Einleitung
Die Menschen lassen sich eher durch ein freundliches Gesicht und schöne Reden gewinnen, als durch konkrete Maßnahmen und Gefälligkeiten." Man dürfe deshalb im Wahlkampf nicht allzu zimperlich sein, sondern müsse allen alles versprechen. Man könne ja dezent dazusetzen, dass man es erfüllen werde, wenn es einem irgendwie möglich ist. Nach der Wahl hätten sich oft schon viele Angelegenheiten von selbst erledigt. Wird es dennoch unumgänglich, die Unmöglichkeit einzugestehen, sei der Betreffende zwar wütend, aber das wäre er auch, wenn man es vor der Wahl gesagt hätte. Der wichtigste Grundsatz sei jedoch, bloß keine konkrete Stellung zu einem Sachproblem zu beziehen. Man könnte ja potenzielle Wähler verschrecken, die darüber anders denken.
Diese tiefsinnigen Einblicke in die geeignete Präsentation im Wahlkampf stammen von einem Politikinsider, der seinem Kandidaten unbedingt zum Erfolg verhelfen wollte. Allerdings handelt es sich nicht um die Hilfestellungen eines "Spindoktors" aus dem letzten Bundestagswahlkampf, sondern die betreffende Wahl liegt nun schon mehr als 2 000 Jahre zurück. Für die Bewerbung des berühmten Redners Marcus Tullius Cicero um das Amt des Konsuls für das Jahr 63 v. Chr. verfasste dessen Bruder, Quintus Tullius Cicero, ein kurzes Handbuch mit Tipps für den Wahlkampf, das commentariolum petitionis. Viele der dort zusammengestellten Hinweise muten so aktuell an, dass man sich nicht wunderte, wenn sie so oder so ähnlich vom CDU-Berater Michael Spreng an Edmund Stoiber oder Angela Merkel weitergegeben worden wären.
In der gegenwärtigen öffentlichen Meinung herrscht es die weit verbreitete Überzeugung, dass die steigende Bedeutung der Medien in immer stärkerem Maße dazu führt, politische Inhalte durch Inszenierung von persönlichen Auftritten zu ersetzen. Früher hätten sich kernige Politiker vom Schlage eines Herbert Wehner oder Franz-Josef Strauß derartigen Verbiegungen bei öffentlichen Auftritten erfolgreich widersetzt. Heute aber bekäme man nur immer dieselben Typen zu sehen, weil die einflussreichen Berater im Hintergrund die individuellen Züge zugunsten einer demoskopieerprobten Sympathiefassade abschliffen.
Umso überraschender ist die Erkenntnis, dass schon in der Antike wohlwollende Ratgeber die persönliche Konturenlosigkeit als eine vielversprechende Wahlkampfstrategie propagierten. Wie kommt es zu dieser Parallelität zwischen postmoderner Kommunikationsgesellschaft und antikem Stadtstaat? Die Antwort liegt in der zunehmenden Durchdringung der Gesellschaft durch visuelle Medien, vor allem durch das Fernsehen. Hierdurch entsteht eine Kommunikationssituation in der Gesellschaft, die derjenigen in übersichtlichen Gemeinschaften nicht unähnlich ist. Den Fleck auf der Krawatte eines Kandidaten sieht jeder Zuschauer beim großen TV-Duell genauso deutlich, wie ein Römer auf dem forum Romanum die peinliche Verschmutzung auf der extra geweißten Toga, der toga candida, wahrgenommen hat. Sie kennzeichnete einen Politiker als Bewerber (candidatus) für ein hohes Amt. Face-to-face-Gesellschaften, in denen jeder jeden sieht, haben ihre eigenen Gesetze, egal wie groß oder "modern" sie sein bzw. sich fühlen mögen. 1 Dass die direkte Kommunikation dabei im Fernsehen nur simuliert und nicht real ist, macht dabei wenig Unterschied.
Der Druck der permanenten Außenwahrnehmung und die Angst vor spontanen Fehlern oder situativen Ungeschicklichkeiten lasten schwer auf allen politisch exponierten Persönlichkeiten. Einen wichtigen Schutz vor diesen Ausrutschern, die zum Teil schwere Imageschäden nach sich ziehen können, bietet die gezielte Inszenierung des eigenen öffentlichen Auftritts. 2 Das gezielte Rollenverhalten kann lange erprobt werden und erfüllt bei überzeugender Umsetzung die Erwartungshaltung des Publikums.
