Erdbebensichere Container-Häuser, verstärkt durch eine meterdicke Schicht aus Sandsäcken unter dem Stahldach, dienen zum Teil schon als Arbeitsplatz. Die Seitewände sind gepanzert mit extrastarken Stahlwänden. 20 Minuten vom Zentrum Mazar-i-Scharifs, in unmittelbarer Nähe zum Flughafen, entseht das neue Hauptquartier der deutschen Truppen im Norden Afghanistans. Ab dem 1. Juni werden im ISAF-Einsatz von hier nicht weniger als neun der 32 Provinzen militärisch befehligt. Ein Gebiet halb so groß wie die Bundesrepublik.
Den Oberbefehl über rund 2.250 Bundeswehrsoldaten im Norden und weitere NATO-Einheiten hat ein Deutscher, Brigadegeneral Markus Kneip. "Jeder Anschlag bereitet uns Sorge", sagt er mit Blick auf die Sicherheitlage und 18 deutsche Soldaten, die bisher am Hindukusch ihr Leben ließen. Anhaltspunkte, dass Taliban-Chef Mullah Omar den Auftrag erteilt habe, die Deutschen in Mazar gezielt anzugreifen, habe er nicht. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hatte dies berichtet. Weder die Bundeswehr noch deutsche Diplomaten vor Ort können das bestätigen. Handelt es sich einmal mehr um ein unbestätigtes Gerücht, von denen es in Afghanistan nur so wimmelt? "Die Berichterstattung hat ihre Hochs und Tiefs", meint Presseoffizier Markus Werther. "Immer wenn ein Anschlag passiert oder jüngst im Fall Abdul Rahman, stellen deutsche Politiker den ganzen Auftrag in Frage. Das trägt oft nicht der realen Situation Rechnung. Erwähnen Sie lieber den Alltag hier: vier Monate zu dritt auf 14 Quadratmeter, ohne Familie. Dienst von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends, ohne echten Feiertag", sagt er.
In Camp Marmal werden rund 50 Millionen Euro verbaut. Jeder Tag des ISAF-Einsatzes kostet die Bundeswehr über eine Million Euro (Jahresetat laut Verteidigungsministerium: 383 Millionen Euro). "Das Ganze ist eine riesige Geldvernichtungsmaschine", meint ein ziviler deutscher Mitarbeiter dazu, der für den Aufbau des neuen Bundeswehr-Krankenhauses in Kundus zuständig ist. "Da wird mit Villeroy und Boch gebaut. Alles nur vom Feinsten."
In Camp Marmal profitieren immerhin eine Reihe afghanischer Bauunternehmen von der militärischen Gründerzeit. Es gibt Arbeit für die einheimische Bevölkerung und ordentliche Bezahlung. Lebensmittel und Getränke werden überwiegend aus dem Ausland eingeflogen. "Das liegt ganz einfach an den Hygiene-Vorschriften", sagt Jan-Olaf Harders von der Bundeswehr-verwaltung. Nicht alles werde aus Deutschland importiert, wie mitunter behauptet. Das Wasser kommt aus Dubai oder den Emiraten, die 1,5 Liter-Flasche für umgerechnet 42 Cent. Frisch-Ware stammt überwiegend aus der EU. "Die Soldaten wollen sauberes Essen, statt sich auch noch Sorgen darüber zu machen. Das ist auch eine Frage der Motivation", so Veterinär Poellein.
Geländefahrt zu einer nahe gelegenen Einheit der afghanischen Armee: Hinter dem Kasernentor machen die Soldaten am Straßenrand ihre Waffen scharf, vor der Einfahrt in das befreundete Camp werden sie wieder entsichert. Der Fahrer, ein junger Bundeswehrsoldat, nimmt einen Schleichweg. "Ich stehe ungern im Stadtverkehr. Da bekommt man ein mulmiges Gefühl."
General Taj Mohammed Jahed kommandiert das 209. afghanische Bataillon - er ist für weite Teile des Nordens zuständig. "Aufständische und Taliban sind hier ohne Rückhalt in der Bevölkerung", erklärt er, "wenn ein Fremder in einem Dorf auftaucht, dauert es nicht lange und er wird als verdächtig gemeldet." Auf Mithilfe aus der Bevölkerung setzt auch die Bundeswehr. Man habe gute Kontakte zu Dorfältesten, Mullahs und Schura-Vorsitzenden.
Eine von sechs deutschen Transall-Maschinen fliegt am nächsten Morgen nach Kabul. Die Flugzeuge sind im Dauereinsatz, der Afghanistan-Einsatz ist ein erheblicher Material-Test. "Die kleineren Nationen mit kolonialer Vergangenheit wie die Holländer machen uns etwas vor mit ihren größeren Ladekapazitäten", sagt ein Soldat. Eine Iljuschin russischen Bautyps schwebt ein. In jüngster Zeit werden größere Lufttransporter von der Bundeswehr teuer angemietet. Kein Grund zur Beunruhigung, meint General Hans-Werner Ahrens, stellvertretender Kommandeur der ISAF. "Ab 2010 stehen die ersten A400 Großraumtransporter zur Verfügung. Die können dann 32 statt acht Tonnen bewegen."
