Einleitung
Spätestens seit der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2000 entwickelt sich der demographische Wandel zu einem Megathema im wissenschaftlichen und politischen Diskurs. 1 Die alarmierenden Projektionen des Statistischen Bundesamtes - und inzwischen auch von Statistischen Landesämtern 2- untermauern zwar nur, worauf Demographen seit Jahrzehnten hinweisen, 3 sie stoßen aber erst rund 30 Jahre nach dem "Pillenknick" auf breiteres Interesse. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Veränderung der Altersstruktur und die Schrumpfung der Wohnbevölkerung gravierende soziale, politische und ökonomische Auswirkungen haben werden. Erst im Anschluss an diese erste Welle der Beschäftigung mit Fragen der Demographie gelangte das Thema auch auf die Agenda von Wissenschaft und Praxis der Kommunalpolitik. Inzwischen kann auf Befunde aus (Forschungs-)Projekten, Veröffentlichungen, Tagungen, Konferenzen sowie auf Best-Practice-Sammlungen verwiesen werden. 4 Die Autoren des Beitrages greifen diese Erkenntnisse auf und verbinden sie mit Ergebnissen eines im Jahr 2004 durchgeführten Forschungsprojektes zu den Folgen des demographischen Wandels für die Kommunen in Rheinland-Pfalz. 5 Im Vordergrund stehen dabei die Erwartungen und Handlungsdispositionen kommunaler Entscheidungsträger.
Mit Rheinland-Pfalz wird bewusst keine von Schrumpfung und Alterung heute schon stark gekennzeichnete Problemregion in den Blick genommen, sondern ein westdeutsches Flächenland, das hinsichtlich der demographischen Grunddaten innerhalb der alten Bundesländer keinen Sonderfall darstellt. 6
Kommunalpolitische Entscheidungsträger orientieren sich - vielfach aus Ungewissheit über den örtlichen demographischen Entwicklungspfad - nach wie vor eher am lange Zeit bewährten Steuerungsziel des Wachstums und der kleinräumigen Konkurrenz als an zu erwartenden demographischen Rahmenbedingungen. Wachstumsorientierte Strategien allein werden Kommunen allerdings in Zukunft vor große Probleme stellen. Die Mehrheit auch der westdeutschen Kommunen wird sich schon mittelfristig nicht mehr auf einem demographischen Wachstumspfad befinden. Eine Kommunalpolitik, die in dieser Situation auch weiterhin auf quantitativen Bevölkerungszuwachs und interkommunale Konkurrenz setzt, begibt sich in einen ruinösen Wettbewerb, der anders als die Suburbanisierungsprozesse der jüngeren Vergangenheit nicht als Nullsummenspiel ablaufen, sondern mehr Verlierer als Gewinner hervorbringen wird.
Das Beispiel Rheinland-Pfalz
"W e n n die Geburtenrate und die Lebenserwartung konstant bleiben sowie Zu- und Abwanderung sich die Waage halten, d a n n gibt es schon in 50 Jahren eine Million Rheinland-Pfälzer weniger", so das Statistische Landesamt Rheinland-Pfalz in seiner Studie "Rheinland-Pfalz 2050". 7 Die Kernbotschaft der unterschiedlichen Modellrechnungen bis 2050 ist dramatisch. Die als "wenig spektakulär" gekennzeichnete Ausgangsvariante 8 weist neben der bereits angesprochenen Reduzierung der Gesamtbevölkerung von Rheinland-Pfalz von etwas über vier Millionen Einwohner im Jahr 2000 auf ca. drei Millionen im Jahr 2050 folgende Eckdaten auf:- Das Medianalter steigt von 39 im Jahr 2000 auf 48 Jahre in 2050. Die Hälfte der Rheinland-Pfälzer wird dann älter als 48 Jahre sein.- Der Anteil der Menschen über 75 Jahre wird sich bis 2050 fast verdoppeln und von 8 auf 15 Prozent der Gesamtbevölkerung steigen.- Der Altenquotient steigt von heute 45 auf ein Maximum von 72 im Jahr 2040. 9 - Die Zahl der Kinder im Vorschulalter wird bei konstanter Geburtenrate von 1,4 bereits mittelfristig (also bis 2015) deutlich zurückgehen, gegenüber 2002 um 14 bis 17 Prozent je nach Annahme zu den Wanderungsbewegungen. Langfristig (also bis 2050) beträgt der Rückgang zwischen 27 und 40 Prozent.- Die Schülerzahlen an Grundschulen werden in allen Modellvarianten ebenfalls bereits mittelfristig deutlich zurückgehen, um fast 20 Prozent im Landesdurchschnitt gegenüber 2002. Langfristig beträgt der Rückgang rund 36 Prozent.
