Einleitung
Politik und Leben fallen zunehmend auseinander. In der Konfrontation mit einem nur noch begrenzt als leistungsfähig erlebten Staat wird die Rückgewinnung des Bürgers als eigenverantwortlich handelndes Subjekt zum Ansatzpunkt gesellschaftspolitischer Reformen. Dieser Prozess lässt sich für viele westliche Länder beobachten und wird aus unterschiedlichen Quellen gespeist: 1 - Die Überlastung des Staates durch die Übernahme immer neuer Aufgaben im Zuge des Ausbaus des Sozialstaats wird dynamisiert durch die bereits Mitte der siebziger Jahre einsetzende Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung. - Die Steuerungsfähigkeit des demokratischen Systems wird eingeschränkt durch Globalisierungsprozesse. Die Handlungsspielräume nationaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik werden immer stärker reduziert. - Die Bildungsexpansion seit Ende der sechziger Jahre steigert das Partizipationsbedürfnis der Menschen. Beteiligung gilt als zukunftsweisendes Prinzip der postindustriellen liberalen Demokratie. Die aktive Teilhabe des Bürgers kann in dieser Sicht nicht auf das Wahlrecht beschränkt werden, sondern das demokratische Gemeinwesen verwirklicht sich erst in einer möglichst umfassenden Mitwirkung des Einzelnen an Entscheidungen. Demokratie wird nicht mehr vorrangig als Staatsform angesehen, sondern als Lebensform. 2
Vor diesem Hintergrund gewinnt das Leitbild der Bürgergesellschaft an politischer Überzeugungskraft: Der Einzelne übernimmt einerseits für die Belange des Gemeinwesens größere Verantwortung und bekommt andererseits erweiterte Teilhabemöglichkeiten. "Bürgergesellschaft heißt, sich von der Vorstellung der Allzuständigkeit des Staates zu verabschieden, zuzulassen und zu fordern, dass Bürgerinnen und Bürger in größerem Maße für die Geschicke des Gemeinwesens Sorge tragen. Bürgergesellschaft ist eine Gesellschaft selbstbewusster und selbstverantwortlicher Bürger, eine Gesellschaft der Selbstermächtigung und Selbstorganisation." 3
Die skizzierten gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien haben dazu beigetragen, dass in den vergangenen 20 Jahren ein grundlegender Umdenkungsprozess im Bereich der Kinderrechte stattgefunden hat. Insbesondere die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1992 hat das Thema der Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland befördert. Doch die normative Forderung "Auch Kinder haben Rechte!" ist nicht der einzige Begründungszusammenhang. In der öffentlichen Diskussion wird für eine Stärkung der Kinder- und Jugendbeteiligung mit weiteren Argumenten geworben: - Die Individualisierung von Lebensläufen, die Pluralisierung von Lebensformen und die Internationalisierung der Bevölkerung bedingen die Frage, wie die Vermittlung gesellschaftlicher Werte und der Aufbau sozialen Kapitals zukünftig gelingen kann. Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche werden vor diesem Hintergrund pädagogisch begründet. Sie sind Handlungsansatz der Erziehung und der Wertevermittlung. In dieser Perspektive werden Partizipationsprojekte auch zum Hebel, um defizitäre gesellschaftliche Entwicklungen, wie beispielsweise Gewalt und Rechtsextremismus, zu bekämpfen. - Zunehmend in den Mittelpunkt rückt der demografische Begründungszusammenhang. Kinder werden als "Humanressource", als zukünftiges Kapital für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft wahrgenommen. Der nachwachsenden Generation wird einerseits die Aufgabe zugeordnet, gesellschaftliche Innovationen anzustoßen, anderseits geht es um Fragen der Systemstabilisierung, etwa der Finanzierung der Sozialversicherungen. Funktional und nicht vom Kind als Subjekt ausgehend, wird die Notwendigkeit der Kinder- und Jugendpartizipation mit einem Kompetenzaufbau für künftige Aufgaben begründet. Das Argument, aus Zweck-Mittel-Überlegungen die Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu stärken, zieht jedoch berechtigte Kritik auf sich. - Ebenfalls durch den demografischen Wandel hat der Aspekt der Generationengerechtigkeit an Gewicht gewonnen. Da die nachwachsende Generation erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte vor der Situation steht, dass sie mit weniger