"Die Verzahnung könnte enger sein“: So kommentiert Jo Leinen das Verhältnis zwischen Bundestag und Europäischem Parlament. Der SPD-Politiker, der in Straßburg dem Verfassungsausschuss vorsitzt, zählt zu den 16 deutschen EU-Volksvertretern, die als assoziierte Mitglieder des Europaausschusses bei den Treffen dieses Gremiums mitdis- kutieren können. Der Saarländer kommt auch gelegentlich nach Berlin. Indes: Obwohl die EU-Abgeordneten inzwischen häufiger als früher an die Spree reisen, kann von intensiven Beziehungen nicht unbedingt die Rede sein. Leinen: "Das scheitert oft an Terminkollisionen."
Plenartagungen in Straßburg sowie Kommissionssitzungen und informelle Meetings in Brüssel sind Zeit raubend. Solche Terminprobleme verfestigen den verbreiteten Eindruck, dass der Bundestag wie die anderen 24 Volksvertretungen in den Mitgliedstaaten bei der EU-Politik eher etwas außen vor ist. Als Vorsitzender des Europaausschusses will Matthias Wissmann dies so nicht stehen lassen: Über diese 33-köpfige Kommission, die federführend die europapolitischen Aktivitäten der Fachausschüsse koordiniert, nehme der Bundestag sehr wohl Einfluss auf die Brüsseler Politik und habe etwa bei der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der EU-Verfassung eine zentrale Rolle gespielt. Jedoch fordert auch der CDU-Politiker: "Die nationalen Parlamente müssen stärker an der politischen Willensbildung der EU beteiligt werden." Bisher können die Volksvertreter in den Hauptstädten nur indirekt in Brüssel mitmischen: Zum einen hat man die Europapolitik der jeweiligen Regierung zu kontrollieren, und zum anderen kann man auf diesem Weg auch Initiativen via Brüssel lancieren.
"Ja und nein": So antwortet Jo Leinen auf die Frage, ob der Bundestag am Spielfeldrand stehe. Bei jenen Themen, die wie etwa die Umwelt- oder Verbraucherpolitik in den EU-Verträgen großen Teils der Union übertragen worden sind, obliege der parlamentarische Part der Straßburger Kammer. Aber ansonsten könnten die nationalen Abgeordneten über ihre Regierungen durchaus die Stimme erheben. Diesen Einfluss des Bundestags bezeichnet Leinen diplomatisch als "ausbaufähig". In Berlin würden EU-Themen wie die Ausarbeitung von Richtlinien "oft zu spät angepackt", so sein Eindruck. In Skandinavien, sagt der SPD-Politiker, hätten die heimischen Parlamente bei der Europapolitik mehr zu sagen: "Da geht während einer Sitzung in Brüssel ein finnischer Minister schon mal vor die Tür, um sich telefonisch mit einem Abgeordneten in Helsinki abzustimmen."
Sind EU-Gesetze erst einmal unter Dach und Fach, haben die Volksvertretungen in den Hauptstädten diese Richtlinien nur noch in nationales Recht umzusetzen. In Berlin ist das Sache der jeweiligen Fachausschüsse. Nicht immer bekleckert sich der Bundestag dabei mit Ruhm: Spektakulär kassierte das Karlsruher Verfassungsgericht eine Regelung zum europäischen Haftbefehl ein. Verwundert über die Darstellung mancher Zusammenhänge in den Medien ist wiederum die Straßburger Parlamentarierin Dagmar Roth-Behrendt: Die SPD-Politikerin erinnert sich, dass etwa in einer Meldung die Einführung der zweijährigen Garantie für Verbrauchsgüter einem Bundestagsbeschluss zugeschrieben wurde – obwohl dies doch eigentlich von der EU vorgegeben worden war.
Nun ist es keineswegs so, dass in Berlin EU-Gesetze zu guter Letzt nur noch abgenickt werden. Prinzipiell wandern alle Brüsseler Richtlinienentwürfe von der Regionalförderung über die Rundfunkpolitik und die Lebensmittelkennzeichnung bis zur Entsorgung von Altautos durch die Fachausschüsse und den Europaausschuss. Rede und Antwort stehen in Wissmanns Runde Brüsseler Kommissare und Berichterstatter, die im EU-Parlament für die jeweiligen Themen die zent- ralen Schaltstellen sind. Im Verlauf solcher Diskussionen zeige man, erläutert Wissmann, Brüssel zuweilen "die gelbe oder rote Karte". Politisch nach Kräften unterstützt habe der Europaausschuss, so der Politiker, Gerhard Schröder und dann Angela Merkel beim Bemühen, das Volumen des Brüsseler Etats von 2007 bis 2013 zu begrenzen, und nicht zuletzt eben die erfolgreiche Mitwirkung beim EU-Verfassungsvertrag.
Seit den damaligen Beratungen im Konvent, meint Leinen, hätten die nationalen Parlamente in der Tat eine politische Aufwertung in der Union erfahren. Auch untereinander knüpfen die Abgeordneten aus den Hauptstädten engere Kontakte: So treffen sich inzwischen regelmäßig Vertreter des Bundestags und der Assemblée Nationale. Gleichwohl: In den verwinkelten Entscheidungsprozessen auf EU-Ebene war die deutsche Volksvertretung bisher "nicht immer frühzeitig am Ball", wie Wissmann sagt. So habe man etwa bei der umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie zu spät reagiert, was in diesem Fall auch für die Bundesregierung gelte. Man müsse rechtzeitig wissen, was in Brüssel läuft, um schon im Vorfeld Einfluss nehmen zu können. Als Frühwarnsystem fungieren soll der im Bundestag neu geschaffene "Aufbaustab Europa", der in Brüssel mit einem Büro präsent ist. Diese nicht nur dem Europaausschuss, sondern allen Fachausschüssen zuarbeitende Einrichtung soll in Brüssel das Gras wachsen hören: bereits in den ersten Entwurfphasen für neue EU-Gesetze Infos sammeln, bewerten, gewichten und nach Berlin leiten. Agieren im verwobenen Geflecht von Mitgliedstaaten und EU-Instanzen die nationalen Volksvertretungen und das Europaparlament als Konkurrenten? Die politischen Interessen sind gewiss nicht immer identisch: So setzt sich Straßburg für eine Aufstockung des Brüsseler Haushalts ein, während Berlin bremst. Indes sehen Wissmann und Leinen die Volksvertretungen beider Ebenen im Kern nicht als Gegner. Der CDU-Politiker spricht von "Verbündeten". In der EU die Parlamentarisierung gemeinsam vorantreiben: In diesem Sinne sollte man auch aus Sicht Leinens an einem Strang ziehen. Der Sozialdemokrat: "Straßburg steht der Brüsseler Exekutive, der Bundestag der deutschen Regierung gegenüber, so ist die Schlachtordnung." Das halbjährlich tagende "Cosac"-Forum bietet Abgeordneten aus Straßburg und aus den Hauptstädten eine Plattform zum informellen Gedankenaustausch und für politische Absprachen. Einen Machtzuwachs verheißt die auf Eis liegende EU-Verfassung den nationalen Parlamenten: Sie könnten künftig vor dem Luxemburger Gerichtshof gegen die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips durch Brüsseler Gesetze klagen. Zudem müsste die Kommission Vorlagen für Richtlinien überarbeiten, wenn ein Drittel der 25 Volksvertretungen Widerspruch einlegt. Die Bemühungen der nationalen Abgeordnetenhäuser, aktiv für die Verfassung zu werben, laufen bislang aber eher verhalten an.
Karl-Otto Sattler arbeitet als freier Journalist in Berlin.