"Das Risiko für die ISAF wird zunehmen", sagt General Ahrens ohne Umschweife. "Im Süden sind die Kriegsverlierer zu Hause. Menschen, die religiös zurückgeblieben sind und mit der Modernisierung zum Teil nichts anfangen können." Der Norden, soviel wird spätestens hier klar, hat es vergleichsweise besser als der Süden. Afghanistan ist zweigeteilt. "20 bis 25 Jahre" werde die Bundeswehr noch in Afghanistan sein, "drei Generationen", meint Ahrens. Bis November will die NATO ihren Einsatz auf ganz Afghanistan ausweiten. "Ich rechne damit, dass sich die Amerikaner weiter zurückziehen", so Ahrens, "ihre Kontingente sind weltweit ausgereizt." In den Augen vieler Afghanen lässt das die Alarmglocken schrillen. Schon einmal fühlte sich die Bevölkerung von den USA im Stich gelassen, 1979, unmittelbar bevor die Sowjets einmarschierten.
Zwar heißt es, die Verlegung von britischen, kanadischen, australischen und niederländischen Truppen in den Süden verlaufe planmäßig. Andererseits gibt es Berichte über Taliban, die mit Geld und Waffen in ländliche Gebiete strömten. 200 Taliban sollen unlängst Panjwai bei Kandahar, die Geburtsstadt von Präsident Karsai eingenommen haben. Man kann sich vorstellen, dass einige von ihnen Morgenluft wittern. Anders als der offensive Auftrag der Militär-Operation "Enduring Freedom" zur Terrorbekämpfung mit allen Mitteln will die NATO im Süden an ihrer "Peacekeeping"-Philosophie festhalten. "Wir werden uns angemessen verteidigen, wenn wir angegeriffen werden", heißt es allenthalben. Wie aber kann es gelingen, militante Taliban auszuschalten, wenn man vor allem auf Verteidigung aus ist?
"ISAF und afghanische Regierung müssen den Schuras Anreize und Geld geben, dass sie ihr Umfeld nach Muster des nationalen Solidaritätsprogramms aufbauen können", meint Robert Kluyver, ehemaliger UN-Mitarbeiter und Afghanistan-Experte. Das nationale Solidaritätsprogramm ist ein Tauschhandel: Für Infrastrukturprojekte wie Brunnen und Brücken gibt es Geld, im Gegenzug muss das Dorf demokratische Strukturen bestimmen. "Die ersten drei Monate werden entscheidend sein", meint Kluyver. "Mit Zutun der ISAF müssen korrupte Polizei-Kommandeure und Beamte in den Provinzregierungen bis hoch zu den Gouverneuren ausgetauscht werden."
"Wir sind alle Amerikaner, in den Augen der Afghanen", sagt Massoud Wahab, ein Deutsch-Afghane in Uniform. Die einfache Bevölkerung könne Fahnen und Uniformen nicht immer unterscheiden. Wahab ist Major der Bundeswehr. Nach seiner Flucht 1980 in die Bundesrepublik wurde er Pädagoge und Jugendbetreuer in Berlin-Dahlem. Jetzt ist er in Kabul unentbehrlicher Mittler zwischen den Kulturen. "Ich habe gesehen wie US-Soldaten in einem Dorf bei Kabul vor den Augen der Bewohner in einen Brunnen gepinkelt haben. Ein anderes Mal haben sie ein Kind erschossen, nur weil es eine abfällige Handbewegung gemacht hat", erzählt er. Der Filmemacher Mahomood Salimi sieht es so: "Die ISAF steht in den Augen der Afghanen für Sicherheit und Wiederaufbau. Die Amerikaner und Koalitionskräfte, also zum Teil auch die Briten, stehen für Krieg, Waffen, Gewalt und B-52-Bomber."
Aus dem holzgetäfelten Gesangsraum im Camp Warehouse tönt Orgel-Musik. Der bärtige Mann an Instrument ist Brigadegeneral Christof Munzlinger. "Kommt, sagt es allen weiter", singt er froh im Reigen von Soldaten. "Es gibt kein klares Bild vom Feind", betont er die Schwierigkeit der Terror-Bekämpfung. Auch hier, weit von London oder Madrid entfernt, ein ähnliches diffuses Bild wie in Europa. "To make the world a better place" - diesmal ist es kein Lied, das Munzlinger anstimmt, sondern sein persönliches Credo. Nie habe er sich innerlich so ruhig gefühlt wie hier.
Claudia Stade, die Truppenpsychologin, hat vielmehr mit so genannten "critical incidents" zu tun, vor allem, wenn Kamaraden aus dem eigenen Land betroffen sind. Nicht immer sei das Ausfliegen in die Heimat dann die beste Lösung. Vor Ort könnten die Betroffenen die Ereignisse am Besten verarbeiten. "Schade ist, dass die Soldaten nicht rauskommen. Einige landen zu ihrem ersten Einsatz am Flughafen und kommen direkt in ein gepanzertes Fahrzeug, dass sie weiterfährt. Sie sehen nichts vom Land, haben nur das Gefühl, dass da draußen ein Krieg tobt".