Ressourcen auskommen muss, anstatt von einem ungebremsten Wachstum profitieren zu können, stellt sich die Frage des Interessenausgleichs zwischen Alt und Jung neu. Die Forderung, Kinder und Jugendliche stärker zu beteiligen, wird angesichts des anstehenden Problemdrucks mit der Notwendigkeit begründet, der Tendenz demokratischer Systeme zu begegnen, Probleme in die Zukunft zu verschieben und ihre Lösung den nächsten Generationen zu überantworten. - Im Hinblick auf Planungsprozesse, beispielsweise in der Stadtentwicklung, hat sich in den vergangenen Jahren ein kommunikativer Ansatz durchgesetzt: Die Betroffenen werden von Anfang an einbezogen. Auf diese Weise sollen nicht nur Planungsfehler vermieden werden, sondern es wird auch darauf abgezielt, Umsetzungswiderstände zu minimieren. Dialogorientierte Verfahren sollen dazu beitragen, Städte lebenswerter zu machen - und diese im zunehmenden Standortwettbewerb auch als kinder- und familienfreundlich zu profilieren. Eine Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an sie betreffenden Planungsprozessen entspricht den Qualitätsanforderungen dieses Planungsverständnisses. Sie werden als Experten für ihre eigenen Angelegenheiten angesprochen; ihnen wird die Möglichkeit gegeben, ihre Anliegen und Bedürfnisse einzubringen, da Planer diese nur in Teilen antizipieren können.
Die Partizipation junger Menschen hat in den vergangenen 20 Jahren somit in Wissenschaft und Praxis eine deutliche Aufwertung erfahren. Dabei sind nachhaltige Demokratieentwicklung, Schaffung individueller Bildungschancen, Qualifizierung von Planungsprozessen und soziale Integration gewichtige Argumente für die Beteiligung junger Menschen.
In Anbetracht dieser Zielsetzung ist mit Partizipation also mehr als nur die übliche deutsche Übersetzung des lateinischen Wortes "Teilhabe" gemeint. Denn Teilhabe bedeutet im umgangssprachlichen Gebrauch im Allgemeinen nicht mehr, als sich an irgendetwas zu beteiligen. Viele Erwachsene - in der Politik und in der Erziehung - verstehen unter Partizipation nur, dass man Kinder und Jugendliche zu Wort kommen lässt und ihnen Gehör schenkt.
Doch erst wenn Kinder und Jugendliche an Entscheidungen mitwirken, die sie betreffen, wenn sie in wichtigen Belangen mitbestimmen und auf diese Weise aktiv ihre Lebensbereiche mit gestalten, kann von Partizipation im eigentlichen Sinne gesprochen werden. 4 So verstanden, bedeutet Partizipation von Kindern und Jugendlichen - in Übereinstimmung mit dem ursprünglichen lateinischen Wortsinn (partem capere) -, einen Teil der Verfügungsgewalt über die eigene Lebensgestaltung von den Erwachsenen zu übernehmen.
Der Partizipation im öffentlichen Raum, das heißt im kommunalen Gemeinwesen, kommt eine besondere Bedeutung zu, weil der Wohnort und damit das unmittelbare Lebensumfeld biografisch der erste gesellschaftliche und politische Lernort ist. Hier entscheidet sich maßgeblich, welche Einstellungen junge Menschen zur Politik und deren Vertretern sowie zur Demokratie allgemein erwerben, ob Kinder und Jugendliche tatsächlich als Akteure ihrer eigenen Lebensgestaltung ernst genommen und in die Gestaltung des gesellschaftlichen und politischen Lebens einbezogen oder ob sie nur für politische Zwecke der Erwachsenen instrumentalisiert werden.
Formen der Beteiligung
Hinsichtlich der Formen, Methoden und Vorgehensweisen der Kinder- und Jugendbeteiligung gibt es unterschiedliche Ansätze. Differenziert werden kann zwischen kinderpolitischen Modellen, in denen Erwachsene die Interessen von Kindern und Jugendlichen anwaltschaftlich vertreten, zum Beispiel durch Kinderbeauftragte, Kinderkommissionen, Kinderbüros oder Kinderanwälte, und Ansätzen, in denen Kinder unmittelbare Beteiligungsmöglichkeiten haben. Letztere lassen sich wiederum strukturieren nach repräsentativen, offenen und projektorientierten Verfahren. Während in repräsentativen Modellen junge Menschen stellvertretend die Interessen ihrer Altersgruppe wahrnehmen, eröffnen Kinder- und Jugendforen spontane und personell nicht eingegrenzte Teilnahmemöglichkeiten. Projektorientierte Formen sind schließlich durch einen thematischen Fokus und eine zeitliche Begrenzung der Mitarbeit gekennzeichnet.