Besonders interessant sind die regionalen Unterschiede der Entwicklung. Während im Osten des Bundeslandes überwiegend mit einer weiteren Bevölkerungszunahme zu rechnen ist, nimmt die Bevölkerung in den strukturschwächeren westlichen Landesteilen bereits ab. 10 Langfristig kommt es in allen Landesteilen zu erheblichen Schrumpfungen, wobei der Südwesten die größte Bevölkerungsabnahme (bis zu 35 Prozent) zu verzeichnen hat. Die regionalen Unterschiede zeigen, dass demographische Prozesse unter den Kommunen auch kleinräumig offensichtlich immer auch Gewinner und Verlierer hervorbringen.
Kommunalwissenschaftliche Aspekte
Unterschiede bei den Geburtenzahlen und regionale Wanderungsbewegungen verursachen nicht nur im interregionalen, sondern auch im kleinräumig intraregionalen Vergleich ungleichmäßige Bevölkerungsentwicklungen. In Raumplanung und Regionalforschung wird davon ausgegangen, dass sich der aktuelle Dekonzentrationsprozess in Westdeutschland zunächst fortsetzen wird. Verstädterte und ländliche Räume werden so wohl auch weiterhin ihre Bevölkerungsanteile zu Lasten der Ballungs- bzw. Agglomerationsräume ausbauen können. Daneben ist die "Suburbanisierung, also der kleinräumige Wanderungsprozess, (...) der quantitativ bedeutsamste Wanderungsprozess". 11 Profitieren werden demnach weiterhin "ländlich geprägte Räume in größerer Entfernung zu den Kernstädten sowie die reiferen suburbanen Räume". 12
Demographische Vorausberechnungen für die regionale oder gar kommunale Ebene sind damit schwieriger und mit größerer Unsicherheit behaftet, als dies auf Landes- oder Bundesebene der Fall ist. Hinzu kommen ungleichmäßig verlaufende Entwicklungen in der Wirtschaftsstruktur. 13 Wirtschaftliche Prosperität und damit zusammenhängende positive Wanderungssalden können zahlreichen Gemeinden auch in mittelfristiger Perspektive Bevölkerungswachstum bescheren. Innerhalb verdichteter Regionen wird es deshalb ein enges räumliches Nebeneinander von wachsenden, stagnierenden und schrumpfenden Gemeinden geben. Die Alterung der Bevölkerung wird allerdings noch früher flächendeckender zum Tragen kommen und zunächst gravierendere Auswirkungen haben als der Bevölkerungsrückgang. 14
Erst ab 2015 bis 2020 ist auch in Westdeutschland zunehmend mit Bevölkerungsrückgang in Gemeinden aller Raumkategorien zu rechnen. Mehr und mehr Gemeinden befinden sich dann auf einem "Stagnations- oder Schrumpfungspfad". 15 Sub- bzw. Desurbanisierungsprozesse werden zum Stillstand kommen, teilweise sogar in eine Reurbanisierung umschlagen. Bereits heute gibt es Anzeichen für eine anhaltende "großräumige Kontraktion des Siedlungssystems". 16 Regional und kommunal unterschiedliche demographische Entwicklungen stellen Gemeinden so vor unterschiedliche Herausforderungen. Generell ist davon auszugehen, dass in immer mehr Gemeinden die Nachfrage nach Infrastrukturleistungen wie der technischen Ver- und Entsorgung sowie nach Dienstleistungen zurückgeht, ohne dass damit automatisch eine entsprechende Reduktion der Kosten verbunden wäre. 17 Gleichzeitig wird es Bereiche geben, in denen aufgrund der Alterung der Bevölkerung bestimmte Bedarfe eher wachsen werden. 18
Ungeachtet solcher Szenarien ist nicht ausgeschlossen, dass Gemeinden aus dem demographischen Wandel auch Chancen erwachsen können. Hierunter fallen wettbewerbsbedingte städtebauliche (z.B. Städtearchitektur, Verkehrsplanung, Wohnumfeld und Naherholung) und gesellschaftspolitische (z.B. Alten-, Familien- und Integrationspolitik) Modernisierungsschübe und Qualitätsverbesserungen, vor allem aber die Chance zum intra- und interkommunalen Dialog sowie zur "Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Grundkonsenses". 19
Zum Problembewusstsein kommunalpolitischer Eliten
Einerseits erweisen sich demographische Prozesse als politisch schwer steuerbar, andererseits "beruhen alle demographisch bedingten Probleme ausnahmslos auf den Verhaltensweisen der Menschen". 20 Diese sind eingebettet in das soziale, ökonomische und politische Gefüge einer Gesellschaft. Die regional disparate Verteilung von Wanderungsgewinnen und -verlusten verweist ebenso wie regional unterschiedliche Geburtenraten auf die Bedeutung lokaler, kommunalpolitisch beeinflussbarer Rahmenbedingungen. Dementsprechend ist auch das Problembewusstsein kommunalpolitischer Eliten relevant - ein bis dato noch wenig untersuchter Aspekt der demographischen Entwicklung. 21 Im oben genannten Forschungsprojekt wurde 2004 genau dieser Aspekt untersucht. 22
