Freiheit und Einheit lauteten die Ziele der deutschen Liberalen im 19. Jahrhundert. Die Einheit kam 1871, doch bildete sie kein "unzertrennliches Zwillingspaar" mit der Freiheit. In diesem Umstand sieht Peter Zolling in seiner "Deutschen Geschichte" die Ursache dafür, dass "das Volk in der Mitte Europas anfällig für Irrwege" war. Ihnen will der Autor "nachspüren", bis hin zur "Katastrophe des Nationalsozialismus" und zur Teilung des Landes nach 1945.
Es ist der "lange Weg" der Deutschen "nach Westen" (Heinrich August Winkler), den Zolling für ein breiteres Publikum anschaulich, aber ohne Quellen- und Literaturhinweise beschreibt. Westlich war das Bismarck-Reich nur als Industrieland, das um 1900 in einer ersten Phase der Globalisierung zusammen mit den USA an der Spitze der Weltentwicklung stand. Im Innern dagegen blieben die Hoffnungen der Demokraten unerfüllt, und in der Außenpolitik gelang es nicht, das Prestigebedürfnis des Deutschen Reichs im Rahmen einer akzeptierten internationalen Ordnung zu zähmen. Der Kriegsbeginn 1914 - von großen Teilen der Bevölkerung enthusiastisch begrüßt, von anderen aber durchaus als Bedrohung empfunden - führte in die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan). Für die Deutschen bedeutete sie, dass ihr Staatsgebiet infolge der Niederlage ein erstes Mal verkleinert wurde. Immerhin konnte die Einheit bewahrt werden. Im Innern freilich war eine umso größere Zerklüftung festzustellen, denn die Weimarer Republik wurde vielfach als "ungeliebte Freiheit" empfunden. Mit Recht betont Zolling, dass das Scheitern der Demokratie nicht zwangsläufig erfolgte: "Das Ende war der Weimarer Republik nicht in die Wiege gelegt."
Die zwölf Jahre der NS-Herrschaft werden in ihrer exzeptionellen Radikalität beschrieben, zugleich aber in den Kontext von Strukturen langer Dauer gestellt. Für die Zeit nach 1945 behandelt der Autor beide deutsche Staaten, legt den Schwerpunkt aber auf die Bundesrepublik. Kräftiger noch, als es geschieht, hätte er zeigen können, warum die Vorstellung nicht zutrifft, es habe 1945 eine "Stunde Null" gegeben. "So als wären damals alle Uhren stehen geblieben, sämtliche Verbindungen zur Vergangenheit abgerissen und als wäre alles, was dann kam, ganz neu gewesen." Nach 1933 glaubten die Deutschen mehrheitlich mit Unterstützung vieler Kirchenvertreter an die Vorsehung. Nach 1945 konnte es ihnen nicht schnell genug gehen, die zwölf Jahre Nationalsozialismus als Teufelswerk hinzustellen und der Hölle zu übergeben. Zolling verdeutlicht beides: Das Alte wirkte nach und hinterlässt bis heute seine Spuren. Zugleich aber entwickelte sich unter der Aufsicht der Siegermächte auf verschiedene Weise beiderseits der Ost und West trennenden Grenze etwas Neues.
Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik wird in angemessener Differenziertheit dargestellt. Neben den Errungenschaften der 50er-Jahre stehen die "Verdrängung des Lebens unterm Hakenkreuz" und eine gewisse "biedere Langeweile" im Lebensentwurf. Dem Reformpathos der sozial-liberalen Ära steht die Erfahrung gegenüber, dass der Planbarkeit gesellschaftlicher Prozesse Grenzen gesetzt sind. Insgesamt wird herausgearbeitet, wie die Bundesrepublik seit den "unruhigen 60er-Jahren" eine entscheidende Entwicklung durchmachte. Treffend spricht Zolling davon, Wandel sei "erlebt und geprägt" worden. Die um Aktualität bemühte Darstellung endet mit der Mahnung, die demokratische Freiheit nicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten und die Bedrohung der inneren Einheit durch soziale Gegensätze nicht zu unterschätzen.
Peter Zolling: Deutsche Geschichte von 1871 bis zur Gegenwart. Wie Deutschland wurde, was es ist. Carl Hanser Verlag, München 2005; 363 S., 19,90 Euro