Oft sind anwaltschaftliche Formen mit unmittelbaren Beteiligungsmöglichkeiten verknüpft. Hinsichtlich der unmittelbaren Beteiligung besteht in der Fachdiskussion Konsens darüber, dass jede der Beteiligungsformen mit Vor- und Nachteilen behaftet ist. Die repräsentativen Formen erreichen nicht alle Kinder und Jugendlichen und begünstigen strukturell ältere, männliche und gut gebildete Jugendliche. 5 Offenen und projektorientierten Formen mangelt es hingegen oft an Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit. Festzustellen ist, dass bislang noch nicht in ausreichendem Maße nach Wegen gesucht wird, die unterschiedlichen Ansätze miteinander zu verbinden und dadurch eine neue Qualität im Bereich der Kinder- und Jugendpartizipation zu erreichen.
Eine Mischung der verschiedenen Beteiligungsverfahren bietet die Chance, den je spezifischen Interessen junger Menschen gerecht zu werden. Eine ganzheitliche Bearbeitung des Themas eröffnet verschiedene Zugangskanäle und kann auch einen Beitrag zu einer nachhaltigen Verankerung von Beteiligungsaktivitäten im kommunalen Raum leisten.
Zwar gibt es noch andere wichtige Lebensbereiche, in denen Kinder und Jugendliche Partizipationserfahrungen sammeln können, nämlich die Familie und die Schule, aber diese sind von einem schützenden Rahmen umgeben und sind deshalb eher vor- und nebengelagerte Lernfelder für Partizipation in der Kommune. Die aus verschiedenen Jugendstudien der letzten Jahre bekannten Ergebnisse zur "Politikverdrossenheit" lassen darauf schließen, dass die junge Generation viel zu selten Gelegenheit hat, Erfahrungen - und zwar gute - mit Partizipation im öffentlichen Raum zu sammeln.
Transparenz schaffen, Beteiligung stärken
Projekte und Angebote zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erleben nicht zuletzt vor dem Hintergrund der oben beschriebenen gesellschaftlichen Herausforderungen einen regelrechten Boom: Viele Kommunen definieren "Kinderfreundlichkeit" sowiedamit verbundene bessere Teilhabechancen für junge Menschen als ein zentrales Zukunftsthema. Zahlreiche innovative Einzelprojekte zeigen, dass verbesserte Partizipationsangebote gerade auch unter herausfordernden finanziellen bzw. sozialen Rahmenbedingungen erfolgreich sein können.
Dennoch gibt es Handlungsbedarf: Viele Beteiligungsangebote und -verfahren leiden unter mangelnder Nachhaltigkeit und sind oftmals nicht oder nur wenig mit anderen Projekten im kommunalen und schulischen Raum vernetzt. Starke, ohnehin beteiligungsaffine Zielgruppen werden vor allem durch parlamentarische, der Lebenswelt Erwachsener entlehnte Angebote strukturell bevorzugt. Die pädagogischen Fachkräfte in kommunalen Jugendeinrichtungen und Schulen sind häufig nicht ausreichend qualifiziert, um komplexe Verfahren und Planungsprozesse zielgruppengerecht zu moderieren. Auch das vorhandene empirische Wissen reicht nicht aus, um zuverlässige Aussagen über das Mitwirkungspotenzial von Kindern und Jugendlichen, die bevorzugten Beteiligungsformen und die Nutzung der bestehenden Angebote zu treffen. Insbesondere die Frage, wie Kommunen gezielt die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken und ihre Angebote besser an den Nutzern ausrichten können, ist bisher unbeantwortet geblieben.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen hat die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit ihren Partnern UNICEF und dem Deutschen Kinderhilfswerk unter dem Titel "mitWirkung!" eine Initiative zur Stärkung der Kinder- und Jugendpartizipation in der Kommune gestartet. Die Initiative hat zum Ziel, dass sich junge Menschen aktiv und informiert in die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens einbringen. Aus dieser übergeordneten Zielsetzung wurden folgende Teilziele abgeleitet: - Herstellung von Transparenz über die gegenwärtige Partizipationssituation junger Menschen durch eine umfassende empirische Untersuchung; - Identifizierung von Beispielen guter Praxis zur strukturellen Absicherung von Partizipation im kommunalen Gemeinwesen; - Entwicklung von Strategien für die Aktivierung junger Menschen und Schaffung von Referenzmodellen für vorbildliche Kinder- und Jugendbeteiligung im Rahmen ausgewählter Modellprojekte; - nachhaltige und flächige Verankerung von Kinder- und Jugendpartizipation durch Transfer der Projektergebnisse.
