Die Freilassung des zum Christentum konvertierten Afghanen Abdul Rahman war ein Erfolg deutscher und internationaler Krisendiplomatie. "Auch Präsident Karsai hat Mut bewiesen", kommentierte Außenminister Steinmeier anerkennend. Die Tatsache aber, dass der 41-Jährige seine Freiheit nicht in seiner Heimat in Anspruch nehmen kann, verweist auf vielschichtige Probleme im neuen Afghanis-tan. Da ist die Justizreform: Der Richter von Abdul Rahman hat bereits zu Taliban-Zeiten "Recht" gesprochen. Karsai hat eine Anzahl vorbelasteter Richter nominiert. Die Erwartung, dass diese jetzt auf einen Schlag ausgetauscht werden, ist wenig realistisch. Seine erklärten Gegner allesamt ins Abseits zu stellen, können sich weder der Präsident noch die USA leisten. Dies könnte die zum Teil noch labile nationale Einheit gefährden, und die hat für Karsai oberste Priorität.
In Afghanistan sprechen zum Teil notdürftig ausgebildete Laien Recht. Regelmäßig werden Gefangene freigekauft, Korruption ist an der Tagesordnung. Die afghanische Regierung und die Geberländer stehen jetzt vor der Aufgabe, die Agenda einer Justizreform zu überprüfen. Dazu gehört verstärkte Hilfe beim Aufbau eines leistungsfähigen Gerichtswesens. Die Erklärung von Außenminister Steinmeier unmittelbar nach Rahmans Freilassung, Deutschland werde sich auch künftig dafür einsetzen, "Demokratie und Rechtsstaat dauerhaft in Afghanistan zu verankern", deutet auf ein langfristiges Engagement in dieser Richtung.
Die Ausbildung künftiger Juristen muss auf die neue Verfassung ausgerichtet werden. Diese dient allerdings zwei Herren: dem Koran und internationalen Konventionen, die die allgemeinen Menschenrechte achten. Viele im Westen sind erst durch den Fall Rahman auf das Konfliktpotenzial in der Verfassung gestoßen. Bislang gibt es keine Frau unter den höchsten Richtern im Land. Auch hier können die Geberländer, allen voran Italien als "lead nation" in Sachen Justizreform, ein Zeichen setzen.
Auf dem Höhepunkt des Verfahrens gegen Rahman waren Forderungen nach Sanktionen gegen Kabul laut geworden. Mittlerweile scheint sich mehrheitlich die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass Ankündigungen, die militärische oder finanzielle Hilfe zurückzufahren, das Gegenteil bewirken könnten. Die Fundamentalis-ten würden sich dies als Erfolg auf ihre Fahnen schreiben, der Rest der Bevölkerung begänne an den Hilfeversprechen zu zweifeln.
Offiziell gibt es keine einzige christliche Gemeinde in Afghanistan. Vielmehr prägt das nationale und internationale Personal der rund 3.000 Hilfsorganisationen im Land, unter ihnen verschiedene christliche Nichtregierungsorganisationen (NGOs), das Bild.
Die vom Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck ins Leben gerufenen "Grünhelme" bauen in Afghanistan erfolgreich Häuser, Brücken und medizinische Einrichtungen. Laut Satzung soll die Hilfsarbeit Christen und Muslime zusammenbringen. In einem Fall hat das dazu geführt, dass ein ehemaliger deutscher Mitarbeiter zum Islam konvertiert ist.
Gegner einer raschen Modernisierung setzen Chris-tentum gerne mit dem gleich, was an Nebeneffekten, vor allem in Kabul, durch die ausländische Präsenz ins Land kommt: Alkohol, Prostitution, Fremdbestimmung. Begriffe wie "Demokratie" empfinden diese Kritiker als ein Einfallstor, das alles erlaubt.
Wenn heute in Afghanistan Gottesdienste gefeiert werden, geschieht dies, wie in Kabul, entweder in einer Kaserne der ISAF-Schutztruppe oder in der italienischen Botschaft, die an das Gelände des Präsidentenpalastes grenzt. Dort wird jede Woche eine Messe gelesen. Einige Dutzend Diplomaten und Entwicklungshelfer knien neben amerikanischen Soldaten, die sogar mit Waffe zum Gebet schreiten.
"Nach wie vor sollten Afghanen, die für christliche NGOs arbeiten, vorsichtig sein, um nicht den Verdacht zu erwecken, sie würden mit dem christlichen Glauben sympathisieren", heißt es in einem Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) von 2003. Das gilt unverändert. Im August 2001 waren 24 Mitarbeiter des christlichen Hilfswerks "Shelter-Now" von den Taliban entführt worden. Die Taliban behaupteten, es habe unerlaubte Missionierung stattgefunden. Die Organisation hat das immer wieder dementiert. Die Geiseln kamen später unversehrt frei. Offen zu missionieren ist den NGOs verboten.
Seit Juni 2004 sollen in Afghanistan insgesamt fünf zum Christentum übergetretene Afghanen ermordet worden sein. Alle fünf Konvertiten wurden erstochen oder zu Tode geprügelt. Die Berichte sind schwer überprüfbar. Gerade auf dem Land begegnet man Unkenntnis über Fremde und Christen. Dies erklärt sich zum Teil aus fehlender Bildung und jahrhundertelanger geographischer und gesellschaftlicher Isolierung. Zwar missionierte der Apostel Thomas zwischen 42 und 49 nach Christus in den heutigen Gebieten des Iraks, Irans und Afghanistans. Religiöse Vielfalt macht sich aber eher an Sikhs, Hindus und Juden fest.
Von den über 3.500 Sikh- und Hindufamilien, die unter den Taliban überwiegend geflüchtet waren, sind eine Reihe inzwischen wieder zurückgekehrt. Sie verfügen über eigene Gotteshäuser und eine politische Interessenvertretung.
Jüdisches Leben in Afghanistan florierte insbesondere als Folge der Immigration nach der russischen Oktoberrevolution 1917 bis hin zur religiös-politischen Radikalisierung Anfang der 80er-Jahre. Heute lebt nur noch Zabulon Simantov als einziger Jude in dem Land am Hindukusch.
Die abgelegene afghanischen Provinz Nuristan, das ehemalige Kafiristan (zu deutsch "Land der Heiden") wurde erst 1896 islamisiert. Die dort lebenden Kalasch praktizierten animistische Riten. Christliche Minderheiten wie die Armenier im Iran gibt es in Afghanistan nicht.