Die große Mehrheit der in diesem Projekt befragten Akteure zeigt sich für das Thema sensibilisiert. Allerdings ist das Problembewusstsein ungleich verteilt. Es gibt offenbar einen deutlichen Zusammenhang zwischen aktueller Betroffenheit und der Bereitschaft zur Problematisierung der demographischen Entwicklung - ein Umstand, der auf signifikante Unterschiede in der gegenwärtigen demographischen Situation zurückzuführen ist. So sind einerseits insbesondere strukturschwache ländliche Räume bereits heute mit den Folgen zurückgehender Geburtenzahlen und vor allem mit der Abwanderung junger Menschen konfrontiert, und es werden dort schon erste Folgen des anstehenden Wandels registriert: rasch schrumpfende Anmeldezahlen in Kindergärten und Grundschulen, Rückgang der Bewohnerzahl von Ortskernen, Anstieg des Altersdurchschnitts der Bevölkerung, Singularisierungstendenzen mit einer wachsenden Zahl allein lebender Seniorinnen und Senioren sowie Leerstände in den Ortskernen. Andererseits gibt es aber kommunale Entscheidungsträger aus verdichteten Räumen, die in ihrem Verantwortungsbereich noch keine negativen Entwicklungen ausmachen können und dies auch für die nähere Zukunft nicht erwarten. Es werden nach wie vor stabile oder sogar wachsende Einwohnerzahlen, stark ausgelastete Kindergärten und Schulen sowie eine kontinuierliche Nachfrage nach Bauland bei einem relativ gesättigten Mietwohnungs- und Immobilienmarkt verzeichnet. Dennoch wird auch hier der demographische Wandel als Entwicklungsszenario der Zukunft nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Lediglich für den eigenen Verantwortungsbereich erwartet man keine dramatischen Veränderungen. 23
Zwischen Zweckoptimismus und politischem Gestaltungswillen
In der Mehrzahl der Kommunen wird die eigene Entwicklungsperspektive also positiver eingeschätzt, als dies die Modellrechnungen signalisieren. Besonders die langfristigen Ergebnisse demographischer Vorausberechnungen (bis 2050) werden - wegen negativer Erfahrungen mit demographischen Planungsgrundlagen in der Vergangenheit oder mit Verweis auf die Volatilität von Wanderungssalden - in ihrer Dramatik grundsätzlich in Zweifel gezogen. 24 Ist dies Ausdruck von politischem Zweckoptimismus und mangelndem Problembewusstsein, oder zeigt sich hier ein ausgeprägter kommunalpolitischer Gestaltungswille? Spricht aus den eher optimistischen Einschätzungen etwa der Glaube an die politische Gestaltbarkeit der Bevölkerungsentwicklung vor Ort und auch die Hoffnung, vergangenes Wachstum in die Zukunft fortschreiben zu können? Jedenfalls wird die eigentliche Ursache des Wandels, die niedrige Geburtenrate, als kommunalpolitisch kaum beeinflussbar eingestuft. So erwartet kaum jemand mittelfristig einen signifikanten Geburtenanstieg. Vielmehr seien hier Bundes- und Landespolitik gefragt, die nach Einschätzung der Befragten dem zentralen gesellschaftlichen Problem der Zeit, der "kinderlosen Gesellschaft", viel zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Stattdessen werde auf "Nebenschauplätzen" wie dem der Zuwanderung agiert. 25
Zuwanderung aus dem Ausland wird folglich überwiegend nicht als Lösungsansatz betrachtet, teilweise auch ausdrücklich abgelehnt. Vielmehr richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Binnenwanderung. In ihr sehen viele kommunale Entscheidungsträger die einzige Variable der demographischen Entwicklung, die kommunalpolitisch beeinflusst werden kann. Durch gezielte, die Attraktivität herausstellende Standortpolitik hofft man vielerorts, die ortsansässige Bevölkerung halten und um junge Familien werben zu können. Etwas anders stellt sich die Situation in kreisfreien Städten dar. Hier werden sowohl Zuwanderung aus dem Ausland als auch die gezielte Anwerbung kaufkräftiger Senioren als Handlungsoptionen zur Bekämpfung demographischer Schrumpfung ins Auge gefasst. 