Alle Teilziele der Initiative "mitWirkung!" sind darauf ausgerichtet, öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit der Beteiligung junger Menschen zu schaffen.
Grundlegende Voraussetzung dafür, dass Kinder- und Jugendpartizipation auf kommunaler Ebene strategisch gestärkt und nachhaltig verankert werden kann, ist eine umfassende Analyse der gegenwärtigen Partizipationssituation von Kindern und Jugendlichen. Dabei geht es um zweierlei: erstens um eine beschreibende Bestandsaufnahme der Partizipationsangebote auf kommunaler Ebene und des tatsächlichen Partizipationsverhaltens junger Menschen und zweitens um die Identifizierung derjenigen Bedingungen, die für Mitwirkung, Beteiligung und Mitgestaltung in der Kommune förderlich bzw. hinderlich sind.
Zu diesen Bedingungen gehören, so ist zu vermuten, insbesondere folgende Einflussfaktoren: auf Seiten der Kommune die Partizipationsmöglichkeiten, zur Verfügung gestellte Ressourcen, politische Unterstützung, Informationsstrategien; auf Seiten der Kinder und Jugendlichen ihre Partizipationserfahrungen aus Familie, Schule und Freizeitbereich und die Zufriedenheit, die sie mit dem Prozess und mit den Ergebnissen verbinden, ferner ihre Kenntnis bestehender Partizipationsmöglichkeiten, ihr politisches Interesse und das Partizipationsengagement ihrer Freunde.
Partizipationssituation von Kindern und Jugendlichen
Als Grundlage für die Entwicklung tragfähiger Handlungskonzepte zur nachhaltigen Stärkung der Kinder- und Jugendbeteiligung hat die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Pädagogischen Institut der Universität Zürich sowie mit Unterstützung durch die Universität Münster eine umfassende empirische Untersuchung zum Partizipationsverhalten junger Menschen durchgeführt. Dazu wurden in 42 deutschen Städten und Gemeinden Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren nach ihren Mitwirkungsmöglichkeiten, -erfahrungen und Beteiligungswünschen, aber auch nach ihren politischen Einstellungen befragt.
Um die Antworten der Kinder und Jugendlichen zu ihrem Partizipationsverhalten am Wohnort dem kommunalen Partizipationsangebot gegenüberstellen und dann gegeneinander spiegeln zu können, wurden auch die Kommunalverwaltungen befragt. Dadurch ließen sich weitere Faktoren untersuchen, die auf Seiten der Kommune für die Realisierung von Partizipationsangeboten maßgebend sein können, wozu unter anderem Größe, geografische Lage, Finanzkraft, Ressourcen, die für die Partizipation zur Verfügung gestellt werden, Informationspolitik, Zusammenarbeit verschiedener Träger, Schulung des Personals und Zugänglichkeit der Angebote zählen. All dies kann einen entscheidenden Einfluss nicht nur auf das Angebot als solches haben, sondern auch darauf, in welchem Maße es von den Kindern und Jugendlichen in der Kommune wahrgenommen und genutzt wird.