Strategien der Inszenierung
Die Strategie der Inszenierung besaß auch im politischen Leben der antiken Stadtstaaten eine zentrale Bedeutung. Im klassischen Athen des fünften Jahrhunderts v.Chr. treffen wir zumeist sehr individualisierte Umsetzungen dieser Strategien an. Während sich der Politiker Kimon zu Beginn des Aufstieges Athens zur Großmacht noch ganz bewusst als Aristokrat inszenierte, der huldvoll durch die Öffnung seiner Obstgärten die breiten Massen zumindest kurzfristig an seinem Lebensstil teilhaben ließ, trat 50 Jahre später der wohlhabende Handwerksmeister Kleon dezidiert als Sprachrohr des einfachen Volks auf. Unübertroffen in der Inszenierung blieb jedoch Perikles, der sehr zurückhaltend mit öffentlichen Auftritten war und dessen Reden dadurch einen politischen "Eventcharakter" bekamen, der seine Wirkung nicht verfehlte.
Im Kontrast zum demokratischen Athen wählten die römischen Aristokraten eine Inszenierung, bei der der individuelle Aspekt zugunsten der Leistungsfähigkeit großer Familien in den Hintergrund trat. Nicht die Persönlichkeit des Einzelnen wurde hervorgehoben, sondern die Herkunft aus einem Haus, das in der res publica schon seit langer Zeit führende Politiker gestellt hatte. Die Wahlkämpfe um das Konsulat, den Zenit der Ämterlaufbahn, wurden daher auch nicht als fundamentale Richtungsentscheidungen über den Weg der Gesellschaft inszeniert, sondern als Wiederholungen und Bestätigungen früherer Entscheidungen des römischen Volkes. Die Wahl eines Appius Claudius Pulcher oder Quintus Caecilius Metellus zum Konsul war nicht Ausdruck einer intensiven Erwartungshaltung in die persönliche Fähigkeit des gewählten Kandidaten, sondern ein Vertrauensbeweis für die politischen Leistungen des gesamten Familienclans. Man könnte von einem besonders ausgeprägten "Kennedyeffekt" sprechen, der die politische Orientierung der römischen Wähler dominierte. Doch so beeindruckend die politischen Erfolge dieser amerikanischen Familie in den zurückliegenden Jahrzehnten sein mögen, so bescheiden, ja parvenuhaft nehmen sie sich gegenüber der Tradition der großen römischen Geschlechter aus. 28 Konsuln in 500 Jahren, das war die Bilanz der Claudii, die damit unbestritten die erfolgreichste Familie im republikanischen Rom waren.
Beerdigungsrituale
Damit die Bevölkerung nicht das Bewusstsein für diese Dauerhaftigkeit und Intensität der Leistungen für das Gemeinwesen verlor, setzten die großen Familien ihre politischen Erfolge immer wieder in einzigartiger Weise in Szene. 3 Anlass dafür bot ihnen unter anderem die Beisetzung wichtiger Familienmitglieder, die hohe Ämter im Staate bekleidet hatten. Die Tatsache, dass bei diesem Anlass ein feierlicher Trauerzug in das städtische Zentrum organisiert wurde und die Verdienste des Verstorbenen und seiner Familie in eindringlicher Rede hervorgehoben wurden, unterscheidet die römische Zeremonie nicht von den Gedenkfeiern in anderen Kulturen. Das Besondere an dem römischen Ritual der pompa funebris bestand darin, dass die Vorfahren des Toten nicht nur rhetorisch beschworen wurden, sondern physisch vor der versammelten Menge anwesend waren. Bei der Beisetzung eines erfolgreichen Familienmitgliedes wurden alle Vorfahren, die hohe Staatsämter bekleidet hatten, wieder lebendig und nahmen den Verstorbenen in ihre Reihen auf.
