Internet-Wahlen gab es in Deutschland bislang vor allem in Unternehmen und Verwaltungen als Wahlen zum Personal- oder Betriebsrat, so zum Beispiel bei T-Systems CSM. Elektronische Wahlen zu politischen Körperschaften gab es bisher nur zu Kinder- und Schüler- sowie zu Studentenparlamenten. Eine Testwahl auf kommunaler Ebene fand 2001 in Marburg statt. Einwände, die auch Bundeswahlleiter Johann Hahlen immer wieder geltend macht, richten sich vor allem gegen die mangelnde Sicherheit, aber auch gegen die zu geringe Akzeptanz in der Bevölkerung.
Für Jörg Glücks indessen ist das Sicherheitsproblem technisch lösbar. Glücks war Leiter der Stabsstelle E-Government beim Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik in Brandenburg, unter deren Regie das Projekt "Wahlen in elektronischen Netzwerken" (W.I.E.N.) durchgeführt wurde. Bei diesem Projekt wurden verschiedene Arten von Online-Wahlen außerhalb des parlamentarischen Raums entwickelt und erprobt, zum Beispiel für Betriebs- und Personalräte, für Aktionärs- oder Sozialwahlen. Sein Fazit: Zunächst sollten Erfahrungen bei Betriebs- und Personalratswahlen gesammelt werden, bevor bei politischen Wahlen elektronisch abgestimmt wird.
Für Online-Wahlen verlangen Juristen eine so genannte qualifizierte Signatur. Sie ist die Entsprechung für die eidesstattliche Unterschrift bei der herkömmlichen Briefwahl. Dabei müssten sich die Wähler von einer so genannten Registration authority registrieren lassen" - ein Verfahren, das zwar gerichtsfest und bei Verträgen im Internet auch sinnvoll sei, doch für den einmaligen Wahlakt zu aufwändig und zu teuer, meint Glücks. Nach seiner Auffassung reicht bei Betriebs- und Personalratswahlen die so genannte fortgeschrittene Signatur über eine PIN-Nummer aus. Glücks: "Das Recht muss ein wenig den technischen Voraussetzungen angepasst werden." Sicher verschlüsseln ließen sich Informationen mit einer Smartcard und einem Lesegerät.
Doch nicht allein Anforderungen an die Sicherheit erschweren die Durchsetzung von Online-Wahlen. Hinzu komme der Zwang, die Wahlenscheidung geheim zu halten, so der Politikwissenschaftler Norbert Kersting von der Universität Marburg. Bei der herkömmlichen Stimmabgabe ist die geheime Wahl leicht zu garantieren. Der Staat stellt sicher, dass nur der Wähler Zugang zur Wahlkabine hat. Anders bei Internet-Wahlen, bei denen die Stimme von jedem beliebigen PC abgegeben werden könnte. In solchen Situationen könnte die Entscheidung im Moment der Stimmabgabe durch das soziale Umfeld, Familie oder Freunde, beeinflusst werden, beschreibt Kersting die Vorbehalte der Politik gegenüber Online-Wahlen. Einzelne Versuche, Stimmen zu versteigern, wie es vor einiger Zeit über eine Internet-Börse versucht wurde, dürfte die Skepsis gegenüber Online-Wahlen noch verstärkt haben.
Diese Vorbehalte teilen die internetbegeisterten Esten nicht. Dort wurden im vergangenen Herbst gegen den Widerstand von Staatspräsident Arnold Rüütel landesweit Kommunalwahlen elektronisch durchgeführt. Um Sicherheitslücken zu finden, wurden während der Probeläufe sogar Hacker engagiert. Deren Erkenntnisse wurden auch umgesetzt: Die Server wurden von der Polizei bewacht und der Rechner, der die Stimmen auszählt, wurde nicht mit dem Internet verbunden. Den Zugang eröffnete ein computerlesbarer Personalausweis. Durch ein Lesegerät gezogen, ließ sich mit ihm eine Wahl-Webseite mit den Namen der Kandidaten aufrufen. Mit einem PIN-Code wurde der Wahlakt bestätigt.
In der Schweiz wurde bereits 2003 im Genfer Vorort Anieres online gewählt. Von den 1162 Wahlberechtigten nutzten 323 die Chance zur elektronischen Stimmabgabe. Die Behörden rechneten nur mit 200 Online-Stimmen. Jeder Wahlberechtigte erhielt eine Wahlkarte mit einer Identifikationsnummer. Sie öffnete, zusammen mit Geburtsdatum und Geburtsort, den Zugang zu einer gesicherten Webseite des Kantons Genf. Die Stimmen wurden verschlüsselt übertragen und zusätzlich anonymisiert. Die Bürger der Alpenrepublik würden bei den politischen Entscheidungsträgern im Land als reife und gefestigte Demokraten gelten, die selbst entscheiden könnten, ob und von wem sie sich bei einer Wahl über die Schulter schauen ließen, erklärt Experte Kersting.