26 Solche Einschätzungen verdeutlichen, dass es durch die demographischen Umbrüche nicht nur "Verlierer", sondern auch "Gewinner" geben wird. Letztere werden überwiegend in Verdichtungsräumen und dort vermutet, wo es gute Anbindungen an Agglomerationen und Wirtschaftszentren mit Arbeitsplatzangebot und attraktiven Einkaufsmöglichkeiten gibt. Zu den Verlierern der Bevölkerungsentwicklung werden mehrheitlich Dörfer in dünn besiedelten ländlichen Räumen gezählt, insbesondere solche, die über schlechte Verkehrsanbindungen an Ballungszentren und Arbeitsplätze verfügen. Hier fürchtet man, im ungünstigsten Fall in die Abwärtsspirale eines sich selbst verstärkenden, von weiteren Abwanderungen gekennzeichneten Schrumpfungsprozesses zu geraten: Bevölkerungsrückgang, sinkende öffentliche Finanzausstattung, Abbau von Infrastruktur und Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. 27
Demographischer Wandel als Querschnittsaufgabe
Nach Ansicht kommunaler Entscheidungsträger erfordert der demographische Wandel in einer Vielzahl kommunaler Handlungsfelder - im Sinne eines Querschnittsthemas - politischen Gestaltungswillen. Im Zentrum kommunalpolitischer Aufmerksamkeit werden Siedlungs- und Infrastruktur, Wirtschaft und Arbeitsmarkt sowie Kinderbetreuung (Kinderkrippe, -garten und -hort) und Bildung (Schulen) stehen. 28 Diese Themen weisen offensichtlich besondere Interdependenzen zur Bevölkerungsentwicklung auf. Exemplarisch soll im Folgenden nur auf eines der genannten Handlungsfelder eingegangen werden.
Als Folge demographischer Schrumpfung und Alterung wird sich die Siedlungsstruktur tiefgreifend verändern. Im ungünstigen Fall werden Zersiedelungsprozesse und eine dramatische Entleerung von Ortskernen insbesondere in ländlichen Räumen befürchtet, begleitet vom Verfall alter Bausubstanz, sozialer Segregation und dem Verlust gewachsener sozialer Strukturen. Dies werde sich, so die befragten Akteure, einerseits auf die ganze Bandbreite kommunaler Infrastruktur - von den Ver- und Entsorgungssystemen über die Verkehrsinfrastruktur (ÖPNV), die sozial-kulturellen Einrichtungen bis zur Kinderbetreuung und Schulinfrastruktur - auswirken. Die Aufrechterhaltung des heutigen Niveaus an kommunaler Infrastruktur könne unter Alterungs- und Schrumpfungsbedingungen kaum mehr gelingen. Andererseits werde der daraus resultierende Anstieg der Pro-Kopf-Infrastrukturkosten und der damit einhergehende Gebührenanstieg zu weiterer Abwanderung und weiterer Reduktion öffentlicher und privatwirtschaftlicher Infrastruktur führen. 29 Vor diesem Hintergrund erscheint es äußerst problematisch, dass in nicht wenigen Gemeinden - auch solchen jenseits zukünftiger Wachstumsregionen - immer noch in Wachstumskategorien gedacht wird. Nach wie vor stehen Neubaugebiete bei vielen Bürgermeistern und Gemeinderäten im Zentrum der Siedlungsplanung. Vielerorts besteht die kurzfristig manchmal nicht unberechtigte Hoffnung, dass über die Ausweisung neuen, günstigen Baulands junge Familien in die eigene Gemarkung gelockt werden können.
Allerdings wird sich nicht nur aus der erweiterten regionalen und überregionalen Perspektive auf Siedlungsstrukturen eine am Wettbewerb mit den unmittelbaren Nachbargemeinden orientierte Politik für viele als Bumerang erweisen. Bereits heute gibt es ein örtliches Überangebot an Bauland und Tendenzen der Zersiedelung zu Lasten alter Ortskerne. Letztlich können die Kosten für den Aufbau und die Vorhaltung der Infrastruktur für viele Gemeinden schon bald zu einer verhängnisvollen Belastung werden. Solche Entwicklungen drohen nicht nur dünn besiedelten ländlichen Räumen in ungünstiger Lage. Auch die von der Suburbanisierung bisher profitierenden Umlandgemeinden größerer Städte müssen sich auf einen verschärften Wettbewerb um Einwohnerinnen und Einwohner einstellen. Nicht wenige Städte sehen im demographischen Wandel die Chance, ihre Potenziale für eine aktive Siedlungspolitik auf eigener Gemarkung zu nutzen. Insbesondere vorhandene Konversionsflächen haben einigen rheinland-pfälzischen Städten dazu bereits umfangreiche Möglichkeiten geboten, wozu etwa die Bereitstellung günstigen Baulands für Ein- und Mehrfamilienhäuser gehört. Auch könnten Kernstädte in Zukunft Erfolg versprechend kaufkräftigen Senioren, welche die kurzen Wege und die Infrastrukturdichte von Städten idyllischen Wohnlagen in ländlichen Räumen vorziehen, attraktive und komfortable Wohnmöglichkeiten bieten.