Möglich wurde dieses Schauspiel dadurch, dass in den aristokratischen Häusern die Masken der Vorfahren in hölzernen Schreinen aufbewahrt wurden, die erstaunlich genau deren individuelle Gesichtszüge wiedergaben. Die Verwendung dieser Masken in der Beerdigungszeremonie schildert der Grieche Polybios in einer berühmten Passage seines Geschichtswerkes: "Diese Schreine öffnen sie bei großen Festen und schmücken die Bilder, so schön sie können, und wenn ein angesehenes Mitglied der Familie stirbt, führen sie sie im Trauerzug mit und setzen sie Personen auf, die an Größe und Gestalt den verstorbenen möglichst ähnlich sind. Diese tragen dann, wenn der Betreffende Konsul oder Prätor gewesen ist, Kleider mit einem Purpursaum, wenn Censor, ganz aus Purpur, wenn er aber einen Triumphzug gefeiert und die dementsprechenden Taten vollbracht hatte, goldbestickte Kleidung. Sie fahren auf Wagen, denen Rutenbündel und Beile und die anderen Insignien des Amtes, je nach Würde und dem Rang, den ein jeder in seinem Leben bekleidet hatte, vorangetragen werden, und wenn sie zur Rednertribüne auf dem Forum gekommen sind, nehmen alle in einer Reihe auf elfenbeinernen Amtsstühlen Platz. Man kann sich nicht leicht ein großartigeres Schauspiel denken für einen Jüngling, der nach Ruhm verlangt und für alles Große begeistert ist. Denn die Bilder der wegen ihrer Taten hochgepriesenen Männer dort alle versammelt zu sehen, als wären sie noch am Leben und beseelt, auf wen sollte das nicht einen tiefen Eindruck machen?" (6,53)
Für Polybios stand die suggestive Wirkung, die diese Darstellung republikanischer Tradition auf die Zuschauer entfaltete, außer Frage. Für den modernen Betrachter hat dieses öffentliche Ritual jedoch zweifellos etwas Bizarres an sich. Man stelle sich vor, eine übereifrige Parteitagsregie käme heute auf die Idee, August Bebel oder Ferdinand Lassalle "lebendig" werden zu lassen, um die Einordnung des neuen Vorsitzenden in die lange Tradition der Partei zu demonstrieren. Die Delegierten wären bestenfalls amüsiert. Viele dürften dieses Schauspiel jedoch als geschmacklos und der Würde der großen Persönlichkeiten als vollkommen unangemessen ansehen. Für die Römer war die konkrete Visualisierung und physische Erlebbarkeit der Vorfahren offensichtlich ganz selbstverständlich.
Hier wird eine ganz andere Sicht auf die Gesellschaft und deren historische Verwurzelung deutlich. In der Moderne wird die Zeit vor allem als ein Medium der Veränderung begriffen, in dessen Verlauf die Gesellschaft signifikanten Transformationsprozessen unterliegt. Die länger zurückliegenden Ereignisse stehen in einem immer schwächeren Bezug zur Gegenwart. Die Römer hingegen waren der festen Überzeugung, dass die wesentlichen Elemente ihrer Gesellschaft eine überzeitliche Kontinuität aufwiesen. Die Gegenwart war also von früheren Epochen nicht durch den unüberwindlichen Graben unumkehrbarer, zeitlicher Abläufe geschieden. Die historische Dimension ihres Daseins bildete für sie weniger ein trennendes Element als ein übergreifendes Kontinuum, das die gegenwärtige Gesellschaft mit den Vorfahren verband.
