Überall hantieren Gesellschaftsanalytiker oder Beobachter mit dem diffus wirkenden Begriff der Zivil- oder Bürgergesellschaft. Die Definitionen reichen von den umstürzlerischen Initiativen der polnischen "Solidarnosc", Vaclav Havels "Charta 77" in der früheren CSSR oder György Konrads ungarischer "Antipolitik", die alle den siechen Kommunismus zu Tode befördern halfen, über die Bedeutung des TV-Senders "Al-Dschasira" für die arabische Öffentlichkeit bis hin zu Protestbewegungen, die etwa in der Ukraine zur "orangenen" oder im Libanon zur "Zedern-Revolution" führten.
Steckt dahinter ein Konzept oder zumindest eine Vorstellung, und woher rühren diese? Einen verdienstvollen Überblick gibt der Göttinger Soziologe Frank Adloff in seinem knappen Buch. Die Sache an sich ist 2.500 Jahre alt, sie durchzieht das gesamte abendländische Denken. Schon Aristoteles kannte den Begriff des politischen Gemeinwesens. Cicero sprach von "societas civilis". Augustinus und Thomas von Aquin grenzten die göttliche ("civitas dei") von der diesseitigen Sphäre ab, die Aufklärer John Locke und Montesquieu die bürgerliche Gesellschaft vom heraufziehenden modernen Staat.
Der vor rund 15 Jahren mit den Umwälzungen in Osteuropa wiederbelebte Begriff steht für die gesellschaftspolitischen Räume zwischen Staat und Wirtschaft, ist aber weder identisch mit der Gesellschaft, noch stehen sämtliche wirtschaftlichen Aktivitäten gänzlich außen vor. Gemeint sind nichtstaatliche Organisationen, Verbände, Vereine, Stiftungen sowie politische, soziale oder Umwelt-Bewegungen und Initiativen. Es geht also um die "sozialen Beziehungen zwischen Bürgern", um den Raum, an dem sie sich als solche "treffen und solidarisch oder konflikthaft handeln". Dies tun sie in einem öffentlichen Raum, aber "nicht als Familienmitglieder, Bürokraten oder Wirtschaftsbürger, sondern in der Rolle des Citoyen".
Adloffs Buch liest sich wie eine unter dem Begriff von der Zivilgesellschaft gewendete politische Ideengeschichte, die in der Moderne mit einer nicht immer gängigen, anglo-amerikanischen Ahnengalerie staatsphilosophischer Geister aufwartet. Dazu zählen der Pragmatist John Dewey, Hannah Ahrendt und andere "libertäre Demokraten", die Kommunitarier um Amitai Etzioni, die in den 80er-Jahren mit der Wiederbelebung des bürgerschaftlichen Engagements gegen die Kälte von "Reaganomics" andachten, ferner Soziologen und Sozialphilosophen wie Charles Taylor, Michael Walzer, schließlich Jürgen Habermas mit seinen Diskurstheorien. Auch der Italiener Antonio Gramsci als kommunistischer "Theoretiker einer kulturellen Hegemonie" wird einbezogen, aber nicht Altvater Marx, der "die bürgerliche Gesellschaft zur Klassengesellschaft oder Bourgoisgesellschaft" verengt habe.
Dem Autor ist bewusst, dass in dem schillernden Begriff faktische Beschreibungen mit Wertungen und Zukunftsentwürfen verschmelzen. Sein Buch bietet indes den großen Vorteil, dass es neben der politischen Ideengeschichte den historischen Prozess der Staatsbildung untersucht, auch den deutschen Sonderweg einer "unzivilen Zivilgesellschaft", vor allem aber die zahllosen Organisationen des Non-Profit-Sektors und sozialen Bewegungen, in denen viele die eigentlichen Akteure der Zivilgesellschaft sehen. Wie normativ, gar utopisch aufgeladen der Begriff wirklich ist, zeigt sich am Ende des verdienstvollen Buches, wenn es um die Frage einer solchen Gesellschaft auf europäischer oder globaler Ebene geht.
Frank Adloff
Zivilgesellschaft.
Theorie und politische Praxis.
Campus Verlag, Frankfurt/M. 2005; 167 S., 14,90 Euro