Das Gleiche gilt für den Bereich der Schule. Als öffentliche Institution dürfte die Schule eine besondere Rolle dabei spielen, welche Mitwirkungserfahrungen die Kinder und Jugendlichen im Laufe ihres Entwicklungs- und Erziehungsprozesses machen. Aus diesem Grunde wurden auch die Schulleiter und Lehrer der befragten Kinder und Jugendlichen in die Untersuchung einbezogen. Auf diese Weise können die Angaben der Kinder und Jugendlichen, wie und unter welchen Bedingungen sie in der Schule mitwirken, an den entsprechenden Angaben der Schulleitungen und der Lehrerschaft gespiegelt werden. Neben den 12 084 Kindern und Jugendlichen wurden daher auch die für Partizipation zuständigen Vertreter der 42 beteiligten Kommunen sowie 422 Schulleiter und 631 Lehrer für die Studie befragt. 6
Die Ergebnisse der Untersuchung überraschen auf den ersten Blick nicht: Auf die Frage nach den Mitwirkungsmöglichkeiten in der Familie, in der Schule und am Wohnort gaben drei Viertel der befragten Kinder und Jugendlichen (74,6 Prozent) an, zu Hause viel oder sehr viel mitbestimmen zu können. Solche oder ähnliche Ergebnisse in zahlreichen Jugendstudien der vergangenen Jahre haben das Schlagwort der "Aushandlungsfamilie" 7 geprägt, in der Eltern und Kinder weitgehend gleichberechtigt das Familienleben aushandeln.
In der Schule dagegen sehen nur 14,5 Prozent der Befragten die Möglichkeit, viel oder sehr viel mitbestimmen zu können. Dabei ist die Schulklasse der unmittelbare Bereich, in dem Kinder und Jugendliche Partizipationserfahrungen sammeln können - oder auch nicht. Sie wurden anhand von neun vorgegebenen Entscheidungsfeldern befragt, ob und, wenn ja, in welcher Weise sie einbezogen werden. Das Bild, das sich ergibt, ist gemischt: 4,5 Prozent geben an, dass sie niemals einbezogen werden; 5,1 Prozent werden bei einer Thematik einbezogen, weitere 8,2 Prozent bei zwei, 17,6 Prozent bei bis zu fünf, und nur 6 Prozent bzw. 4,2 Prozent werden bei acht bzw. allen neun Thematiken einbezogen - obwohl es sich hierbei um Themen handelt, welche die Schülerinnen und Schüler unmittelbar berühren. Überraschend ist, dass die befragten Lehrer (wohlgemerkt: Es handelt sich um diejenigen, die auch die befragten Schüler unterrichten) durchweg angeben, dass sie die Schüler in weitaus höherem Maße bei Entscheidungen im Unterricht einbeziehen (Abbildung 1). Da die Frage beiden Gruppen nahezu identisch gestellt wurde, sind die Unterschiede nicht auf Formulierungsabweichungen zurückzuführen, sondern auf das unterschiedliche Antwortverhalten der beiden Gruppen. Während bei den drei Thematiken, bei denen auch die Schüler relativ hohe Werte verzeichnen, die Kluft zu den Angaben der Lehrer "nur" ca. 25 Prozent beträgt, vergrößert sich diese bei der zweiten Gruppe von Thematiken auf 30 Prozent bis sogar 50 Prozent (bei der Leistungsbewertung und der Festlegung von Hausaufgaben). Die Rangfolge der Themen ist dabei weitgehend gleich.
Ähnlich gering ausgeprägt wie in schulischen Kontexten ist die Mitsprache der Kinder und Jugendlichen im kommunalen Gemeinwesen. Nur 13,6 Prozent der Befragten geben an, oft oder immer im Wohnort mitzuwirken. Dem stehen 60,1 Prozent gegenüber, die nie oder selten in ihrem Wohnort mitwirken. Was die Mitwirkungsaktivitäten in der Kommune betrifft, so ist festzustellen, dass 30,3 Prozent der Kinder und Jugendlichen sich noch nie an einer der (insgesamt 13 vorgegebenen) Aktivitäten beteiligt haben. 52,8 Prozent der Befragten haben bei bis zu drei Aktivitäten schon einmal mitgewirkt. Nur 2,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen bekunden eine Mitwirkung an mehr als der Hälfte der Aktivitäten. Auf die Frage, woran sie in ihrem Wohnort schon einmal mitgewirkt haben, entfallen die häufigsten Nennungen auf folgende Aktivitäten: - Zu einem Thema abgestimmt haben schon mal 39,6 Prozent. 8 - An einer genehmigten Demonstration teilgenommen haben 26,6 Prozent. - Die geringste Mitwirkungshäufigkeit weisen Stadteilkonferenzen (3 Prozent) und Jugendparlamente oder Jugendräte (4 Prozent) auf.