Deshalb hatte das Schauspiel der situativen Revitalisierung historischer Persönlichkeiten im Rahmen der Beerdigungszeremonien für sie keine skurrilen Züge. Natürlich war allen Beteiligten klar, dass die dargestellten Persönlichkeiten nicht mehr lebten. Doch in der kollektiven Orientierung blieb das Wirken dieser Männer von unmittelbarer Relevanz. 4
Gesellschaftliche Ordnung
Diese besondere Sicht auf die Geschichte kann man nur verstehen, wenn man sich die Auswirkungen des atemberaubenden Aufstiegs Roms zur Weltmacht zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert v.Chr. vergegenwärtigt. Ausgangspunkt für die beeindruckende Entwicklung war ein Ausgleich der Interessen zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppierungen, den die römische Gesellschaft nach langen inneren Konflikten gefunden hatte. Die mächtigen Familien des alten patrizischen Erbadels hatten unter dem starken Druck einer gut organisierten Mittelschicht ihren politischen Monopolanspruch aufgegeben. Die hohen Ämter wurden auch für Nichtpatrizier zugänglich, deren führende Familien bald auf Augenhöhe mit den patrizischen Geschlechtern agierten. Nicht mehr die Sicherheit einer ererbten Position war die Grundlage für die Teilhabe an der Leitung des Staates, sondern die Bewährung jedes einzelnen Kandidaten in der scharfen politischen Konkurrenz unter den Bewerbern. Konnte man bei den Wahlen noch auf die Leistungen der gesamten Familie für die Gemeinschaft verweisen, musste man spätestens bei der Amtsführung diesen "Kredit bei den Vorfahren" zurückzahlen und das Ansehen der eigenen Familie durch glänzende Erfolge vergrößern. Der Status jeder Familie musste immer wieder neu erworben und gefestigt werden. Aus einem Erbadel war ein Leistungsadel geworden.
Besonders geeignet zur Selbstdarstellung waren Erfolge über auswärtige Gegner, die von allen Mitbürgern begrüßt wurden. Unter dem enormen Druck der politischen Logik ließen viele Amtsinhaber ihr kurzes Amtsjahr nicht einfach "sinnlos" verstreichen, sondern suchten die Möglichkeit zur militärischen Profilierung. So ging die Phase der innenpolitischen Befriedung gleitend in die außenpolitische Expansion über. 5
Eine Aristokratie mit prekärem Status, die sich in jeder Generation neu beweisen musste, war jedoch nur ein Faktor für die Ausdehnung Roms. Noch wichtiger für die militärische Leistungsfähigkeit war ein anderer: eine statussichere Mittelschicht, die sich intensiv mit dem Gemeinwesen und seinen politischen Ambitionen identifizierte. Im Kampf gegen den alten patrizischen Adel hatte sich die Mittelschicht eine weitgehende Autonomie ihrer Familien und deren häuslicher Sphäre gesichert. Jeder männliche Römer - egal ob reich oder arm - wurde nach dem Tode seines Vaters (bzw. Großvaters, wenn dieser den Vater überlebt hatte) zum eigenständigen Oberhaupt eines Haushaltes, zum pater familias. Alle wesentlichen Angelegenheiten, die die familia betrafen, wurden von ihm in freier Entscheidung geregelt. Dabei besaß er eine Strafgewalt über alle Angehörigen seines Haushaltes, die bis zur Verhängung von Todesurteilen nach der Beratung in einem Hausgericht reichen konnte. Diese Familienoberhäupter waren stolze Männer, die selbstbewusst an der öffentlichen Sphäre partizipierten. Es war ihre "gemeinsame Angelegenheit", ihre res publica, die ihre Autonomie schützte und für die sie sich daher auch mit aller Kraft einsetzten. So waren die Römer bereit, jedes Jahr sich selbst oder ihre Söhne im Militärdienst zum Wohle der res publica zu engagieren. 6
Damit stand der erfolgshungrigen Oberschicht, die sich unter einem starken Legitimationsdruck befand, ein schier unerschöpfliches Personalreservoir aus der Mittelschicht für die militärischen Aushebungen zur Verfügung - eine explosive Mischung, der langfristig kein Gemeinwesen im Mittelmeerraum gewachsen war.
Dieser ungeheure Erfolg des Gemeinwesens beruhte nach der festen Überzeugung der Römer darauf, dass man die im vierten Jahrhundert v.Chr. etablierte gesellschaftliche Ordnung in ihren Kernfaktoren unverändert beibehalten hatte. So kontrastierte für sie die äußere Dynamik, die sich im Aufstieg ihrer Stadt von einer kleineren Mittelmacht zu einer alles beherrschenden Weltmacht niederschlug, mit der Konstanz der inneren Verhältnisse. Die gesellschaftliche Konstellation Roms schien sich von der Geschichte und ihren Wechselfällen losgelöst und eine eigene dauerhafte Form angenommen zu haben, die sich dem steten Wandel entzog. Die evidenten Veränderungen, die sich aus den Rückwirkungen der Eroberungen auch auf die Gesellschaft ergaben, wurden zugunsten einer Kontinuitätsfiktion ausgeblendet. 7 Diese Kontinuitätsbehauptung bezog sich für den einfachen Römer aber nicht nur auf den Führungsanspruch der Aristokratie, sondern vor allem auf seinen Status als Bürger der res publica.