Wachstumsorientierung unter Alterungs- und Schrumpfungsbedingungen
Insgesamt zeigt die Befragung kommunalpolitischer Entscheidungsträger, dass Kommunalpolitik auf eine dramatische Verschärfung des interkommunalen Wettbewerbs um Einwohner zusteuert. Der demographische Wandel dürfte damit grundlegender noch als die notorische kommunale Finanznot, die sich eher noch verschärfen wird, 30 alle kommunalpolitischen Kräfte herausfordern. Vor allem in Bezug auf die Einwohnerzahl ist kommunalpolitisches Handeln traditionell wachstums- und wettbewerbsorientiert. Zugespitzt formuliert gibt es in der deutschen Finanzverfassung nämlich "nichts Teureres als Einwohner zu verlieren, nichts wird höher prämiiert als der Zuzug von Einwohnern". 31 Dementsprechend verhält sich Kommunalpolitik scheinbar rational, wenn sie auf Zuwachs plant und handelt, schließlich misst vielerorts auch die Wählerschaft kommunalpolitischen Erfolg an der örtlichen Einwohner- und damit Finanz- und Infrastrukturentwicklung. Weitet man allerdings die kommunalpolitische Perspektive räumlich auf die Region und zeitlich über den üblichen Planungshorizont von fünf bis zehn Jahren hinaus aus, dann offenbaren sich kleinräumige Wettbewerbsorientierung und "Kirchturmpolitik" als Verhängnis. Eine zukunftsfähige Kommunalpolitik sollte sich mit demographiefesten Lösungen auf einen europäisierten Standortwettbewerb einstellen.
Schlussfolgerungen
Der demographische Wandel wird die kommunale Landschaft zunächst in Wachstums-, Stagnations- und Schrumpfungsräume ausdifferenzieren. Langfristig werden aber fast alle Gemeinden auf einen Schrumpfungspfad einschwenken. Insofern muss die Bevölkerungsentwicklung zu einem zentralen Motiv kommunalpolitischen Handelns werden. Vielerorts wird man die Entwicklung mehr reaktiv als aktiv zu steuern versuchen, zumal häufig Ungewissheit darüber herrscht, wer zur Gewinner- oder Verliererseite zählt. Der interkommunale Wettbewerb wird unter Schrumpfungs- und Alterungsbedingungen viele Kommunen in Bedrängnis bringen. Vor diesem Hintergrund gibt es für die Bewältigung des demographischen Wandels im Wesentlichen drei Botschaften an die Politik: 1. Kommunalpolitik muss sich in vielen Handlungsfeldern vom Leitbild des Wachstums (Bevölkerungswachstum, Ausbau der Infrastruktur) verabschieden. Stagnierende und schrumpfende Bevölkerungszahlen erfordern eine Orientierung an neuen qualitativen Maßstäben. 2. Kommunalpolitik muss ihre vielfach kleinräumige Perspektive zugunsten einer Orientierung an regionalen Verantwortungsräumen aufgeben. Hierzu gehört die Bereitschaft zu verstärkter interkommunaler Kooperation ebenso wie sektor- und politikfeldübergreifendes Denken. 3. Kommunalpolitik kann die demographischen Herausforderungen bewältigen, wenn sie die Bürgerinnen und Bürger in den politischen Prozess einbezieht. Kooperative Politikformen müssen deshalb stärker als bisher kommunalpolitisches Handeln bestimmen.
Abschied vom Wachstumsparadigma
Auch dort, wo die Hoffnung besteht, mittelfristig zu den Gewinnern der künftigen Bevölkerungsentwicklung zu gehören, erfordert die Unsicherheit über die langfristige, kleinräumige Verteilung von Zuwächsen, von Stagnation oder Rückgang, sich mit einem "Paradigma der Schrumpfung" 32 vertraut zu machen. Hierbei geht es primär um "Fragen des Umbaus von Städten und Regionen, der kosteneffizienten Bestandsentwicklung, der Revitalisierung und der qualitativen Entwicklung". 33 Statt prestigeträchtiger Neubauten werden zunehmend intelligente Konzepte des Umbaus und der Umwidmung vorhandener Infrastruktur gefragt sein.
