Phnom Penh. Als sie nach Australien zurückkehrten, waren sie zwar noch dieselben jungen Menschen wie zuvor. Und doch hatten die elf Studenten sich nach ihrem monatelangen Aufenthalt in Kambodscha verändert. Sie hatten gesehen und hautnah erlebt, dass ihre von materiellem Wohlstand geprägte Existenz in krassem Gegensatz zum täglichen Überlebenskampf der Menschen im Oral-Distrikt steht. Eine tief sitzende Erfahrung, die die jungen Aus-tralier ihr restliches Leben nicht mehr loslassen wird.
Heute nennen sie es das "Kambodscha Projekt". Ermöglicht hat es der Lutherische Weltbund, der bereits seit einigen Jahrzehnten in Kambodscha tätig ist. Der kirchliche Dienst hat eine Strategie entwickelt, die das Wissen und die Erfahrung von Experten mit der Bereitschaft der Menschen auf dem Lande bündelt. "Empowerment" heißt das Zauberwort, für das es im Deutschen keine adäquate Bezeichnung gibt. Frei übersetzt: Menschen nach Jahren des Terrors und Bürgerkriegs dazu zu bringen, ihre Kraft und ihre oft ungeahnten Möglichkeiten für sich und andere einzusetzen. Zum Nutzen der Familie und der dörflichen Gemeinschaft.
Im Oral-Distrikt ist der Lutherische Weltbund inzwischen in 70 Dörfern tätig. Die australischen Studenten teilten wochenlang den Alltag der Bewohner, ihre Sorgen um ausreichende Nahrung, um sauberes Wasser, um ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung und gesundheitlicher Aufklärung. Sie wurden unmittelbar mit den Auswirkungen von Überschwemmungen konfrontiert, mit Krankheiten und den Folgen der tückischen Seuche HIV/Aids. Die Jugendlichen erlebten aber auch, was es heißt, wenn Menschen sich zusam-menschließen, wenn sie für andere einstehen, die noch ärmer sind als sie, wenn sie über neuere Anbaumethoden informiert werden und - zum ersten Mal in ihrem Leben - auch über Menschenrechte.
Für Ben Gibson waren es Wochen, die sein weiteres Leben nachhaltig prägen werden. Der australische Student konnte sich bis zu dem Zeitpunkt, als er den Alltag der Bewohner in einem Dorf in der Provinz Kampong Speu teilte, nicht vorstellen, wie Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in solch einfachen Verhältnissen leben können. "Hier gibt es keine Elektrizität, und die einzigen Transportmittel sind Fahrräder und ab und zu Motorräder oder Ochsenkarren. Die Familien haben entweder ein paar Haustiere oder einen kleinen Gemüsegarten. Die Ärmsten müssen im Wald nach Essbarem suchen." Ein Überlebenskampf, den Millionen von Kambodschanern täglich zu bestehen haben.
Beeindruckt zeigte sich Ben von der Philosophie des Lutherischen Weltbundes: Den Dörfern wird kein fertiges Konzept übergestülpt, sondern es wird gemeinsam mit den Bewohnern nach deren eigenen Bedürfnissen erarbeitet. Auch wenn es darum geht, ob zuerst Wasserpumpen oder Straßen gebaut werden, ob der Bau einer Schule Vorrang haben soll vor einer kleinen Bank, wo die Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben bescheidene Kredite aufnehmen können.
"Zum ersten Mal auch Entscheidungen zum eigenen Wohle und dem der Nachbarn getroffen zu haben, macht stolz und selbstbewusst zugleich", zieht Ben Gibson sein Fazit nach den Wochen in der kambodschanischen Provinz.
David H. Mueller ist verantwortlich für die Aktivitäten des Lutherischen Weltbundes in Phnom Penh. "Wir sind jetzt soweit, dass die Menschen auf dem Lande sich selbst ein Ziel setzen", sagt der Amerikaner stolz. "Dann entscheiden sie, was sie selbst bewerkstelligen können und ab wann sie unsere Hilfe brauchen." Es ist nichts anderes als ein Erziehungsprozess: Je weniger von außen eingegriffen werden muss, desto näher ist die kirchliche Organisation ihrem Ziel gekommen. Ein Ziel, dass Mueller so definiert: "Wir wollen die Menschen in die Lage versetzen, den Entwick-lungsprozess in ihren Dorfgemeinschaften zu übernehmen. Dadurch werden sie gestärkt und sind eines Tages imstande, nicht nur ihre Wünsche zu äußern, sondern auch ihre Rechte einzufordern."
Frau Prum Thear lebt im Dorf Chrak Sdech im Samakimeanchey Distrikt. Ihre siebenköpfige Familie besitzt ein kleines Stück Land, dessen Boden allerdings wenig fruchtbar ist. Mindestens fünf Monate im Jahr ist der Ertrag so mager, dass die Familie Hunger leidet. Es war daher ein Glücksfall für Prum Thear, als ihr der Lutherische Weltbund eine Ausbildung als Friseurin ermöglichte. Danach eröffnete sie mit Hilfe eines Kleinkredits einen Laden und hat inzwischen viele zufriedene Kunden. Besonders wenn im Dorf Hochzeit gefeiert wird, ist Thear den ganzen Tag in ihrem "Salon" beschäftigt.
"Ich habe früher nie gedacht, dass ich eines Tages mein eigenes kleines Geschäft haben werde", sagt die junge Friseurin stolz. Nun geht es auch ihrer Familie besser. "Wir haben jetzt genug zu essen, und ich muss auch nicht mehr bei den Nachbarn Reis borgen."
Auch die 21-jährige Sin Im in der Provinz Kampong Chnang ernährt sich von ihrer eigenen Hände Arbeit. Die couragierte Studentin lebt alleine am Rande des Dorfes Chrok Tnot und absolvierte mit Hilfe der kirchlichen Organisation eine Ausbildung als Weberin. Den ganzen Tag über sitzt Sin Im am Webstuhl und stellt Kromas her, die traditionellen bunten Kopftücher der Kambodschaner.
Ein Kroma kostet bei ihr einen Dollar, an manchen Tagen webt sie drei Stück, sodass sie auf fast hundert Dollar im Monat kommt. Das ist viel Geld in einem Land, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen bei rund 300 Dollar liegt. Selbst bei Abzug der Unkosten verbleibt Sin Im genug Geld zum Leben - den Rest legt sie für ihr späteres Studium zurück.