Dies wurde auch bei den Beerdigungsritualen, den pompae funebris, deutlich. All die wichtigen Persönlichkeiten, die mit ihren Amtsinsignien neben der Rednerbühne Platz nahmen, verdankten ihre Präsenz bei dem Ritual nicht primär ihrer Abstammung aus einer aristokratischen Familie, sondern der Wahl durch das Volk in die hohen Ämter. In der Zusammensetzung des Beerdigungszuges spiegelten sich also auch die Wahlentscheidungen der Vorfahren der aktuellen Wähler wider, die als einfache Bürger das Schauspiel verfolgten. So wurde jede pompa zu einer Feier der politischen Tradition des ganzen römischen Volkes.
Die Botschaft der prächtigen pompae funebris an die nachwachsenden Generationen der großen Geschlechter war es daher nicht, die Loslösung aus dem Kommunikationszusammenhang mit dem Volk angesichts der herausgehoben Herkunft zu betreiben. Ganz im Gegenteil: Den jungen Aristokraten wurde drastisch vor Augen geführt, was demjenigen drohte, der in der politischen Sphäre versagte. Er wurde langfristig einfach vergessen, aus dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft entfernt. Wer kein hohes Amt erreichte, fand keinen Platz in den späteren pompae der Familie. Emotional mag er mit seinen Eltern eng verbunden gewesen sein, doch für das kollektive Gedächtnis späterer Generationen hat er schlicht nie existiert.
Die Relevanz für die kollektive Erinnerung der Gesellschaft war also auf das engste mit dem politischen Erfolg verbunden, und der wurde von den Bürgern verliehen. Die eindringlichen Ratschläge von Quintus Tullius Cicero an seinen Bruder Marcus über das adäquate Verhalten im Wahlkampf, die wir am Anfang unserer Betrachtungen kennen gelernt haben, galten also nicht nur für politische Aufsteiger wie die Cicerones. Auch die Sprösslinge aus den alten Familien taten gut daran, im Umgang mit ihren Mitbürgern nicht den angemessenen Respekt zu vergessen, wollten sie nicht den Erfolg bei der Wahl aufs Spiel setzen. Wie empfindlich die Bürger auf arrogante Herablassungen reagierten, musste der adelsstolze Publius Cornelius Scipio Nasica, der einem der ältesten Geschlechter Roms angehörte, im zweiten Jahrhundert v.Chr. bei seiner Bewerbung um die Ädilität erfahren. Beim Händeschütteln auf dem Forum geriet er an einen Bauern, der hart auf seinem Acker arbeiten musste. Angesichts der schwieligen Hand konnte Nasica sich die scherzhafte Frage nicht verkneifen, ob er denn auch auf seinen Händen liefe. Der Witz kam weder bei dem angesprochenen Bauern noch beim Volk gut an. Nasica fiel bei seiner Bewerbung durch (Valerius Maximus 7,5,2).
Im Umgang mit ihren Mitbürgern war es für die römische Aristokratie eine wesentliche Verpflichtung, die sozialen Unterschiede nicht zu betonen, sondern durch ihr Verhalten eher zu überdecken, indem man auf den gemeinsamen Status als römischer Bürger verwies. Diese besondere Kommunikationsform, bei der jedem der Beteiligten die Rangunterschiede bewusst waren und trotzdem eine egalitäre Ebene inszeniert wurde, wird in der aktuellen Forschung treffend als "Jovialität" bezeichnet. 8
Diese jovialen Umgangsformen können jedoch nicht als eine substanzlose Fassade betrachtet werden. Die römische Aristokratie war lange Zeit klug genug, zu begreifen, dass ihr eigener Erfolg auf dem Engagement der einfachen Bürger basierte und die jovialen Umgangsformen daher sehr wohl eine tiefere gesellschaftliche Verankerung besaßen. Nur gemeinsam waren die immensen Erfolge zu erringen, von denen letztlich alle profitierten.