Wenn man die Einstellung der Kinder und Jugendlichen zur Politik näher betrachtet, ergibt sich ein eher beunruhigendes Bild. Die jungen Menschen bekunden eine ausgesprochen starke Unzufriedenheit mit der Politik im Allgemeinen. Über die Hälfte (52,5 Prozent) von ihnen gibt an, damit unzufrieden (28,9 Prozent) oder sehr unzufrieden (23,6 Prozent) zu sein. Nur 9,4 Prozent sind mit der Politik zufrieden oder sehr zufrieden (die übrigen rund 38 Prozent sind teils zufrieden, teils unzufrieden). Dem entspricht, dass die Aussage "Ich denke, Politiker nehmen Jugendliche nicht wirklich ernst" ebenfalls auf große Zustimmung stößt. 68,5 Prozent der Befragten sind dieser Meinung; wenn man diejenigen hinzurechnet, die meinen, diese Aussage treffe teilweise zu, erhöht sich der Anteil sogar auf 90,1 Prozent. Nur 9,9 Prozent sind gegenteiliger Ansicht. Die Zustimmungen zu den Aussagen, in der Politik müsse vieles verbessert werden und Jugendliche sollten mehr zu sagen haben, verteilen sich ähnlich. Die meisten stimmen dem zu: 79,8 bzw. 69,2 Prozent.
Vor dem Hintergrund dieser ausgeprägten Unzufriedenheit erklärt sich auch ein Ergebnis, das zur Besorgnis Anlass geben kann: Die Aussage "Ich finde, eine starke Hand müsste wieder mal Ordnung in unseren Staat bringen" erhält große Zustimmung. 35,3 Prozent der Jugendlichen finden, diese Aussage "trifft völlig zu", und noch 20 Prozent entscheiden sich für "trifft ziemlich zu". Nur 11,1 Prozent meinen, die Aussage "trifft wenig zu", und 9,6 Prozent sagen, sie "trifft gar nicht zu". Das scheint für eine ins rechte politische Spektrum tendierende Strömung unter den Jugendlichen zu sprechen.
Ob aber die eindeutig hohe Zustimmung zu dieser Aussage tatsächlich ein Anzeichen für eine rechtsextreme politische Orientierung ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Denn aus den Antworten auf die Frage, wie sich die Kinder und Jugendlichen auf einer Links-Rechts-Skala (von 0 = links bis 10 = rechts) selbst einschätzen, ergibt sich ein Mittelwert von 4,2, also links von der Mitte. Im linken Spektrum (zwischen 0 und 4) positionieren sich 44,2 Prozent der Befragten, während es im rechten Spektrum (zwischen 6 und 10) nur 19,4 Prozent sind. Auch wenn die Extremwerte (0 und 10) betrachtet werden, liegen die sich ganz links Einschätzenden mit 10,7 Prozent weit über denjenigen, die sich ganz rechts verorten (mit 3,6 Prozent). Zusammengefasst heißt das: Im linken politischen Spektrum positionieren sich mehr als doppelt so viele Jugendliche wie im rechten.
Es ist dabei zu bedenken, dass offenbar viele Jugendliche Verständnisschwierigkeiten mit den politischen Begriffen "links" und "rechts" haben. Auch lässt sich empirisch kein starker Zusammenhang zwischen der politischen Selbsteinschätzung und der Mitwirkungsintensität feststellen. In der politischen Realität scheint die herkömmliche Einteilung ebenfalls unklar geworden zu sein. Aus diesem Grunde ist eher anzunehmen, dass vor dem Hintergrund einer stark ausgeprägten Unzufriedenheit mit der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation in Deutschland bei einer stattlichen Mehrheit der Kinder und Jugendlichen der Wunsch nach mehr Ordnung im Staat und nach eindeutiger Orientierung in der Gesellschaft vorherrscht. Damit dies nicht zum Einfallstor für extremistische Ideologien wird, gilt es, das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen in die Politik und in den Staat dadurch zu festigen, dass mehr und attraktivere Möglichkeiten zu einer ernsthaften und in den Ergebnissen wie im Prozess zufrieden stellenden Partizipation geschaffen werden. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass die negativen Einschätzungen der Kinder und Jugendlichen zur Politik offenbar nicht mit einem allgemeinen Desinteresse an gesellschaftspolitischem Engagement einhergehen. Vielmehr geben 78 Prozent der Befragten an, sich bei attraktiveren Beteiligungsangeboten und besseren Rahmenbedingungen stärker einbringen zu wollen.