Ein solcher Paradigmenwechsel fällt schwer, zumal viele kleinräumige Entwicklungen kurz- und mittelfristig noch zu ungewiss sind und jenseits des an Wahlperioden orientierten Zeithorizonts liegen. Warum sollte in der kommunalpolitischen Problemwahrnehmung ein Bevölkerungsrückgang auf die Agenda gesetzt werden, der aktuell zumindest vordergründig noch gar nicht erkennbar ist? Andererseits setzen viele der siedlungs- und infrastrukturellen Anpassungen und planerischen Grundlagen einen langen Vorlauf voraus. Je früher also ein kommunalpolitischer Bewusstseinswandel einsetzt, desto effektiver können langfristige, die zukünftige demographische Entwicklung antizipierende Lösungsstrategien zum Einsatz kommen. Verantwortungsbewusste Politik muss deshalb die zukünftigen Herausforderungen thematisieren und Bevölkerung und kommunale Vertretungskörperschaften aktiv aufklären. Die intensive Thematisierung von Rentenproblemen, Kinderarmut und Bevölkerungsrückgang lässt hoffen, dass eine solche Aufklärung auch mit Blick auf kommunalpolitische Zusammenhänge langsam vorankommt.
Regionalisierung und interkommunale Kooperation
Die kleinräumig disparaten Entwicklungen legen es nahe, in der Kommunalpolitik enger zusammenzuarbeiten. "Wenn Wachstum und Schrumpfung oder ein unterschiedliches Ausmaß von Schrumpfung kleinräumig in enger Nachbarschaft anzutreffen sind, dann ist es nicht nur naheliegend, sondern auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen stärker als bisher geboten, funktional eng verflochtene Räume aus planerischer Sicht als Einheit aufzufassen." 34 Kommunalpolitische Steuerung wird dementsprechend in vielen Handlungsfeldern wesentlich stärker auf regionaler Ebene abzustimmen sein. Nicht nur mit Blick auf den demographischen Wandel wird die Region als Handlungsebene der Zukunft stärker zur Geltung kommen. 35
Die Fähigkeit, in regionalen Zusammenhängen zu denken, kann von der Bundes- oder Landesebene nicht verordnet werden. Vielmehr sind neue Gestaltungsspielräume, interkommunale Kooperationsformen und nicht zuletzt ein vor allem landespolitisches Anreizsystem gefragt, das ruinöse Auswüchse interkommunaler Konkurrenz verhindert sowie zukunftsfähige Konzepte belohnt. So könnten z.B. Bedarfszuweisungen an Kommunen stärker an interkommunal abgestimmte Lösungen und demographiefeste Planungen gebunden werden. Auch die in vielen Handlungsfeldern den Kommunen vorgegebenen hohen Standards werden vielfach beklagt und sollten angesichts des demographischen Wandels zugunsten einer flexibleren Handhabung überdacht werden. Zudem sollten die Länder prüfen, ob ihre Gebiets- und Verwaltungsstrukturen den Herausforderungen des demographischen Wandels gerecht werden. So verweisen fast alle befragten kommunalen Entscheidungsträger in Rheinland-Pfalz auf Reformbedarfe bei den sehr kleinteiligen kommunalen Gebietsstrukturen 36und der funktional stark ausdifferenzierten Verwaltungsgliederung.
Kooperative Demokratie auf kommunaler Ebene
In vielen Politikfeldern ist verstärkt die Frage zu stellen, ob das Ziel der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" (Art. 72 Abs. 2 GG) bei regional sehr unterschiedlich verlaufenden Bevölkerungsentwicklungen noch handlungsleitend sein kann. Dies gilt nicht nur im bundesweiten interregionalen Vergleich, sondern auch in Bezug auf kleinräumige, intraregionale Ungleichheiten. Wo die Bevölkerung schrumpft, wird das gegenwärtige Niveau der Infrastruktur nicht zu halten sein. Zugleich ist in einer alternden Gesellschaft eine wachsende Anzahl von Menschen auf ein Unterstützungsnetz angewiesen. Deshalb gewinnen bürgerschaftliches Engagement, Selbstorganisation und Selbsthilfe an Bedeutung. Vieles lässt sich nicht vom Staat oder vom Markt allein, sondern nur unter Mitwirkung und Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger bewältigen. Vor allem in der Kommunalpolitik müssen deshalb verstärkt kooperative Formen der Demokratie praktiziert und unausgeschöpfte Potenziale "lokaler Bürgeraktivierung" genutzt werden. 37
In Bürgerforen (z.B. Zukunftswerkstätten, Zukunftskonferenzen), Planungszellen, Mediationsverfahren und Lokalen Agendaprozessen können Bürger an Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt, in selbst verwalteten Freizeit-, Kultur- und Senioreneinrichtungen, in Bürgerinitiativen und Freiwilligenzentren als Mitgestalter gefragt und eingebunden werden. 38 Horrorszenarien über "aussterbende Regionen" und verödende Landstriche sind allerdings wenig geeignet, Menschen für diese aktive Rolle zu gewinnen. Demographische Entwicklungen dürfen nicht als katastrophische Bedrohung, sondern sollten vielmehr als Herausforderung und Chance politischer Gestaltung begriffen werden.