Triumphzüge
Diese kollektive Leistungsfähigkeit wurde für die Römer vor allem durch ein Ritual versinnbildlicht: den Triumphzug über die besiegten Feinde. Der Triumph war und blieb im Kern eine religiöse Feier. Zu Beginn jedes Feldzuges begab sich der kommandierende Feldherr zum großen Tempel des Jupiter Optimus Maximus, der vom Capitol aus die Stadt überragte. Nur wenn der höchste Gott im Opferritual den Sieg versprach, durfte das Heer zum Kampf aufbrechen. Zum Dank für seine Unterstützung gelobte der Feldherr, dem Gott nach der Rückkehr ein erneutes Opfer darzubringen.
War schließlich ein bedeutender Sieg errungen, schloss sich der religiöse Kreislauf. Nachdem schon das ganze Volk den Göttern für den Sieg gedankt hatte, zog der siegreiche Feldherr in einer prächtigen Zeremonie mit seinem Heer in die Stadt. Die Triumphaltracht, die er trug, wurde im Tempel des Jupiters verwahrt und verlieh dem Triumphator deutliche Bezüge zum höchsten Gott. Gekleidet in Purpur, auf der Quadriga stehend, das Adlerszepter in der Hand und den Lorbeerkranz auf dem Kopf musste er den Menschen, die staunend das prachtvolle Ritual verfolgten, wie eine Inkarnation des Gottes selbst erscheinen. Selbst sein Gesicht war wie die Statue des Jupiters rot gefärbt. Eine solche Nähe zum Gott wurde von keinem anderen Römer erreicht. Sakrale Kraft und staatliche Macht fielen für kurze Zeit zusammen. Am Schluss der Zeremonie begab sich der Feldherr auf das Capitol und vollzog ein prachtvolles Opfer für Jupiter. Sein Versprechen war eingelöst.
Das wachsende Gefühl der gemeinschaftlichen Überlegenheit und des besonderen göttlichen Schutzes entlud sich im Verlauf der Republik geradezu in der immer prächtigeren Ausrichtung dieser sakralen Zeremonien. Zum legendären Höhepunkt wurde schließlich der Triumph, den Lucius Aemilius Paullus 167 v.Chr. über den Makedonenkönig Perseus feierte. Drei Tage waren nötig, um die Beute des Krieges im Triumphzug in die Stadt zu bringen (Plutarch, Aemilius Paullus, 32-34). Hunderte von Wagen, beladen mit Statuen, Gemälden, silbernem Geschirr und kostbaren Waffen, wurden gezeigt. 3 000 Männer trugen das erbeutete Silbergeld in 750 Gefäßen. In 77 Gefäßen befanden sich Goldmünzen. Im Anschluss an besondere Stücke aus dem Königsschatz musste schließlich der besiegte Perseus selbst zusammen mit seiner Familie im Zug mitlaufen, um den Zuschauern noch einmal den tiefen Fall des mächtigen Gegners in Erinnerung zu rufen. Am Ende zog schließlich Aemilius Paullus in der purpurnen Tracht des Triumphators in die Stadt ein. Die immense Beute, die er mitbrachte, reichte aus, um in Rom die direkten Steuern abzuschaffen.
Das Ende der Republik
Viele der Zuschauer dieser imposanten Inszenierung wird das Gefühl erfüllt haben, in einem Gemeinwesen zu leben, dessen Kraftentfaltung weder räumliche noch zeitliche Grenzen gesetzt sind. Nur die wenigsten ahnten, dass sich schon in dieser Zeit grundlegende Probleme für ihre Gemeinwesen abzeichneten. Die zunehmende Selbständigkeit der Kommandeure, die sich aus der wachsenden Größe des Herrschaftsbereiches ergab, die steigende materielle Konkurrenz innerhalb der Oberschicht infolge des gehobenen Wohlstandsniveaus sowie die höheren Anforderungen und stärkeren Rückwirkungen des Wehrdienstes für die Mittelschicht - all diese Faktoren könnte man als "Dehnungseffekte" bezeichnen, denen die stadtstaatlichen Gesellschaftsstrukturen Roms beim Aufstieg zum Weltreich unterlagen.
