Begriffe wie "Entkemalisierung", "Entwestlichung" oder "Entsäkularisierung" kommen in Bassam Tibis neuem Buch recht häufig vor. Sie sollen ausdrücken, was der Türkei seit den 70er-Jahren, insbesondere seit dem Machtantritt der islamistischen Partei AKP im Jahre 2002, stetig abhanden kommt. Tibi räumt zwar ein, dass die Türkei den europäisierten Standards unter den 57 Ländern mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung am nächsten steht; dennoch ist er gegen die volle EU-Mitgliedschaft des Landes wegen mangelnder Akzeptanz europäischer Werte.
Solange die Türkei, so Tibis Überzeugung, die wichtigsten Grundlagen der zivilisatorischen Identität Europas, nämlich die säkulare Demokratie, den Pluralismus und die individuellen Menschenrechte nicht anerkennt, müsse verhindert werden, dass das Land in den Genuss der Vorteile der europäischen Staatengemeinschaft kommt.
Der 1944 in Damaskus geborene Autor setzt sich mit der Identität der Türkei im Spannungsfeld zwischen Europa und dem Islamismus auseinander. Dabei analysiert er die geschichtliche Entwicklung, in deren Verlauf die von oben verordnete Säkularisierung eine von unten betriebene Entsäkularisierung nach sich zog. In einem weiteren Kapitel beschreibt Tibi den Weg der Türkei von der Südflanke der NATO hin zur Dreiecksverbindung Nahost-Zentralasien-Balkan. Dabei stellt er die von der EU erhoffte Brückenfunktion des Landes zwischen dem Westen und der islamischen Welt in Frage, die ohne Europäisierung nicht zustande kommen könne. Dieser Brückenfunktionmüsse ein europäisierter Islam zugrunde liegen, der sich von dem AKP-Islam unterscheide.
Für Tibi vertritt die islamistische Partei mit ihrer Einstellung zum Kopftuch die Scharia und keineswegs islamischen Konservatismus im Sinne einer säkularen Wertorientierung. Er vergleicht die Regierungspartei, für die der Islam die Einheit von Staat und Religion sei, mit den verschiedenen christdemokratischen Parteien in Westeuropa, die sich auf das Christentum als eine entpolitisierte Religion berufen. Europa sei säkular und verstehe seine Identität nicht christlich, sondern westlich.
Auf dem Weg zur vollen EU-Mitgliedschaft der Türkei richtet sich das Augenmerk Tibis hauptsächlich auf die in Europa lebenden vier Millionen türkischen Migranten - die Islam-Diaspora. Für ihn ist die Integration dieser Migranten die Eintrittskarte der Türkei in die EU. Jedoch entstehe aus ihrer zunehmenden zivilisatorischen Abgrenzung eine Art "Selbstethnisierung", die den Willen beeinträchtigt, zugleich Europäer zu werden und Muslime zu bleiben.
Tibi zitiert den Schriftsteller und Publizisten Klaus Harpprecht mit den Worten: "Wenn wir bis jetzt nicht fähig waren, zwei bis drei Millionen Türken in die deutsche Gesellschaft einzuschmelzen, ...wie will Europa seine bindende Kraft gegenüber den 65 Millionen Menschen einer Zivilisation behaupten, die nicht schlechter, nicht besser ist als die unsere - aber halt eine andere?" Tibi rechnet damit, dass sich die Zahl der Migranten in den nächsten Dekaden vervielfachen wird und dass in der Türkei im Jahr 2015, dem möglichen Jahr der EU-Aufnahme, rund 100 Millionen Menschen leben werden. Es wäre dann das bevölkerungsreichste EU-Mitglied, das wie eine gigantische Parallelgesellschaft wirke.
Mag in dem Buch auch manches übertrieben sein, so ist es doch auf jeden Fall besser, sich überhaupt mit der Problematik zu befassen, als sie ganz und von vornherein zu ignorieren. Tibi hält es für verantwortungslos, die Ängste von 88 Prozent der Deutschen, die Bedenken gegen den Beitritt der Türkei in die Europäische Union haben, zu ignorieren. Dadurch, dass vor allem Rechtsradikale in fremdenfeindlicher Absicht dieses Thema aufgreifen, würden auch Wissenschaftler, die darüber in seriöser Weise arbeiten, unter Verdacht geraten.
Bassam Tibi
Mit dem Kopftuch nach Europa? Die Türkei auf dem Weg in die europäische Integration.
Primus Verlag, Darmstadt 2005; 223 S., 19,90 Euro