Der demographische Wandel muss zum zentralen Politikvermittlungs- und Kommunikationsthema werden. Hier sind vor allem die professionellen politischen Akteure in einer Bringschuld. 39 So sehen die kommunalpolitischen Entscheidungsträger in Rheinland-Pfalz im demographischen Wandel neben vielen Risiken auch die Chance, Routinen aufzubrechen, grundlegende Reformen einzuleiten und eine neue Basis für bürgerschaftliche Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Gemeinden zu schaffen.
1 Vgl.
Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerungsentwicklung
Deutschlands bis zum Jahr 2050. Ergebnisse der 9. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2000.
2 Vgl. Statistisches Landesamt
Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Rheinland-Pfalz 2050. Zeitreihen,
Strukturdaten, Analysen, 2 Bände, Bad Ems 2002/2004.
3 Zum Verhältnis von Demographie
und Politik in Deutschland vgl. Herwig Birg, Die demographische
Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und
Europa, München 2002(2), S. 194ff.
4 Vgl. bspw. praxisorientierte
Aktivitäten der Bertelsmann-Stiftung (www.aktion2050.de),
handlungsorientierte Initiativen wie ZIRP in Rheinland-Pfalz
(www.zukunftsradar2030.de) und Staatskanzlei Rheinland-Pfalz
(Hrsg.), Demographischer Wandel - Chance für unsere Kommunen.
Anregungen für die Praxis, Leitfaden anlässlich der
Kommunalkonferenz "Zukunft vor Ort gestalten - Demographischer
Wandel als Chance" am 21. 6. 2005 im Kurfürstlichen Schloss zu
Mainz.
5 Vgl. Forschungsprojekt "Folgen des
demographischen Wandels aus Sicht kommunaler und regionaler
Entscheidungsträger" im Forschungsverbund der
Universitäten Koblenz-Landau (Campus Landau), Mainz und Trier
im Auftrag der rheinland-pfälzischen Landesregierung.
Insgesamt wurden 154 kommunale Entscheidungsträger aller
kommunalpolitischen Ebenen aus allen Regionen des Landes in
Leitfaden-Interviews befragt. Die dabei erstellten drei
Regionalstudien stehen zum Download bereit unter www.stk.rlp.de
(Link "Demographischer Wandel").
6 So schnitt Rheinland-Pfalz bei der
2004 vom "Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung" vorgelegten Studie "Deutschland 2020" im
Ländervergleich eher überdurchschnittlich ab. Vgl.
Steffen Kröhnert/Nienke van Olst/Reiner Klingholz, Deutschland
2020. Die demografische Zukunft der Nation, Berlin 2004, S.
22ff.
7 Statistisches Landesamt
Rheinland-Pfalz (Anm. 2), Bd. I: Bevölkerungsentwicklung und
-struktur, Bad Ems 2002, S. 3.
8 Vgl. ebd., S. 24. Dem Szenario liegen
folgende Annahmen zugrunde: Konstante Geburtenrate von 1,4 Kindern
je Frau über den gesamten Zeitraum; Zunahme der
Lebenserwartung bis 2015 um etwa zwei Jahre, ab dann konstant;
Absinken der positiven jährlichen Wanderungssalden bis 2016
auf null, ab dann ausgeglichene Wanderungssalden.
9 Altenquotient = Zahl der
60-jährigen und älteren Personen, bezogen auf 100
Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren.
10 Vgl. Statistisches Landesamt
Rheinland-Pfalz (Anm. 2), Band II: Auswirkungen der demographischen
Entwicklung, Bad Ems 2004, S. 75ff.
11 Heinrich Mäding, Demographische
Trends in Deutschland: Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft, in:
Eugen Dick/Heinrich Mäding (Hrsg.), Bevölkerungsschwund
und Zuwanderungsdruck in den Regionen, Münster 2002, S.