Doch am Ende der krisenhaften Entwicklung der späten Republik etablierte sich in Rom bezeichnenderweise keine autoritäre Monarchie, die die Bürger zu bloßen Untertanen degradiert hätte. Diese Option schied mit der Ermordung Caesars am 15. März 44 v.Chr. aus dem politischen Leben Roms aus. Stattdessen setzte sich ab 30 v.Chr. mit der endgültigen Machtübernahme von Caesars Adoptivsohn Augustus eine "kommunikative Monarchie" durch, die ihre Legitimation aus einer Vielzahl von Ritualen der gegenseitigen Anerkennung zwischen Bevölkerung und Herrscher bezog. So lebte die Tradition der sozialen Vernetzung und der schichtenübergreifenden Kommunikation, die Rom groß gemacht hatte, auch in der Kaiserzeit fort. Die Monarchie begrenzte den Wettbewerb zwischen den Adligen, der in der späten Republik gewalttätig eskaliert war. Mit dem neuen Herrscher erhielten die Bürger wieder eine eindeutige Integrationsfigur, die sich gemäß der Herrschaftsideologie für die Belange aller Römer gleichermaßen einsetzte - eine Rolle, die die römische Aristokratie über lange Zeit in der Republik souverän verkörpert hatte. Auf diese Weise besaßen die Bürger mit Augustus einen würdigen Erben der alten Nobilität, der die Einheit der Gesellschaft zu sichern verstand.
Nur wenn man auf die hauchdünne senatorische Oberschicht blickt, hatte der Übergang von der Republik zur Monarchie also den Charakter einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung. Für die einfachen Römer bestand der Kern der Republik jedoch nicht in der Machtausübung der Aristokratie. Entscheidend war für sie vielmehr die bemerkenswerte Eigenständigkeit ihrer Lebenswelt, und diese blieb auch unter dem neuen Machthaber Augustus und seinen Nachfolgern lange Zeit weitgehend ungeschmälert erhalten. Sie konnten sich auch weiterhin stolz als römische Bürger fühlen. Für sie hatte daher die res publica ihren zeitlosen Charakter nicht verloren - so blieb Rom auch in der Kaiserzeit durch ihr Engagement für weitere 400 Jahre eine Erfolgsgeschichte.
1 Vgl. Peter A.
Berger, Anwesenheit und Abwesenheit. Raumbezüge sozialen
Handelns, in: Berliner Journal für Soziologie, 5 (1995), S. 99
- 111 und Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden.
Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt,
in: ders. (Hrsg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der
frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 9 - 60.
2 Vgl. Erving Goffman,
Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation,
Frankfurt/M. 1996.
3 Vgl. Egon Flaig, Ritualisierte
Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom,
Göttingen 2003.
4 Vgl. Uwe Walter, Memoria und res
publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Frankfurt/M.
2004.
5 Vgl. Bruno Bleckmann, Die
römische Nobilität im Ersten Punischen Krieg.
Untersuchungen zur aristokratischen Konkurrenz in Rom, Berlin
2002.
6 Vgl. Bernhard Linke, Bürger ohne
Staat? Die Integration der Landbevölkerung in der
römischen Republik, in: Janbernd Oebbecke (Hrsg.),
Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, Nassauer
Gespräche der Freiherr-vom Stein-Gesellschaft, Bd. 7,
Stuttgart 2005, S. 121 - 150.
7 Vgl. Claudia Tiersch, Dauer durch die
Nichtanerkennung von Wandel? Ciceros Rede für Sestius - Ein
Zeugnis der Krise der römischen Republik, in: Stephan
Müller/Gary S. Schaal/Claudia Tiersch (Hrsg.), Dauer durch
Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und
Transformation, Köln u.a. 2002, S. 281 - 299.
8 Vgl. Martin Jehne, Jovialität und
Freiheit. Zur Institutionalität der Beziehungen zwischen Ober-
und Unterschichten in der römischen Republik, in: Bernhard
Linke/Michael Stemmler (Hrsg.), Mos mairoum. Untersuchungen zu den
Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der
römischen Republik, Stuttgart 2000, S. 207 - 235.