Beteiligung kann man lernen
Neben einer Beschreibung des Ist-Zustandes lassen die Befragungsergebnisse eine tiefer gehende Analyse zu. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Faktoren ausschlaggebend für Umfang und Intensität der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sind. Dazu wurde untersucht, in welchem Maße die Partizipationsintensität in der Familie, in Schule und Freizeit, die Zufriedenheit mit bisherigen Partizipationserfahrungen am Wohnort, die allgemeine Lebenszufriedenheit, eine mögliche intrinsische Motivation zur Partizipation, ein konkreter Veränderungswille, eine hohe Attraktivität der Partizipationsangebote, das individuelle politische Interesse, die Politikzufriedenheit, das subjektive Qualifikationsempfinden in Bezug auf Partizipation, mögliche Zeitrestriktionen, die Einbindung in Vereine, der Informationsstand bezüglich der Partizipationsangebote am Wohnort, die Bestätigung aus dem sozialen Umfeld sowie die Partizipationsaffinität des Freundeskreises das individuelle Partizipationsverhalten beeinflussen.
Die Studie identifiziert sieben Faktoren, welche die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im kommunalen Gemeinwesen nachweislich stärken. Demnach hängt die Mitwirkung der jungen Menschen wesentlich von positiven Partizipationserfahrungen in Schule, Verein und Kommune ab. Außerdem sind der Informationsstand über die lokalen Beteiligungsangebote sowie das Zutrauen in die eigenen Kompetenzen ausschlaggebend für die Mitsprache der Kinder und Jugendlichen. Ein engagierter Freundeskreis sowie der eigene Wunsch, etwas verändern zu wollen, motivieren darüber hinaus, sich schon früh für das Gemeinwesen einzusetzen.
Daraus können Handlungsempfehlungen für eine Stärkung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen im kommunalen Gemeinwesen abgeleitet werden. Ein zentraler Faktor dabei ist die Zufriedenheit mit bisherigen Partizipationserfahrungen am Wohnort. Die Zufriedenheit bezieht sich sowohl auf den Partizipationsprozess als auch auf das -ergebnis. Zufriedenheit ist stets das Ergebnis eines individuellen Abgleichs zwischen Erwartungen und Erleben. Es gilt deshalb zunächst, die Erwartungen von Kindern und Jugendlichen an den Beteiligungsprozess sowie an das Ergebnis zu ermitteln und die lokalen Partizipationsangebote darauf auszurichten. Darüber hinaus sollte die Zufriedenheit von Kindern und Jugendlichen mit Partizipationsprojekten kontinuierlich erfasst und evaluiert werden, um darauf aufbauend Verbesserungspotenziale zu identifizieren. Da Zufriedenheit nur in Bezug auf selbst erlebte Partizipation entstehen kann, ist die Sicherstellung der Partizipationszufriedenheit primär ein Instrument zur Intensivierung der Mitwirkung bereits partizipierender Kinder und Jugendlicher, weniger aber zur Heranführung bislang partizipationsferner Zielgruppen.
In diesem Zusammenhang richtet sich der Blick auf den Informationsstand bezüglich der Mitwirkungsmöglichkeiten, das subjektive Qualifikationsempfinden, die Einbindung in Vereine sowie die Partizipationsintensität in der Schule. Es gilt also, die Partizipationsangebote am Wohnort zielgruppengerecht zu kommunizieren, sodass Kinder und Jugendliche ihre Beteiligungsmöglichkeiten kennen und über aktuelle Projekte und Vorhaben informiert sind. Wesentlich ist außerdem, durch gezielte Angebote die Partizipationskompetenz von Kindern und Jugendlichen und damit das subjektive Qualifikationsempfinden zu stärken. Darüber hinaus sprechen die empirischen Ergebnisse für eine Einbeziehung der örtlichen Vereine in kommunale Partizipationsprojekte. Schließlich ist auch die Partizipationsintensität in der Schule ein Faktor, um Kinder und Jugendliche an Beteiligungsprojekte am Wohnort heranzuführen. Hier scheint besonders eine stärkere Vernetzung der Angebote von Schule und kommunaler Jugendarbeit Erfolg versprechend.
Hingegen sind die Faktoren "Partizipationsaffinität des Freundeskreises" und "konkreter Veränderungswille" zwar bedeutsam für Umfang und Intensität des Partizipationsverhaltens von Kindern und Jugendlichen, entziehen sich aber weitgehend einer direkten Beeinflussbarkeit.