In Deutschland wurden 2002 Arbeitnehmervertretungen elektronisch gewählt: Die Personalratswahl im Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik in Brandenburg und die Betriebsratswahl bei der T-Systems, einer Tochter der Deutschen Telekom.
Das Problem bei T-Systems, wie bei allen Online-Wahlen: Dem Wahlsystem muss der Wähler bekannt sein, um festzustellen, ob er wahlberechtigt ist. Gleichzeitig darf das System nicht wissen, wie ein Wähler abgestimmt hat. Das konnte sichergestellt werden, weil der Aussteller des Zertifikats, die Anbieter des Wahlservers und der Wahlurne sich gegenseitig kontrollieren. Die Wahlberechtigung wird vom Server des Wahlamtes geprüft, der Aussteller des Zertifikats - das "Trustcenter" - gibt die elektronische Signatur aus und garantiert, dass es sich um die richtige Person handelt. Und der Betreiber der Wahlurne schließlich prüft, dass die Stimme nur einmal abgegeben wurde. Gewählt wurde mit einer Chipkarte, auf der die personenbezogenen Daten, die persönliche Signatur und die PIN-Nummer des Wählers gespeichert waren. Der Anteil der Online-Stimmen in den sieben Betrieben von T-Systems reichte von 25 bis 75 Prozent und lag damit deutlich über dem Anteil der herkömmlichen Stimmabgabe. Die geringe Quote von 25 Prozent hing nach Angaben des Unternehmens mit organisatorischen Problemen an einem Standort zusammen. Nur 37 der gut 3.500 abgegebenen Stimmen waren ungültig.
Staatliche Online-Wahlen sind in drei Varianten denkbar: Innerhalb des Wahllokals; dann als so genannte "Kiosk-Wahl", hier werden außerhalb von öffentlichen Räumen, zum Beispiel in Bibliotheken, Wahlautomaten bereitgestellt, die an das Internet angeschlossen sind -, und als Wahl von jedem beliebigen PC aus, zum Beispiel zu Hause, im Internet-Cafe oder am Arbeitsplatz.
Nach Auffassung der Fachleute haben die Wähler online mehr Zeit für die Stimmabgabe, vor allem wenn etwa bei Kommunalwahlen Stimmen kumuliert oder panaschiert werden können. Gerade bei solch komplexen Wahlscheinen sei die Wahrscheinlichkeit, dass Bürger bei Internet-Wahlen eine Entscheidung aus dem Bauch heraus treffen, geringer als beim herkömmlichen Ankreuzen eines Stimmzettels, meint Wahlexperte Norbert Kersting. Außerdem könnten zum Beispiel Wahl-Kioske zu Informationszentren ausgebaut werden, in denen die Bürger sich mit Entscheidungshilfen versorgen.
Dennoch sieht Kersting im Kiosk-Voting nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Internet-Wahl von zu Hause aus. Die Gefahr, dass über sozialen Druck die Wahlentscheidung beeinflusst werden könnte, schätzt Kersting gering ein. Auch in Deutschland werde sich zu diesem Problem die gleiche Gelassenheit einstellen wie in der Schweiz.
Internet-Wahlen haben einen weiteren Vorteil: Die Fehlerquellen sind geringer und die Stimmen sind schneller ausgezählt. Bei der Marburger Testwahl lagen sie per Knopfdruck unmittelbar nach Schließung der Wahllokale vor. Vor allem wenn Stimmen kumuliert und panaschiert werden können ist die elektronische Auszählung sicherer und schneller. So wird dieses Wahlsystem in Nordrhein-Westfalen und Bremen diskutiert, in Hamburg muss es nach einem Referendum eingeführt werden.
Allerdings gibt es laut Kersting einen Aspekt, der die Einführung von Internet-Wahlen verzögern wird: die Kosten. Wenn eine technische Infrastruktur erst einmal aufgebaut sei, seien die Aufwendungen für eine Wahl deutlich geringer als jetzt. Doch die Anlaufkosten seien exorbitant hoch. So müssten allein für Bundestagswahlen rund 80.000 Wahllokale vernetzt werden. Bei allen diskutierten Vorteilen sollten sich die Anhänger von Internet-Wahlen außerdem von einer Hoffnung verabschieden: Mit der neuen Technik werde die Wahlbeteiligung nicht unbedingt größer. Bei der Marburger Testwahl war sie nur gering gestiegen.
In Kürze wird das Bundesarbeitsministerium den Abschlussbericht des W.I.E.N-Projektes veröffentlichen. Zwei Einsichten haben Glücks und seine Kollegen jetzt schon gewonnen: Internet-Wahlen werden sich nur durchsetzen, wenn die Kosten nicht zu hoch sind und wenn die informationelle Gewaltenteilung sicher gestellt ist. Das heißt: Wer den Rechner für eine Wahlurne betreibe, dürfe nicht zugleich den Rechner für die Wählerlisten betreiben. Das Hosting müsse, so Glücks, unter öffentlich-rechtlicher Regie bleiben, um Neutralität zu gewährleisten.
Der Autor ist freier Journalist in Düsseldorf.
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