DDie letzte Arbeitssitzung der Volkskammer begann ungewöhnlich früh: Schon um sieben Uhr am Morgen hatte das Präsidium das Plenum einberufen. Man hoffte, rechtzeitig fertig zu sein, damit die SPD-Abgeordenten gegen Mittag die Chance haben würden, ihren Parteitag zu besuchen. Doch daraus wurde nichts: Bis Mitternacht dauerte die außergewöhnlich emotionale Sitzung, die sogar ein Sit-in beinhaltete.
Der Tag begann mit dem Bericht des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS, der am 7. Juni von der Volkskammer eingerichtet worden war. Darin betonte der Ausschussvorsitzende Joachim Gauck, die "Macht des MfS" sei zwar gebrochen, dennoch bestünde die Gefahr, dass ehemalige Stasi-Offiziere sich einflussreiche Positionen in der Wirtschaft sichern würden, von wo sie der "Demokratie ganz unauffällig Schaden zufügen könnten".
Wurde damit das Thema Staatssicherheit noch abstrakt behandelt, wurde es wenig später sehr konkret, als Peter Hildebrand (Bündnis 90/Grüne) den Abschlussbericht des "Zweitweiligen Prüfungsausschusses hinsichtlich früherer Mitarbeit von Abgeordenten der Volkskammer für das ehemalige MfS/AfNS" verlas. Hinter dem sperrigen Titel verbarg sich politischer Sprengstoff: Der Ausschuss hatte festgestellt, dass 56 Abgeordnete der Volksammer, unter ihnen auch drei Minister, in der Zentralkartei des Ministeriums für Staatssicherheit als Inoffizielle Mitarbeiter geführt worden waren. Von diesen 56, so der Prüfbericht, "lagen nach Akteneinsicht 15 Fälle so, dass unsererseits eine dringende Empfehlung zu sofortiger Mandatsniederlegung beziehungsweise sofortigem Rücktritt ausgesprochen wurde".
In dem Bericht waren keine Namen genannt worden, doch bereits mehrere Tage vor der Sitzung hatte die Fraktion Bündnis 90/Grüne einen Antrag eingebracht, nach dem der Prüfungsausschuss verpflichtet werden sollte, dies zu tun - während der Ausschuss sich dagegen aussprach, da "einer Veröffentlichung dieser Namen durch den Ausschuss juristische und moralische Gründe entgegen stehen". Rolf Schwanitz, Mitglied des Prüfungssauschusses, betonte, die Bevölkerung erwarte zu Recht Klarheit, wer betroffen sei, doch man müsse sich an den Grundsatz des Vertrauensschutzes halten. Zudem könne auch umgekehrt "niemandem bescheinigt werden, dass es über ihn keine belastende Akte gibt". Marianne Birthler (Bündnis 90/Grüne) betonte hingegen, frühere MfS-Informanten gehörten nicht in ein Parlament: Die Volkskammer müsse sich öffentlich "von jenen trennen, die ihre Wähler hintergangen haben".
Bei der folgenden Abstimmung sprach sich die Mehrheit der Abgeordneten für die Namensnennung aus. Doch damit war der Streit noch immer nicht beendet: Nun legte der FDP-Abgeordente Jochen Steinecke Einspruch ein und empfahl, den Verfassungsausschuss mit der Veröffentlichungsfrage zu beauftragen. Als die Mehrheit dem zustimmte, hielten verschiedene Abgeordnete von Bündnis 90/Grünen unter erregten Diskussionen ein spontanes Sit-in auf dem Podium ab. Schließlich beriet der Verfassungsausschuss und kam nach zwei Stunden zu dem Urteil, der Verlesung der Namen - unter Ausschluss der Öffentlichkeit - stünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. Die Kameras der Journalisten mussten abgeschaltet werden - doch weil der liberaldemokratische "Morgen" während der Sitzung eine Liste der 15 am schwersten belasteten Abgeordneten veröffentlicht hatte, wussten die Reporter draußen ohnehin, was drinnen nun endlich verkündet werden sollte.
Bevor dies geschah, gab Bauminister Axel Viehweger (FDP) eine Erklärung ab: Er habe im Rahmen seiner Tätigkeit als Stadtrat in Dresden Stasi-Kontakte gehabt. Er bereue zwar nichts und gestehe auch keine Schuld ein - akzeptiere aber die Spielregeln und trete zurück. Nun verlas Vizepräsident Ullmann die Namen. Einige der genannten Abgeordneten gaben daraufhin persönliche Erklärungen ab, in denen die meisten von ihnen die Kontakte mit dem MfS nicht leugneten - aber bestritten, anderen Menschen mit den gelieferten Informationen geschadet zu haben. Zu moralischer Schuld bekannte sich keiner von ihnen.
Nach dieser langwierigen Prozedur war das Plenum auf die Hälfte seiner Mitglieder zusammengeschmolzen. Gegen Mitternacht verabschiedeten sie ein letztes Gesetz: Die Strafgefangenen der DDR hatten nun das Recht, Urteile, die vor dem 1. Juli 1990 ergangen waren, durch einen unabhängigen Ausschuss überprüfen zu lassen.