Traditionell haben staatlich anerkannte Wohlfahrtsverbände eine Vorrangstellung, wenn es um die Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen geht. Ihnen werden altruistische Motive unterstellt, ein Handeln aus christlich oder weltlich begründeter Nächstenliebe und Solidarität, das sich durch Parteilichkeit für die Schwächeren in der Gesellschaft und somit durch ein eigenes Qualitätsbewusstsein auszeichnet. Dieser moralische Kredit wurde im Laufe der Zeit durch eine Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen zur Dienstleistungsgestaltung gestützt, nicht aber in Frage gestellt. Die Qualitätsdis-kussion etwa wurde nicht von staatlicher Seite geführt, sondern vertrauensvoll an die Verbände und deren Mitgliedsorganisationen delegiert.
Diese waren und sind jedoch immer auch Interessensparteien in eigener Sache, die ihren jeweiligen Bestandsschutz im Auge haben und sich spezifischen Wertorientierungen und Hilfephilosophien verpflichtet fühlen. Insbesondere die quantitativ dominierenden konfessionellen Verbände trennen professionell erbrachte, personenbezogene soziale Dienstleistungen nicht von pastoralen und missionarischen Zielsetzungen und vermitteln so den Eindruck, in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft glaubensbezogene Reservate für diejenigen zu schaffen, die sich am wenigsten dagegen zur Wehr setzen können. Glaubenskonforme Werthaltungen der Beschäftigten konfessioneller Organisationen werden im Zweifel höher eingeschätzt als Qualifikationen. Das Kirchenrecht konterkariert sogar europäische und nationale Gesetze gegen Diskriminierungen, weil Mitarbeiter zum Beispiel wegen ihrer sexuellen Orientierung, nichtkonformer Überzeugungen und Lebensweisen entlassen werden können. Die Qualität der Leistungserbringung wird hier zweitrangig.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: So, wie es im Bildungswesen gute Schulen und hervorragende Lehrer gibt, so lassen sich auch im Sozialwesen herausragende Dienstleistungsanbieter und kompetente Beschäftigte finden. Diese freilich sind im bestehenden System nur schwer identifizierbar und keinesfalls uneingeschränkt in freier Wahl in Anspruch zu nehmen, so dass die Nutzer sozialer Dienstleistungen zu unfreiwilligen Teilnehmern einer Postleitzahlenlotterie werden: Dort, wo man wohnt, muss vorlieb genommen werden mit dem, was existiert.
Ein Blick über die Landesgrenzen lässt erkennen, dass gesellschaftlich Benachteiligte in ihrer Entscheidungs- macht unterstützt werden können, anstatt sie durch überholte Traditionslinien und Strukturen des Wohlfahrtsstaates noch zusätzlich zu schwächen. Reformvorhaben werden unter britischen Verhältnissen zum Beispiel nur nach umfassender Konsultation von Betroffenen und deren Organisationen durchgeführt. In Schottland geben auf breiter Ebene diskutierte, nationale Standards den Anbietern von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen Leitorientierungen, die sich wertebezogen an den Prinzipien der Würde, der Wahrung der Privatsphäre, des Rechts auf Wahlmöglichkeiten und größtmögliche Sicherheit, der Möglichkeiten zur Verwirklichung eigener Potenziale sowie der Akzeptanz von Gleichheit und Vielfalt in einer diskriminierungsfreien Umgebung orientieren. Die Bürger können sich frei und offen darüber informieren, wie gut oder schlecht einzelne soziale Dienste auf der Grundlage nationaler Standards beurteilt wurden oder mit welcher Bewertung die örtliche Sozialbehörde im nationalen Vergleich abgeschnitten hat.
Die PISA-Studien haben gezeigt, wie zwingend erforderlich internationale Vergleiche zur eigenen Standortbestimmung sind. Der Reformbedarf bei den sozialen Dienstleistungen wird umfassend erst dann erkennbar werden, wenn international anerkannte Bewertungsraster für die Qualität dieser Leistungen vorhanden sind und Staat, Länder und Kommunen begreifen, dass ihre Finanzierungsverantwortung untrennbar mit einer gesamtstaatlichen Qualitätsverantwortung verkoppelt ist.
Eckhard Hansen ist Professor für den Bereich "Soziologie sozialer Dienste und Einrichtungen" am Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel, Flemming Hansen ist sein Mitarbeiter.