Seit der Konferenz auf dem Petersberg im Jahr 2001 hat Afghanistan zum ersten Mal in seiner Geschichte einen direkt gewählten Präsidenten, eine neue Verfassung sowie eine demokratisch legitimierte Zentralregierung. Flankiert wurde der institutionelle Aufbau durch die Staatengemeinschaft, die auf den Konferenzen von Tokio 2002 und Berlin 2004 Zusagen von insgesamt 13 Milliarden Dollar für die Dauer von fünf Jahren gemacht haben. Dennoch fällt fünf Jahre nach der Vertreibung der Taliban das Ergebnis wenig ermutigend aus. Weder ist es gelungen, die Korruption und Vetternwirtschaft zu beseitigen, noch sind landesweit Sicherheit und Stabilität gewährleistet.
Vordergründig mag dies mit dem Versagen der externen Akteure zusammenhängen. Denn das Land teilt das Schicksal vieler Nachkriegsgesellschaften, in denen es trotz massiven Engagements von außen ebenfalls nur bedingt gelungen ist, den Frieden zu stabilisieren. Doch eine solche Interpretation verkennt die schwierige Aufgabe, über Jahrhunderte entstandene, verkrustete Strukturen binnen weniger Jahre aufzubrechen, neue Strukturen zu schaffen und zugleich viele divergierende Interessen unter einen Hut zu bringen.
Einblicke in die überaus heterogenen und verflochtenen Strukturen Afghanistans bietet dieses Buch, das detailliert und gründlich die Geschichte des Landes durch eine tour d´horizon und chronologisch anhand der wichtigsten Machthaber, Herrscher und Dynastien bis zum Untergang des Mudjahedin-Regimes darstellt. Die 15 Kapitel des Bandes lassen sich in drei größere Blöcke aufteilen:
Die Kapitel I. und II. skizzieren die Frühgeschichte Afghanistans, was allerdings für Nicht-Kenner der Region zur Qual werden kann. Die Kapitel III-VI reichen von der Entwicklung des Landes seit der Gründung des modernen Afghanistan im 17. Jahrhundert bis 1929; in gewisser Hinsicht ist es auch die Geschichte von Verrat, Krieg, Versuchen der Einflussnahme und Herrschaft durch auswärtige Mächte (Russland und England) sowie vergeblicher Reformbemühungen.
Die knapp die Hälfte des Bandes umfassenden Kapitel VII-XV behandeln die Hintergründe der Absetzung des Königs 1971 und die häufig wechselnden Regierungen. Neben einem Überblick über die verheerende sozio-ökonomische Entwicklung unmittelbar vor der Machtergreifung der kommunistischen Partei 1978 beschreibt der Autor sowohl die internen Fraktionskämpfe der beiden kommunistischen Parteien als auch die Formierung der seit 1960 bestehenden wahabitischen "Revolutionären islamischen Gruppe" zu einer islamischen Fraktion und deren Kampf während der sowjetische Okkupation bis zum Abzug 1988.
Besonders aufschlussreich sind die folgenden Kapitel, in denen die Gründung der Mudjahedin-Parteien, die wichtigsten klerikalen Führer sowie die Feldkommandanten charakterisiert und die Zerstrittenheit der afghanischen politischen Führer während der sowjetischen Besatzung beschrieben werden. Hier bietet der Band ein "who is who" von Warlords, deren Macht- und Einflussbereich bis heute ungebrochen ist sowie jener klerikalen politischen Führer und früheren Feldkommandanten, die inzwischen zu zivilen Politikern mutiert sind.
Detailliert behandelt wird ferner die Gründung des "Islamischen Staats Afghanistan" 1992 und der Verdrängungswettbewerb um die Macht innerhalb der verschiedenen Mujahedin-Gruppen, die bald Kriegsdimensionen einnahmen. Bis heute sind es vor allem vier Gruppen: Die Usbeken aus dem Norden unter General Dostum; die von Iran unterstützten Schiiten; die von Islamisten und den Wahab-Arabern sowie von Offizieren des pakistanischen Geheimdienstes protegierten Paschtunen und schließlich die Tadschiken, die lange Zeit ohne ausländische Unterstützung waren.
Den Band beschließt ein leider etwas zu kurz geratener Abschnitt über den Untergang der politischen Mudjahedin-Parteien und den Aufstieg der Taliban unter Mullah Omar, der nicht zuletzt von Pakistan unterstützt und gefördert worden war. Mit einer Tabelle über die Herrscher Afghanistans vom Jahr 117 bis 2001, Personen und Sachregister sowie einer Fülle von Abbildungen wird der Band abgerundet.
Das Buch ist angesichts der dichten Informationen nicht immer eine leichte Kost. Dennoch verhilft es dem interessierten Leser dazu, die heutigen Probleme Afghanistans zu erkennen und die Komplexität des friedlichen Aufbaus zu verstehen. Allein schon deshalb ist dem Band eine über die Fachkreise hinausgehende Verbreitung zu wünschen.
Habibo Brechna
Die Geschichte Afghanistans. Das historische Umfeld Afghanistans über 1500 Jahre.
Vdf Hochschulverlag, Zürich 2005; 448 S., 32,50 Euro