Die Geschichte der "Neuen Zeitung" ist die Geschichte eines intellektuellen Aufbruchs. Mit ihrer ersten Ausgabe vom 18. Oktober 1945 entwickelte sich die von den Amerikanern gegründete Zeitung schnell zu einem der wichtigsten geistigen Foren nach dem Krieg. Zeitweise erreichte sie eine Auflage von zweieinhalb Millionen Exemplaren, auf manche Artikel kamen Tausende von Leserbriefen.
Der "Neuen Zeitung" gab General Eisenhower auf den Weg, sie solle anderen ein Beispiel sein für "objektive Berichterstattung, bedingungslose Wahrheitsliebe und hohes journalistisches Niveau". Das Blatt versammelte die Stimmen von Schriftstellern, Philosophen, Politikern. Unter ihrem Feuilleton-Chef Erich Kästner avancierte es zum Organ der Aufklärung: Wo in anderen Zirkeln die Verdrängung einsetzte, debattierte das Blatt über die Verbrechen der Nazis, über innere Emigration und den Begriff der Kollektivschuld. Es arbeitete aber auch an der Zukunft - diskutierte über Bildung und Erziehung, Literatur und Musik. Zu ihren Autoren zählten Alfred Andersch, Karl Jaspers, Alfred Kerr und Friedrich Luft. Der Literat Stefan Heym war zeitweilig für Außenpolitik zuständig.
Eine Auswahl wichtiger Beiträge von damals hat nun der Publizist Wilfried F. Schoeller zusammengestellt. Das Buch lädt zu einer historischen Entde-ckungsreise ein: In einer Reportage über die Kriegsverbrecherprozesse gelingt es Erich Kästner, seinen Sinn für Komik zu bewahren, ohne vom Monströsen abzulenken: Das Herz schmerze ihn, nach allem was er im Prozess gehört habe. "Und die Ohren tun mir auch weh. Die Kopfhörer hatten eine zu kleine Hutnummer."
Kurt Schumacher klagt 1946 über die Zwangsvereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten im Osten und wendet den Beitrag dann ins Grundsätzliche: "Das Durcheinander in der Welt ist ungeheuerlich." Seine Hoffnung: Ein demokratisches Deutschland als Mitglied in einem geeinten Europa.
So wechseln sich politische Analysen mit bewegenden Reportagen ab, die den Alltag des Wiederaufbaus zeigen. Etwa wenn Hildegard Brücher die Universitätsstadt Göttingen porträtiert und berichtet, wie zehn Karzerzellen in eine Schusterwerkstadt des Roten Kreuzes verwandelt wurden. Oder wenn Alfred Hora im Dezember 1947 seine Winterreise durch Deutschland schildert - die voll gepackten Züge, in denen "Hamsterer" mit kartoffelgefüllten Rollwägen hocken. Oder wenn Martin Stiebing ein Jahr später über den Schwarzmarkt im belagerten Berlin scheibt: "Alles fragt nach Brot. Heulen und Zähneklappern bei denen, die bislang viel schwarz gekauft haben oder Pakete erhielten."
Mit der Kulturzeitschrift "Der Monat" und der "Neuen Zeitung", die anfangs zweimal, später sechsmal in der Woche erschien, haben die USA der Demokratie einen großen Dienst erwiesen. In der Redaktion arbeiteten Amerikaner und Deutsche zusammen, unter ihnen viele zurückgekehrte Emigranten. Die "Neue Zeitung" wurde anfangs geleitet von Hans Habe, US-Major und Emigrant ungarisch-österreichischer Herkunft. Um Vorgaben der Militärs kümmerte sich Habe kaum. Später übernahm Hans Wallenberg die Position des Chefredakteurs, 1948 folgte mit Jack Fleischer der erste Amerikaner.
Fleischer begann, das Blatt auf die offizielle Linie Washingtons zu trimmen, doch damit ruinierte er die freie und kreative Atmosphäre in der Redaktion. Das merkten auch die Leser - die Auflage sank. Ende 1949 übernahm erneut Wallenberg die Leitung, und es gab noch eine Reihe brillanter Beiträge, bis Mitte der 50er-Jahre die Zeitung ihr Ende fand. Es war, wie Schoeller notiert, neben den Carepaketen und dem Marshallplan eines der erfolgreichsten US-Projekte in Nachkriegsdeutschland.
Wilfried F. Schoeller (Hrsg.)
Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der "Neuen Zeitung".
Edition Büchergilde, Frankfurt 2005; 703 S., 39,90 Euro