Auf der Tagesordnung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates steht in der kommenden Woche, am 11. April, ein Thema, das unspektaklär klingt, aber dennoch politisch heikel sein dürfte: die Beziehung zwischen dem Europarat und der Europäischen Union. Denn die Aktivitäten nicht nur dieser internationalen Organisationen überschneiden sich in jüngster Zeit zusehends häufiger - aus früheren Partnern werden Konkurrenten, um Einfluss und Ansehen auf dem internationalen Parkett.
Das war nicht immer so, denn nach dem Schock des Zweiten Weltkrieges wollten die Europäer aus ihren Fehlern lernen. Mit dem Ziel, Sicherheit und Entspannung zu fördern, gründeten sie eine ganze Reihe internationaler Organisationen mit spezifischen Aufgaben: Die Nato hatte durch die Wahrung des militärischen Gleichgewichts einen Waffengang zwischen Ost und West zu verhindern, die WEU sicherte die militärische Beistandspflicht der Westeuropäer untereinander und die Europäische Gemeinschaft trieb die politische wie wirtschaftliche Integration im freien Teil des Kontinents voran. Nicht zu vergessen der Europarat, der sich der Durchsetzung gemeinsamer demokratischer und rechtsstaatlicher Werte verschrieben hatte und mit dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof ein weltweit einzigartiges Instrument zum Schutz der Grundrechte schuf. Hinzu stieß die KSZE, um als Klammer die beiden ideologischen Blöcke zu umfassen.
Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden die Aufgaben der einzelnen Organisationen immer unübersichtlicher: So wird Europas Freiheit von der Nato am Hindukusch verteidigt, die EU absolviert erfolgreiche militärische Missionen in Mazedonien und im Streit mit Russland fordert Georgien internationale Truppen unter Kontrolle der OSZE an: Solche Schlagzeilen zeigen beispielhaft, dass die Architektur der in Europa aktiven Organisationen einem tiefgreifenden Wandel unterworfen ist.
Am glimpflichsten kam bislang der Europarat davon, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine bis dahin auf den Westen beschränkte Arbeit fortan nach Osten ausdehnen konnte. Mit Ausnahme des wegen seines autokratischen Regimes isolierten Weißrusslands deckt der Straßburger Staatenbund inzwischen den ganzen Kontinent ab. Dass mittlerweile mit 25 mehr als die Hälfte seiner 46 Mitgliedsnationen auch der EU angehören, kratzt zwar an der Brückenfunktion des Europarats, macht die Organisation aber als Menschenrechts- und Demokratiewächter keineswegs überflüssig.
Die EU hat neben ihrer geographischen Erweiterung auch ihre inhaltliche Arbeit auf Gebiete ausgedehnt, die zunächst Domänen des Europarats waren. Diese thematische Erweiterung der EU-Politik von der europäischen Raumordnungspolitik bis hin zu Grundrechtsfragen führte zu immer mehr ineffizienter Doppelarbeit zwischen Brüssel und Straßburg. Angesichts dieser bedenklichen Tendenzen beauftragten die 46 Staats- und Regierungschefs 2005 auf ihrem Warschauer Europarats-Gipfel Jean-Claude Juncker damit, ein Grundsatzpapier zur künftigen Rolle des Staatenbunds innerhalb der europäischen Strukturen zu erarbeiten. Die erwarteten Vorschläge des Luxemburger Premiers laufen nach dessen Vorstellungen auf eine Beschränkung des Europarats auf seine Kernbereiche hinaus. Offen ist, ob und wie sich Juncker in Straßburg zum Verhältnis zwischen Europarat und OSZE äußern wird, deren Tätigkeit sich seit dem Fall der Mauer weitgehend auf den Dialog zur demokratischen Sicherheit reduziert. Die wegen der veränderten Ost-West-Konstellation auch zwischen Europarat und OSZE entstandene Doppelarbeit beispielsweise bei zahlreichen Wahlbeobachtungsmissionen in Mittel- und Osteuropa wird so begründet: Die OSZE ist die einzige Organisation, die auch die in der GUS zusammengeschlossenen Republiken der ehemaligen Sowjetunion umschließt. Anfang der 1990-er Jahre sind Versuche des Europarats gescheitert, die OSZE näher an Straßburg anzubinden: nicht am Nein der Länder Osteuropas, sondern am Widerstand der USA als einem der 55 OSZE-Mitglieder - Washington steht der Menschenrechtspolitik des Europarats ebenso reserviert gegenüber wie dem neuen internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Den intensivsten und noch keineswegs abgeschlossenen Wandel vollzieht die Nato. Nach dem Wegfall der akuten militärischen Bedrohung aus dem Osten und nach der Aufnahme vieler Mitgliedstaaten des früheren Warschauer Paktes begann die Suche nach einem neuen Selbstverständnis. Der krasse Bruch mit der Vergangenheit eines reinen Verteidigungsbündnisses zeigte sich beim Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Auch die Bemühungen der EU zum Aufbau einer selbständigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit eigenen Truppenkontingenten machten die Suche nach einer neuen Identität in der sich zunehmend als politische Organisation definierenden atlantischen Partnerschaft nicht leichter.
Seit der Berufung des Niederländers Hoop Scheffer zum Nato-Generalsekretär gewinnt die angestrebte neue Rolle des Bündnisses langsam an Konturen. Als Aktionsfeld wird die gesamte nördliche Erdhalbkugel eingestuft, wobei der Nato-Russland-Rat als ebenso wichtige strategische Komponente gilt wie der Dialog mit den Mittelmeerländern oder mit dem Golf-Kooperationsrat. Somit stehen nicht mehr potentielle Bedrohungen durch einzelne Länder im Vordergrund der Nato-Politik, sondern auch Fragen der Terrorismusbekämpfung oder der Energiesicherheit. Unter letzterem Aspekt ist auch der Aufbau einer vertraglichen Partnerschaft der Nato mit den südkaukasischen Ländern Georgien, Armenien und Aserbaidschan zu sehen: So sollen der Einfluss Russlands zurückgedrängt und die Energieabhängigkeit des Westens von Moskau vermindert werden. Im Kaukasus konkurriert die Nato dabei mit der EU, die diese Staaten im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik an sich zu binden sucht.
Die Umbauarbeiten in der europäischen Architektur lassen die WEU zusehends ins Hintertreffen geraten. 2000 wurde diese Organisation fast vollständig in die EU integriert. Die WEU wäre inzwischen fast schon vergessen, gäbe es nicht Artikel fünf des vor gut 50 Jahren geschlossenen Vertrages. Auf die in diesem Paragraphen verankerte zwingende Beistandspflicht im Falle eines Angriffs von außen, welche die Nato so weitreichend nicht bietet, wollen die zehn alten Nato-Staaten der EU offenbar nicht verzichten, während sich die Bündnisfreien in der EU zu einem solchen Beistand nicht nötigen lassen wollen. So fristet eine Mini-WEU weiter ihr Dasein und darf, um ihren kleinen Mitarbeiterstab zu beschäftigen, neben dem Hüten der vertraglichen Beistandspflicht noch die Rüstungszusammenarbeit von 19 kontinentalen Ländern koordinieren.