Insgesamt lassen sich die Handlungsempfehlungen aus den Ergebnissen des Jugendlichenmodells in Form einer Partizipationsspirale darstellen (Abbildung 2). Hierbei dienen der Informations- und Qualifikationsstand der Kinder und Jugendlichen sowie zielgruppengerechte, mit Schule und Vereinen vernetzte Partizipationsangebote als Einstieg in eine Mitwirkung am Wohnort, die dann über positive Partizipationserfahrungen (Zufriedenheit) als sich selbst verstärkender Prozess seine Fortsetzung findet.
Die Bertelsmann Stiftung wird auf der Basis dieser Ergebnisse in den nächsten zwei Jahren gemeinsam mit den Städten Essen, Leipzig und Saalfeld neue Wege bei der Partizipation von Kindern und Jugendlichen erproben. Im Rahmen der Praxisphase der Initiative "mitWirkung!" sollen dabei in den drei Modellstädten wirksame Strukturen zur nachhaltigen Beteiligung junger Menschen entwickelt und verankert werden. Dabei wird vor allem auf die Qualifizierung und Begleitung der lokalen Akteure gesetzt. In allen drei Städten werden Mitarbeiter der Kommunalverwaltungen, Jugendarbeiter und Lehrer zu Prozessmoderatoren für Kinder- und Jugendbeteiligung ausgebildet. Durch das Angebot regelmäßiger Beteiligungstrainings in Schulen und Jugendeinrichtungen wird außerdem die Partizipationskompetenz der jungen Menschen gezielt aufgebaut und gestärkt. Parallel dazu sollen der interkommunale Austausch und die Vernetzung der Kommunalpolitik durch gemeinsame Fachveranstaltungen und Foren gefördert werden.
Die Erkenntnisse der Initiative "mitWirkung!" werden systematisch gebündelt und an Entscheider in Kommunen, Ländern und im Bund sowie an Vereine und Verbände weitergegeben.
1 Vgl.
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags, "Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements", Bürgerschaftliches
Engagement: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige
Bürgergesellschaft, Opladen 2002, S. 95ff.
2 Vgl. Manfred G. Schmidt,
Demokratietheorien, Opladen 2000.
3 Vgl. Enquete-Kommission (Anm. 1), S.
76.
4 Das ist auch der Sinn von Art. 12 der
"Konvention über die Rechte des Kindes" der Vereinten
Nationen: "Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig
ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese
Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu
äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes
angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife."
5 Vgl. Michael C. Hermann,
Institutionalisierte Jugendparlamente: Über
Beteiligungsmotivation kommunaler Akteure - Formen, Chancen und
Risiken, in: Christian Palentien/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Jugend
und Politik. Ein Handbuch für Forschung, Lehre und Praxis,
Neuwied-Kriftel-Berlin 1998, S. 333, sowie Kurt Möller, Die
Stuttgarter Jugendräte-Studie. Möglichkeiten zur
politischen Beteiligung Jugendlicher an gesamtstädtischen
Belangen in einer Großstadt, Esslingen 1999, S. 86.
6 Zum Untersuchungsdesign sowie zur
Stichprobe vgl. auch Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Reinhard
Fatke/Helmut Schneider, Kinder- und Jugendpartizipation in
Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven, Gütersloh 2005 (auch
als Download unter http://www.mitwirkung.net).
7 Vgl. Manuela du Bois-Reymonds, Die
moderne Familie als Verhandlungshaushalt, in: dies./Peter
Brückner/Hans Hermann Krüher/Burkhard Fuhs (Hrsg.),
Kinderleben. Modernisierung von Kindheit im interkulturellen
Vergleich, Opladen 1994, S. 137 - 219, sowie Christian Alt/Markus
Teubner/Ursula Winklhofer, Partizipation in Familie und Schule -
Übungsfelder der Demokratie, in Aus Politik und
Zeitgeschichte, (2005) 41, S. 24 - 31.
8 Dieser hohe Anteil dürfte sich
daraus erklären, dass die Befragten darunter sehr
wahrscheinlich nicht formelle kommunale Abstimmungsvorlagen (z.B.
Bürgerbegehren), sondern auch Umfragen und
Unterschriftenaktionen aller Art verstanden haben.