37.
12 Bernhard Müller/Stefan
Siedentop, Wachstum und Schrumpfung in Deutschland - Trends,
Perspektiven und Herausforderungen für die räumliche
Planung und Entwicklung, in: Deutsche Zeitschrift für
Kommunalwissenschaften, 43 (2004) 1, S. 14 - 32.
13 Vgl. Beate Hollbach-Gröming,
Anpassung der kommunalen Entwicklungskonzepte an den strukturellen
und demographischen Wandel, in: E. Dick/ H. Mäding (Hrsg.)
(Anm. 11), S. 106f.
14 Zu den demographischen Trends der
Alterung, Vereinzelung, Schrumpfung und Heterogenisierung und ihren
Effekten vgl. Heinrich Mäding, Herausforderungen und
Konsequenzen des demographischen Wandels für die Städte,
in: Hermann Hill (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung - Zukunfts-
oder Auslaufmodell?, Berlin 2005, S. 17 - 35.
15 B. Müller/S. Siedentop (Anm.
12), S. 14.
16 Ebd., S. 23.
17 Vgl. Matthias Koziol, Folgen des
demographischen Wandels für die kommunale Infrastruktur, in:
Deutsche Zeitschrift für Kommunalwissenschaften, 43 (2004) 1,
S. 69 - 83.
18 Vgl. Heinrich Mäding,
Demographischer Wandel und Kommunalfinanzen - Einige Trends und
Erwartungen, in: Deutsche Zeitschrift für
Kommunalwissenschaften, 43 (2004) 1, S. 84 - 102.
19 B. Müller/S. Siedentop (Anm.
12), S. 31.
20 H. Birg (Anm. 3), S. 13.
21 Vgl. Bernhard Müller,
Demographischer Wandel und die Folgen für die Städte -
Einführung und Übersicht, in: Deutsche Zeitschrift
für Kommunalwissenschaften, 43 (2004) 1, S. 5 - 13.
22 Die Widergabe der Projektergebnisse
basiert auf den drei Regionalstudien (Anm. 5) von Roland
Eckert/Patricia Erbeldinger/Thomas Wetzstein (Universität
Trier), Stefan Hradil/Bernadette Jonda (Universität Mainz) und
Ulrich Sarcinelli/Jochen Stopper (Universität
Koblenz-Landau).
23 Vgl. Regionalstudien (Anm. 5).
24 Vgl. ebd.
25 Vgl. ebd.
26 Vgl. ebd.
27 Vgl. ebd.
28 Die Handlungsfelder wurden von
jeweils über 90 Prozent der Befragten im Zusammenhang mit der
demographischen Entwicklung als sehr wichtig (jeweils über 70
Prozent) oder wichtig eingestuft.
29 Vgl. Regionalstudien (Anm. 5).
30 Vgl. H. Mäding (Anm. 18), S.
96.
31 Gisela Färber, Grundlagen:
Bevölkerungsentwicklung in den Regionen, in: E. Dick/H.
Mäding (Hrsg.) (Anm. 11), S. 9.
32 B. Müller/S. Siedentop (Anm.
12), S. 27.
33 Ebd.
34 B. Müller/S. Siedentop (Anm.
12), S. 29.
35 Vgl. Christian Diller, Zwischen
Netzwerk und Institution. Eine Bilanz regionaler Kooperationen in
Deutschland, Opladen 2002; Christian Specht, Stärkung der
kommunalen Selbstverwaltung durch regionale Kooperation, in:
Hermann Hill (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung - Zukunfts- oder
Auslaufmodell?, Berlin 2005.
36 Gliederung der kommunalen Ebene in
Rheinland-Pfalz: 12 kreisfreie Städte, 24 Landkreise, 37
verbandsfreie Städte/Gemeinden, 163 Verbandsgemeinden, 2 257
Ortsgemeinden.
37 Vgl. Helmut Klages/Carmen
Daramus/Karl Masser, Vertrauensverlust in der Demokratie -
Lösen Beteiligungsstrategien das Problem? FÖS 15
Discussion Papers. Forschungsinstitut für öffentliche
Verwaltung der Deutschen Hochschule für
Verwaltungswissenschaften, Speyer 2004, S. 93ff.
38 Vgl. Jörg Bogumil,
Modernisierung lokaler Politik, Baden-Baden 2001, S. 219ff.
39 Vgl. Ulrich Sarcinelli, Politische
Kommunikation in Deutschland. Zur Politikvermittlung im
demokratischen System, Wiesbaden 2005.