Was eigentlich war dran an der von SED-Seite propagierten Überlegenheit des realen Sozialismus "Made in GDR"? Die Frage beantworteten Millionen von DDR-Bürgern bis 1989, indem sie mit ihren Füßen gegen das Regime abstimmten. Danach, mit der Sicherung und Öffnung der Archive der Macht, wurde die zweite deutsche Diktatur zum weltweit wohl besterforschten gesellschaftlichen Irrweg. Nur der Nimbus, die DDR sei der einzige antifaschistische Staat auf deutschem Boden gewesen, hielt sich hartnäckig weit über ihr Ende hinaus. Daran vermochten auch kompetente Publizisten und Historiker kaum etwas zu ändern. "Hitler, so schien es, ist ein Westdeutscher gewesen", brachte Peter Bender den offiziellen Umgang der DDR mit der gesamtdeutschen nationalsozialistischen Erblast auf den Punkt.
Mit Henry Leides wissenschaftlicher Dokumentation über das geheime NS-Herrschaftswissen und dessen Instrumentalisierung durch die SED und Staatssicherheit erhält die Demontage der DDR-Antifaschismuslegende eine neue Dimension. Dazu untersucht der Rostocker Mitarbeiter des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen zunächst die in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) seit Kriegsende betriebene systematische Sicherstellung aller verfügbaren NS-Akten - einschließlich Raub aus westlichen Besatzungszonen.
Anders als die in der Bundesrepublik auf mehrere Institutionen verteilten NS-Bestände verfügte das Ministerium für Staatssicherheit mit seiner zentralen bis 1989 systematisch ausgebauten Beschaffungs- und Auswertungsstelle über ein Wissensmonopol, nicht nur über NS-Belastete in der DDR und der Bundesrepublik, sondern auch über das Verhalten der eigenen Genossen in der Illegalität.
Im Zentrum der vorgelegten Dokumentation steht die Anwendung dieses Geheimwissens im Kalten Krieg. Henry Leide rekonstruiert wesentliche Zuarbeiten des Nazi-Referats der Staatssicherheit für die SED-Propaganda, um die Bundesrepublik als "Staat der Täter" und "Hort der Reaktion" und die DDR als "Staat der Antifaschisten" und des Friedens darzustellen. Verschleppte Verfahren gegen SS-Verbrecher und Nazi-Juristen im gehobenen Dienst der bundesdeutschen Justiz machten es der DDR-Seite leicht, auch westliche Kritiker mit Fakten und öffentlichkeitswirksamen Fälschungen aufzumunitionieren.
Im Zuge der westdeutschen Gesetzesdiskussion zur Verjährung der "Beihilfe zum Mord", damit zur Straffreiheit von NS-Schreibtischtätern, recherchierten MfS-Spezialisten zielgerichtet in Archiven sozialistischer Staaten und der USA. Im Ergebnis wurden 1968, verbunden mit einer massiven Propagandakampagne, Unterlagen über nahezu 1.100 NS-belastete Bundesbürgern an westdeutsche Untersuchungsbehörden übergeben. Allerdings nicht ohne zuvor Akten auszusondern, die Querbezüge zu NS-belasteten DDR-Bürgern enthielten.
Nach Angaben des Autors besaßen Ende 1953 trotz vorangegangener Parteisäuberungen 96.844 ehemalige NSDAP-Mitglieder oder ihrer Gliederungen in stillschweigendem Einvernehmen das rote Parteibuch - immerhin sechs Prozent aller SED-Mitglieder. Die Partei benötigte und nutzte die nationalsozialistischen Wissens- und Erfahrungsträger vorrangig zum Aufbau von Polizei, Staatssicherheit und Armee. Aus mehreren Tausend Vorermittlungen durch das MfS innerhalb der DDR resultierten nach Recherchen Leides zwischen 1965 und 1989 nur 74 Verurteilungen von NS-Straftätern: "Im Ergebnis zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Ermittlungs- und Strafpraxis."
Wo immer möglich, nutzte das MfS das Geheimwissen über vertuschte Nazi-Biografien für gezielte Anwerbungen zur "Wiedergutmachung" als "Geheimer Informant". Nur in Ausnahmefällen, um westdeutschen Enthüllungen zuvorzukommen oder um das antifaschistische Image der DDR zu heben, wurden Schauprozesse mit härtesten Strafen inszeniert. Auf 200 Seiten liefert der Band exemplarische Fallstudien über den willkürlichen Umgang mit NS-Tätern.
Im Fall des ehemaligen Obersturmbannführers und Stasi-IM Erwin Rogalski-Wedekind waren MfS-Ermittler trotz eindeutiger Anhaltspunkte für seine Verbrechensbeteiligung in Polen nicht an näherer Aufklärung interessiert. Der Sohn des Ex-SS-Mannes gehörte den SED-Eliten an. Dagegen schützte die intern gelobte IM-Tätigkeit den ehemals einem SS-Sonderkommando angehörenden Johannes Kinder wenig. Der Verjährungsbeschluss der Beihilfe zu NS-Verbrechen durch die Bundesregierung war der SED-Führung willkommener Anlass, sich als konsequente NS-Aufarbeiter darzustellen. Das demonstrative Urteil gegen Kinder wegen Beteiligung an der Ermordung von 260 sowjetischen Juden lautete: Todesstrafe.
Zu einem der bemerkenswerten Fälle im Ost-West-Politpoker wurde auch der NRW-Politiker Lothar Weirauch (FDP), eine Quelle der MfS-Auslandsspionage. Als polnische NS-Ermittler seine Verantwortung für die Verschickung von 4.000 Juden in Vernichtungslager und für die Planung der Ermordung von 70.000 Polen herausfanden, setzte Stasi-Minister Erich Mielke durch, das Belastungsmaterial zurückzuhalten, um es vor den Bundestagswahlen 1965 mit um so größerer Schädigung des Ansehens der Bundesrepublik publizieren zu lassen.
Henry Leides Demontage der DDR als Heimstatt des Antifaschismus ist eine immense Fleißarbeit auf breiter Quellengrundlage, kompetent und überaus aufschlussreich.
Henry Leide
NS-Verbrecher und Staatssicherheit.
Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005; 448 S., 29,90 Euro